Von Deutschland, über Kanada bis nach Australien

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Die antisemitische Welle ebbt ab – doch die Werte bleiben deutlich höher als vor dem Krieg. Das zeigt der Jahresbericht Antisemitismus für 2024, der heute, am Vorabend des Holocaust-Gedenktages, vom Center for the Study of Contemporary European Jewry und dem Irwin Cotler Institute for Democracy, Human Rights and Justice – beide an der Universität Tel Aviv – veröffentlicht wurde. 

Laut Prof. Uriya Shavit „ist das Niveau des Antisemitismus weltweit im Vergleich zur Zeit vor dem 7. Oktober weiterhin deutlich erhöht. Doch entgegen der allgemeinen Annahme zeigen die Ergebnisse des Berichts, dass die Welle des Antisemitismus nicht kontinuierlich durch den Gaza-Krieg und die dortige humanitäre Katastrophe verstärkt wurde. Der Höhepunkt lag im Zeitraum Oktober bis Dezember 2023. Ein Jahr später wurde fast überall ein starker Rückgang der Vorfälle verzeichnet. Die traurige Wahrheit ist, dass der Antisemitismus genau dann anstieg, als der jüdische Staat schwächer denn je erschien und existenziell bedroht war.“

Der Bericht enthält besonders alarmierende Befunde in Australien, einem Land, das bisher für seine Toleranz und den Respekt gegenüber Minderheiten bekannt war. Der „Executive Council of Australian Jewry“ verzeichnete im Jahr 2024 insgesamt 1.713 antisemitische Vorfälle – ein Rekord im Vergleich zu 1.200 im Jahr 2023. Die Zahl der Vorfälle im Jahr 2023 war bereits fast dreimal so hoch wie im Jahr 2022. Zwischen Oktober und Dezember 2024 wurden in Australien 478 Vorfälle registriert, während es im gleichen Zeitraum 2023, direkt nach den Anschlägen vom 7. Oktober, 827 waren.

Auch in Italien wurde ein alarmierender Anstieg verzeichnet: Das „Center of Contemporary Jewish Documentation“ meldete 877 antisemitische Vorfälle im Jahr 2024, verglichen mit 454 im Jahr 2023.

In den Vereinigten Staaten wurde ein moderater Anstieg festgestellt. In New York, der Stadt mit der größten jüdischen Bevölkerung weltweit, registrierte die Polizei 344 Beschwerden über antisemitische Vorfälle im Jahr 2024, gegenüber 325 im Jahr 2023 und 264 im Jahr 2022. Zwischen Oktober und Dezember 2024 wurden in New York 68 Vorfälle registriert – im gleichen Zeitraum 2023 waren es 159.

In Chicago, Heimat der drittgrößten jüdischen Gemeinde der USA, verzeichnete die Polizei 79 Vorfälle gegenüber 50 im Jahr 2023. In Denver stieg die Zahl auf 32 (von neun), in Austin auf 15 (von sechs). In anderen Städten in den USA ging die Zahl der Vorfälle jedoch zurück.

Auch Kanada verzeichnete einen Anstieg: Die Organisation „B’nai Brith“ dokumentierte einen Rekordwert von 6.219 Vorfällen im Jahr 2024, verglichen mit 5.791 im Jahr 2023 (und 2.769 im Jahr 2022). Auch hier waren die Zahlen unmittelbar nach dem 7. Oktober am höchsten: Im Oktober 2023 wurden 601 Vorfälle verzeichnet, ein Jahr später nur noch 427.

Auch Argentinien, die Schweiz, Brasilien und Spanien meldeten einen Anstieg der Vorfälle im Vergleich zu 2023.

In mehreren Ländern mit großen jüdischen Bevölkerungen wurden hingegen Rückgänge registriert:

  • Frankreich: 1.570 Vorfälle in 2024 (1.676 in 2023; 436 in 2022). Allerdings stieg die Zahl der körperlichen Übergriffe von 85 auf 106.
  • Großbritannien: 3.528 Vorfälle in 2024 (4.103 in 2023; 1.662 in 2022). Im Oktober 2023 waren es 1.389 Vorfälle, im Oktober 2024 nur noch 310.
  • Deutschland: 5.177 Vorfälle in 2024 (5.671 in 2023; 2.811 in 2022). Zwischen Oktober und Dezember 2023 gab es 3.163 Vorfälle, im gleichen Zeitraum 2024 waren es 671.

Eine im Bericht enthaltene Studie von Avi Teich untersuchte die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden in New York, Chicago, Toronto und London zwischen 2021 und 2023. Das Ergebnis: Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz der antisemitischen Hassverbrechen führte zu Verhaftungen – teils weniger als 10 %.

Laut Dr. Carl Yonker, leitender Forscher am Zentrum für zeitgenössisches europäisches Judentum gibt es „spezifische Herausforderungen bei der Identifizierung der Täter, etwa fehlende forensische Beweise bei nicht-gewalttätigen Vorfällen. Manche antisemitischen Äußerungen sind zudem nur für Eingeweihte als solche erkennbar. Dennoch: Mit dem nötigen politischen Willen ließe sich mehr tun. Bildung und Gesetze ohne Durchsetzung sind bedeutungslos. Der Kampf gegen Antisemitismus braucht engagierte Polizei- und Justizkräfte, nicht pompöse Erklärungen oder absurde Preisverleihungen mit Hollywood-Stars.“

Ein Projekt im Bericht, „It Happened One Day“, dokumentiert Zeugenaussagen von Juden aus den USA, Kanada, Großbritannien und Südafrika, die antisemitische Vorfälle erlebt haben – darunter Brandstiftung, Hakenkreuz-Schmierereien, körperliche Angriffe und verbale Übergriffe. „Wir wollten die emotionale Belastung zeigen, die durch fälschlich als ‘klein’ eingestufte Vorfälle entsteht“, sagte Projektleiter Noah Abrahams. Der Bericht fordert die Strafverfolgungsbehörden weltweit auf, auch scheinbar harmlose Taten – wie das Bewerfen von Passanten mit Eiern – als gravierende Bedrohung der Sicherheit und Würde jüdischer Gemeinschaften anzuerkennen.

Eine erstmals durchgeführte Analyse im Bericht untersucht antisemitische Inhalte im Roman „The Thorn and the Carnation“ von Yahya Sinwar, dem Drahtzieher der Anschläge vom 7. Oktober, den er während seiner Haft in Israel verfasste. Das Buch wird auch im Westen als Einblick in den Geist eines „Freiheitskämpfers“ angeboten, enthält jedoch tiefsitzenden Judenhass mit religiöser Begründung sowie eine völlige Ablehnung jeglicher friedlicher Lösungen des Konflikts.

Weitere Studien im Bericht behandeln den Aufstieg eines antisemitischen Politikers in Litauen, antisemitische Propaganda in Pakistan, deren Einfluss auf anti-hinduistische Rhetorik, die Berichterstattung amerikanischer Studentenzeitungen über den Gaza-Krieg, Haltungen zum Antisemitismus in der deutschen Linken sowie den Holocaust-Unterricht in niederländischen Schulen. Eine Expertenrunde beleuchtet zudem den Nutzen und Schaden von Holocaust-Filmen – insbesondere „Das Leben ist schön“, „Schindlers Liste“ und „The Brutalist“.

Globale Führungspersönlichkeiten im Kampf gegen Antisemitismus steuerten Gastbeiträge bei. Irwin Cotler, ehemaliger kanadischer Justizminister, warnte vor der „Achse des Autoritarismus“ – bestehend aus Russland, China und insbesondere Iran. Diese Staaten würden Antisemitismus strategisch als Teil ihrer Desinformationskampagnen einsetzen. Gleichzeitig erlebe man eine Schwächung der transatlantischen Allianz: „Die USA destabilisieren zunehmend die regelbasierte Weltordnung, deren Eckpfeiler sie einst selbst waren.“

Der Bericht geht auch auf eine Kontroverse im März 2025 ein, als führende jüdische Vertreter aus Europa eine Konferenz des israelischen Diaspora-Ministeriums boykottierten, weil Politiker rechtsextremer Parteien eingeladen worden waren.

Prof. Shavit erklärte dazu: „Das Diaspora-Ministerium ist überflüssig. Der Minister verfügt weder über Erfahrung noch historisches Verständnis und jüdische Führungspersönlichkeiten tuen gut daran, auf Distanz zu bleiben. Dennoch sollten klare und universelle Standards für den Umgang Israels und jüdischer Organisationen mit Parteien oder Politikern mit antisemitischer Vergangenheit etabliert werden. Wir schlagen zwei Kriterien vor:

  1. Parteiführer müssen jedes Mitglied – unabhängig von dessen Rang – ausschließen, das antisemitische oder rassistische Aussagen gemacht und nicht widerrufen hat.
  2. Sie müssen antisemitische oder rassistische Narrative unmissverständlich ablehnen.
    Zudem müssen sie über mindestens zwei Wahlzyklen hinweg Engagement im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus nachweisen.“

–> Zum vollständigen Bericht