Der dritte Tempel

0
139
Lord Balfour während seiner Rede bei der Eröffnungszeremonie der Hebräischen Universität, Foto: The National Library of Israel Collection

Vor genau hundert Jahren wurde die Hebräische Universität in Jerusalem feierlich eröffnet. Ihre Einweihung markiert mehr als nur einen Meilenstein im Aufbau akademischer Einrichtungen in Eretz Israel.

Von Ralf Balke

Elf Gründe, warum man an der Hebräischen Universität in Jerusalem sein Studium aufnehmen oder weiterführen sollte – so die Überschrift eines Beitrags in der „Times of Israel“, der zugleich Werbung für die Hochschule machte. Einer davon bezog sich auf die hohe Qualität der Lehre. „Die Hebräische Universität gehört zu den weltweit führenden akademischen Einrichtungen und belegt im Schanghai-Index 2024 den ersten Platz in Israel und weltweit den 81.“ Ein weiterer bezog sich auf etwas ganz anderes: „Die Hebräische Universität bietet eine einzigartige Erfahrung für Studierenden, die jüdische Traditionen kennenlernen oder ihr persönliches Verhältnis zum Judentum erkunden wollen. Die Studierenden können koschere Unterkünfte, Schabbat-Mahlzeiten, Chevrutas und kulturelle Aktivitäten in einer warmen und unterstützenden Gemeinschaft genießen. Mit einem aufregenden Campusleben und einem auf den jüdischen Kalender abgestimmten Stundenplan bietet die Hebräische Universität eine einmalige Gelegenheit, sich mit Ihrem Erbe zu verbunden und gleichzeitig Ihre Zukunft zu sichern.“

Die Macher hinter dem Konzept „Hebräische Universität“ wären gewiss stolz, wenn sie solche Sätze hundert Jahre nach der offiziellen Eröffnung der Hochschule über ihr „Baby“ lesen könnten. Auch mit der inhaltlichen Ausrichtung hätten sie gewiss keine Probleme gehabt. Auf jeden Fall war es ein Großereignis, als am 1. April 1925 auf dem Skopusberg in Jerusalem die erste Universität des Landes offiziell eröffnet wurde. Rund 7.000 Personen waren dazu eingeladen, was ungefähr einem Fünftel der damaligen Bevölkerungszahl von Jerusalem entsprach. Prominenz war ebenfalls reichlich bei diesem Event vertreten, allen voran der britische Hochkommissar für das von London regierte Mandatsgebiet, Sir Herbert Samuel, und Lord Arthur James Balfour, Verfasser der gleichnamigen Deklaration, die dem jüdischen Volk eine Heimstätte in Palästina versprach. Ebenfalls anwesend waren Vertreter des Kulturzionismus wie Achad Ha’am, der Schriftsteller Chaim Nachman Bialik und Oberrabbiner Avraham Yitzhak Kook. „Heute sind wir eine Nation geworden!“, hieß es in der offiziellen Erklärung. „Die Eröffnung der Hebräischen Universität in Jerusalem ist der Beginn einer neuen goldenen Phase in ihrem Leben! Eine goldene Phase, in der ihr ein unabhängiges Leben in eurer Kultur führen und eure Sprache in eurem Land sprechen könnt.“ 

Die Idee einer jüdischen Universität in Palästina lag schon lange vorher in der Luft, unter anderem wartete die protozionistische Hovevei Zion-Bewegung in den 1880er Jahren damit auf. Einer ihrer Gründer, der aus Litauen stammende Rabbiner Hermann Schapira, stellte das Konzept auf dem ersten Zionistenkongress 1897 in Basel vor, wo es begeistert aufgenommen wurde. Denn jüdische Studenten hatten damals in Europa ein Problem, vielerorten wurde ihn der Zugang zu einer akademischen Einrichtung verwehrt, Stichwort „Numerus clauses“. Mit dem Aufkommen des Zionismus und dem demographischen Erstarken des Yishuvs in Palästina gab es aber auch ganz praktische Überlegungen: eine Ausbildung in angewandten Wissenschaften vor Ort, also Forst- und Agrarwissenschaft, Maschinenbau, Ingenieurswesen oder Architektur, die dem weiteren Aufbau zugutekommen sollte. Der Historiker und Literaturwissenschaftler Joseph Klausner forderte in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift HaShiloach aber auch den Aufbau einer geisteswissenschaftlichen Fakultät. Und auf dem elften Zionistenkongress in Wien 1913 fordert Chaim Weizmann, dass Hebräisch die Verkehrs- und Unterrichtssprache dieser Universität werden sollte. Auch sollte sie nicht irgendwo im Land gegründet werden, sondern in Jerusalem, weshalb man damals bereits von der Hochschule als einem „Dritten Tempel“ sprach, wie beispielsweise auch Chaim Weizmann selbst in einem Brief an seine Frau. „Die Hebräische Universität auf dem Berg Zion! Der Dritte Tempel!“ Über Jahre hinweg war die Bezeichnung populär und verweist auf die Verbindung des Sakralen mit dem Profanen.

Der Erste Weltkrieg, die unsichere Finanzierung sowie die ablehnende Haltung der über Palästina regierenden Osmanen sorgten dafür, dass das Projekt erst einmal wieder auf Eis gelegt wurde. Mit der Übernahme der Herrschaft durch Großbritannien änderte sich das Ganze wieder. Die britische Militärverwaltung gab ihre Zustimmung, sodass im Mai 1918 bereits der Grundstein gelegt werden konnte. Doch Geld blieb weiterhin ein Problem, besonders deshalb, weil die Mandatsregierung keinerlei Mittel zur Verfügung stellte. Also war man auf Spenden solventer jüdischer Philanthropen im Ausland angewiesen. Damit fing aber auch die Diskussion an, ob die neue Universität sich primär als Ausbildungsstätte des Yishuvs definierte oder aber als Aushängeschild jüdischer Gelehrsamkeit weltweit. Deshalb tat sich eine Kluft auf zwischen den meisten Professoren vor Ort, die eher der zionistischen Ausrichtung folgten, und akademische Förderern im Ausland wie Albert Einstein, die einen universalistischeren Ansatz vertraten und in der Hebräischen Universität eher einen Mittelpunkt jüdischer Gelehrsamkeit sehen wollten. Und als Präsident der Zionistischen Organisation forderte Chaim Weizmann, dass die Hochschule der zionistischen Führung unterstellt werde, während Judah L. Magnes, ihr erster Kanzler und ein früher Vertreter einer Annäherung zwischen Juden und Arabern in Palästina sowie Reformrabbiner, auf mehr Autonomie pochte.

Dieser Konflikt überschattete die ersten Jahre der Existenz der Universität. Vor allem in den späten 1920 und frühen 1930er Jahren gab es Diskussionen, weil Juda L. Magnes der Idee eines binationalen Staates sehr aufgeschlossen gegenüber stand, ebenso zahlreiche Dozenten wie Hugo Bergmann, Martin Buber oder Gershom Scholem, die dem Brit Schalom angehörten. Aber wie der Name bereits suggeriert, war unabhängig von der Kritik von Seiten Juda L. Magnes die Hochschule ein wichtiger Baustein bei dem, was man „nation building“ nennt. Anders als beim Technion in Haifa, wo es einen heftigen Streit über die Unterrichtssprache gab, war von Anfang an nur Hebräisch im Gebrauch. Und die Universität wurde rasch ausgebaut. Zu den ursprünglich drei Instituten für Chemie, Mikrobiologie und Jüdische Studien – letzteres erfreute sich mit 150 immatrikulierten Studenten großer Beliebtheit – kamen 1926 das Institut für Orientalistik, 1931 die Einrichtung einer biologischen Abteilung, aus der 1935 eine naturwissenschaftliche Fakultät wurde. Und aus dem Institut für Mikrobiologie wurde die medizinische Fakultät, an der 1952 die ersten Studierenden ihren Abschluss machten. Zudem wurde die Hebräische Universität zum Rettungsanker vieler Akademiker aus dem nationalsozialistischen Herrschaftsraum, die hier in Jerusalem eine neue Heimat fanden. Und im Rahmen des Projekts „Otzrot HaGola“, zu Deutsch „Schätze der Diaspora“ bemühte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die Rettung jüdischer Kulturgüter.

Das Rosenblum Gebäude für Geisteswissenschaften wurde 1941 errichtet

Der Unabhängigkeitskrieg markierte erst einmal eine Zäsur. Auch um die Hebräische Universität herum wurde heftig gekämpft, im April 1947 kam es zu einem Massaker, als 79 Juden, darunter Ärzte und medizinisches Personal, auf dem Weg zum Hadassah Hospital, das mit der Hochschule kooperierte und in der Nähe liegt, ermordet wurden. Der Skopusberg lag nach dem Mai 1948 im von Jordanien besetzten Ostjerusalem und bildete zwanzig Jahre lang eine Enklave, die nur unter militärischem Schutz zu erreichen war – wenig verlockend für Studierende oder Dozenten. Deswegen wurde Anfang der 1950er Jahre ein neuer Campus in Givat Ram im Westteil der Stadt errichtet, den man 1958 offiziell einweihte. Erst nach dem Sechstagekrieg konnte der reguläre Betrieb wieder aufgenommen werden.

Die Universität am Skopusberg heute,im Bild das Frank Sinatra International Student Centre. Der Baum erinnert an den Terroranschlag vom 31. Juli 2002 in der Cafeteria, bei dem 9 Studenten ermordet wurden, Foto: Milan.sk / CC BY-SA 3.0

1967 zählte man bereits 12.500 Studierende, verteilt auf die beiden jeweiligen Campusse in Givat Ram und Skopusberg. Heute sind es rund doppelt so viele, dazu kommen etwa 2.000 Studierende aus dem Ausland. Acht Nobel-Preisträger kamen aus ihr hervor, wobei interessanterweise Albert Einstein mitgerechnet wird. Bemerkenswert: Der Anteil arabischer Studierender wächst rasant. 2004 waren lediglich sieben Prozent aller Studierenden an der Hebräischen Universität Araber, 2019 bereits 14 Prozent, Tendenz weiter steigend – keine schlechte Bilanz für eine Hochschule, die vor hundert Jahren als zionistisches Projekt ihre Tore geöffnet hatte.