
Cordula Echterhoffs kongeniale filmische Erinnerung an Heinrich Bölls „Katharina Blum“
Von Roland Kaufhold
Am Anfang steht ein Schuss: Die eher schmächtige, unter benachteiligten Verhältnissen aufgewachsene Katharina Blum erschießt einen Peiniger. Es ist ein Akt der verzweifelten Notwehr, nach einer monatelangen medialen Kampagne der Entwürdigung.
Katharina Blum war eine fiktive literarische Figur. Sie entstand vor 50 Jahren. Ihr Verfasser war der Kölner Schriftsteller Heinrich Böll. Als Blums Bild in dem von der Kölner Filmemacherin Cordula Echterhoff verfassten, erinnernden Film auftaucht, ist sie mir sofort wieder präsent.
Ich bin Katharina Blum schon vor einem knappen halben Jahrhundert „begegnet“ – im Deutschunterricht meiner vorzüglichen Lehrerin Zierold: Zuerst literarisch in Bölls Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum. Ein Jahr später erschien die Verfilmung des Stoffes, gedreht von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta. Auch diesen Film sahen wir im Deutschunterricht der Oberstufe. Schlöndorf und von Trotta begegnen wir auch in Echterhoffs eindrücklichen filmischen Erinnerungen: Als Zeitzeugen aber auch als sympathisierende Akteure der damaligen gesellschaftlichen Aufbruchbewegung.
Erst Schlöndorffs/von Trottas Kinofilm gab der literarischen Figur Katharina Blum, gespielt von der Schauspielerin Angela Winkler, ein Gesicht. Dass es Vielen der damaligen Zeit – auch mir – noch heute gegenwärtig ist, erscheint als ein Beleg für die literarische und aufklärerische Qualität von Heinrich Bölls berührender, in vier Monaten niedergeschriebenen Erzählung. Mir war beim Sehen von Echterhoffs neuem Böll-Film, er lief vor einigen Tagen auf ARTE und steht in der ARTE-Mediathek, Katharina Blum noch sehr nahe.
Heinrich Böll selbst hatte übrigens, so erinnert sich Schlöndorff in Echterhoffs Film, keine visuelle Vorstellung davon, wie seine literarische Figur, die mutige Katharina, denn aussehen sollte. Die Filmemacher wählten Winkler als „Filmgesicht“.
Der Schuss der jungen Frau
Die Szene, in der Katharina Blum, nach Monaten entwürdigender Hetze durch „Bildzeitung“-Journalisten, den aufdringlichen Journalisten Werner Tönnes erschießt, steht am Anfang des Filmes. Katharina Blum, so wird im Film in immer neuen Szenen und Erinnerungen erlebbar, war vor allem und zuerst ein Opfer umfassender Hetze und sexueller Diffamierung. Dass dieser 50 Jahre zurückliegender Prozess der Entwertung kein individueller, historisch abgeschlossener ist, sondern auch heute in vergleichbarer Weise abläuft, darum geht es in diesem bemerkenswerten Film.
Auch heute, im Internet- und Twitter-Zeitalter, sind die Prozesse in nahezu identischer Weise beobachtbar – nur dreht sich heute alles 100fach schneller und teils internationaler.
Im Film „Katharina Blum lebt!“ Das Erbe einer Erzählung erinnern sich mehrere Schriftstellerinnen an diese literarische Figur Katharina, die ihnen, so erzählen sie, sehr nahe stehe. Die französische Schriftstellerin Oriane Jeancourt Galignani berichtet im Film, Bölls Erzählung beschreibe „den primitiven kollektiven Drang, eine Frau in den Dreck zu ziehen“ und diese „bis zur Verzweiflung zu treiben“. Die französische Schriftstellerin und Filmemacherin Rokhaya Diallo bemerkt, sie könne die Handlung von Katharina Blum „vollkommen nachvollziehen“, weil sie ein solches Extrem erfahren habe und die Quelle ihrer grausam erlebten Übergriffe „einfach nur noch auszuschalten“ versuche.
„Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“
Bölls schmale Erzählung über Katharina Blum – bzw., wie der Untertitel lautet: Die Frage, „Wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann“ – , war ab 1975 auch ökonomisch äußerst erfolgreich: Sein literarisch-politisches Werk verkaufte sich 2,7 Millionen mal. Das Werk stand lange auf Platz eins der Bestsellerliste. Auch dessen Verfilmung durch Volker Schlöndorf und Margarete von Trotta erregte große Aufmerksamkeit.
Das Buch stand selbstredend im Kontext der damaligen Kampagnen der Bild-Zeitung sowie des Springerkonzerns – aber auch im historischen Kontext der Ausläufer der 68-er „Studentenproteste“ sowie der „linken“, barbarisch-sinnlosen RAF-Morde. Springers Blätter polarisierten und spalteten in ihrer Medienberichterstattung massiv. Heinrich Böll warf Springer unerträgliche Hysterie und Hetze vor. Hierdurch zog er sich den Hass insbesondere konservativer Publizisten zu.
Schlöndorf und Margarete von Trotta, die sich der aufbegehrenden Studentengeneration verbunden fühlten, erinnern in Echterhoffs Film in dichter Weise die seinerzeitige öffentliche Atmosphäre. Der feinfühlige, sprachgewaltige, bescheidene und doch immer äußerst freundliche Heinrich Böll habe die deutsche Gegenwart mit seiner Katharina Blum-Erzählung „der deutschen Gegenwart mitten ins Herz“ getroffen, schrieb Marcel Reich-Ranicki seinerzeit.

Böll habe vor allem immer für die Ehre, die Würde des machtlosen Individuums geschrieben, gegen gesellschaftliche Drangsalierungen. Diesem Individuum gab Heinrich Böll eine Stimme, in der angespannten, auch durch den sinnlosen RAF-Terror angeheizten damaligen gesellschaftlichen Aufbruchstimmung. Katharina Blum (1972) sei von der Mehrheitsgesellschaft, formuliert Schlöndorf im Film, „unschuldig aber auch als ein Racheengel“ wahrgenommen worden. In seinem Werk habe Böll 1972 „die patriarchalische Herablassung“ herausgearbeitet, hebt Schlöndorf hervor, mit der insbesondere konservative Publizisten Frauen wie Katharina Blum seinerzeit behandelten. Dabei ging es auch immer darum, diese als junge, wehrlose Frau gezielt „zu demütigen“, ihre Ehre zu zerstören. Böll sei immer „auf der Seite der Frau“ gewesen. Gewissermaßen sei Böll, so Schlöndorf schmunzelnd, bereits 1972 „ohne es zu wissen ein Feminist“ gewesen.
„Böll verwende einen ironischen, sarkastischen Ton“
Durch sein Buch und seine gelegentlichen öffentlichen Interventionen, so durch seinen in Zorn verfassten Spiegel-Essay „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“ vom 10.1.1972 (vgl. Kellerhoff 2022) – auch diesen Text lasen wir im Deutschunterricht der Oberstufe Ende der 1970er Jahre, was mir bis heute dicht erinnerlich geblieben ist – geriet auch der international renommierte Heinrich Böll ins Visier der Polizei sowie des Staatsschutzes. Böll wurde beobachtet, seine Wohnung in der Hülchrather Straße 7, im bürgerlichen Kölner Agnesviertel gelegen, wurde abgehört. Dies alles griff den Seelenhaushalt des bescheidenen, freundlichen Literaten, der die Nazizeit noch als Soldat erlebt hatte und hierdurch geprägt wurde, an.
Mit seinem schmalen Werk, so verdeutlicht Echterhoffs Verfilmung 50 Jahre später, wurde Böll eine Stimme für den Kampf der Frauen. Böll verlieh der jungen Katharina Blum, die nach Selbständigkeit und Würde suchte, eine stille, nachdenkliche Stimme. Er beschrieb und verteidigte literarisch deren verzweifelten Kampf gegen fortgesetzte mediale Übergriffe. Hiermit, dies wird in der Erinnerung deutlich, blieb Böll im seinerzeitigen Kulturbetrieb eher eine Ausnahme.

Seine Katharina Blum verkörpere, so heißt es in Echterhoffs Film, zugleich Heinrich Bölls „Traum von Pluralismus und Herrschaftslosigkeit“, von der Würde des Individuums. Heinrich Böll sei in der Tiefe seines Herzens ein Anarchist gewesen. Und, so sei von mir für haGalil hinzu gefügt, abschließend gehe ich hierauf noch einmal ein: Heinrich Böll war auch gewissermaßen ein „Zionist“, auf jeden Fall ein Freund des jungen, seit seiner 1948er Staatsgründung vielfach bedrohten jüdischen Staates. Böll hatte deshalb bereits 1959 in Köln die Bibliothek Germania Judaica sowie die Gesellschaft für christlich-jüdischen Zusammenarbeit in Köln gegründet (s.u.).
Die britisch-deutsche Schriftstellerin und Aktivistin Sharon Dodua Otoo betont: Ihr imponiere, dass Böll immer wieder eindeutige Position beziehe, mit der sich dieser gelegentlich bewusst heftiger Kritik ausgesetzt habe. Und sie selbst verwende in ihren eigenen Werken den gleichen Böll´schen Ton.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass Sharon Dodua Otoo als „Aktivistin“ im Jahr 2023 heftigere Kontroversen ausgelöst hatte: Die Bachmann-Preisträgerin (2016), die vielfach öffentlich auch als Aktivistin der „Black Empowerment“ – Bewegung wahrgenommen wurde, sollte im März 2024 den Peter-Weiss-Preis der Stadt Bochum erhalten. Als dies bekannt wurde entfaltete sich eine öffentliche Kontroverse um sie, weil sie 2015 eine Petition der Organisation „Artists for Palestine UK“ unterzeichnet hatte, die im Sinne der BDS-Bewegung einen kulturellen Boykott Israels forderte, was als antisemitisch bzw. als „antizionistisch“ zu bewerten ist. Die Stadt Bochum setzte daraufhin die Preisverleihung erst einmal aus, um den Sachverhalt zu klären. Daraufhin distanzierte sich Otoo im November 2023 in deutlicher, glaubwürdiger Weise von dieser Petition. Sie würde „heute einen solchen Aufruf nicht mehr unterzeichnen“, schrieb sie in einem Statement, das ihr Verlag verbreitete. In ihrem Statement teilte Otoo zugleich mit, dass sie den Preis nicht annehmen werde: „Ich möchte weder die Jury, noch die Stadt Bochum noch den Namen von Peter Weiss mit den Vorwürfen gegen mich und die ausgelöste Debatte in Verbindung wissen“, begründete Otoo. Sie regte an, das Preisgeld stattdessen an eine gemeinnützige Organisation zu stiften.“
Ich bin mir sicher, dass Heinrich Böll, dieser sanfte aber entschiedene „Freund Israels“, von dieser Entscheidung und der ihr zugrunde liegenden Integrität sehr beeindruckt gewesen wäre.
Die nach Unabhängigkeit strebende, aus einfachen Verhältnissen stammende Katharina Blum sei wehrhaft geblieben, habe ihre Würde verteidigt, selbst in dieser verzweifelten Situation. Katharina Blum habe sich mit Worten gewehrt. In Zeiten, in denen, so heißt es im Film, „Übergriffe Kavaliersdelikte“ waren, insistierte Katharina Blum darauf, dass im Vernehmungsprotokoll Zudringlichkeiten nicht als Zärtlichkeiten bezeichnet werden dürften. Heinrich Böll vertraut auf die Kraft der Sprache. Über weitere gesellschaftliche Einwirkungsmöglichkeiten verfügte der Literaturnobelpreisträger (Oktober 1972) schlicht nicht. Er vermochte seinen Kampf um die Würde des Individuums nur mit der Kraft seiner ironischen Sprache zu führen. Die verstörenden Erfahrungen Katharina Blums seien Erfahrungen, die Frauen seinerzeit – und wohl auch heute noch – ständig passiert seien. Ihnen werde das Gefühl aufgenötigt sie hätten eine Mitschuld an dem, was ihnen widerfuhr, obwohl dies keineswegs zutreffend war, so Sharon Dodua Otoo.
Auch die in der DDR aufgewachsene Schriftstellerin Anne Rabe verweist im Film darauf, dass die Verhältnisse heute keineswegs grundlegend anders als in den 1970er Jahren seien.
Böll, so wird im Film in dichten historischen Filmszenen erinnert, stand in dezenter Weise auf der Seite der aufbegehrenden Studenten. Ihnen versuchte er, als „Prominenter“, unterstützend beizustehen.
Wir sehen Fotos, auf denen sich Böll vor einer Universität auf der Seite der Studenten gegen die 1968er Notstandsgesetze aussprach. Böll, so erinnert sich Schlöndorf 50 Jahre später, sei ihm in den aufbegehrenden „1968er Jahren“ mit seinen „wohltuenden Worten“ als eine Vaterfigur erschienen. Und von diesen gab es 23 Jahre nach der Shoah nicht Viele in Deutschland.
50 Rosen für Beate Klarsfeld
Und es wird im Film daran erinnert – hierauf wird in einem abschließenden Teil in dieser Filmvorstellung noch einmal eingegangen – dass Böll Beate Klarsfeld nach deren Ohrfeige gegen den „ehemaligen Nazi“ Bundeskanzler Kiesinger am 7.11.1968, deretwegen Klarsfeld direkt nach ihrer symbolreichen Tat für ein Jahr Haft verurteilt wurde (die Haftstrafe wurde wenig später aus Angst vor der internationalen medialen Reaktionen abgemildert), demonstrativ 50 Rosen ins Gefängnis schickte. Sein prominenter „linker“ Kollege Grass hingegen hatte Klarsfeld mit heftigsten deutschen Gefühlen öffentlich attackiert. Hierin war Grass den Springer-Autoren inhaltlich und affektiv sehr ähnlich (haGalil 2015: 50 Rosen für Beate Klarsfeld – und nun das Bundesverdienstkreuz“).
„Gefährlicher als Baader-Meinhof“
Böll reagierte mit seinen literarischen Mitteln auf die medialen Kampagnen insbesondere der Bild-Zeitung. Hierdurch wurde er selbst zum Hauptgegner dieser Medien. Nach mehrwöchigen brutalen medialen Angriffen von „Bild“ gegen ihn als Autor veröffentlichte er 1971 im „Spiegel“ seine zornige, vielleicht etwas ungestüme literarische Intervention „Will Ulrike Gnade oder freies Geleit?“. Der von Böll ursprünglich gewählte Titel wurde von der Redaktion ohne Rücksprache geändert. Es sei ein Hetzklima entstanden, in dem er nicht mehr arbeiten können, sagte Böll. Böll wollte deeskalieren – dies misslang jedoch eindeutig.
Die Angriffe der konservativen Publizistik gegen den prominenten kritischen Kölner Schriftsteller nahmen nun immer weiter zu: Der international renommierte Sprachkünstler Böll und Seinesgleichen seien „gefährlicher als Baader-Meinhof“, agitierte der sehr konservative Journalist Löwenthal in seinem ZDF Fernsehmagazin. Böll sei ein „Sympathisant des Terrors“ und ein „Brandstifter“ hieß es in einer zwei Monate anhaltenden Medienkampagne gegen Kölns prominenten Schriftsteller. Heinrich Böll wehrte sich mit Worten: „Wo ich Denunziation und Kritik nicht mehr auseinanderhalten kann“ – Böll verweist in einer Filmszene auch auf die Nazizeit, in der der 1917 in Köln Geborene aufgewachsen war – , könne sich Denunziation rasch als mörderisch erweisen. Diese Kampagne sei eine „mörderische Sache“.
Am 1. Juni 1972, als der RAF-Terrorist Baader verhaftet wurde, wurde auch Heinrich Bölls Privatwohnung durchsucht. Der prominente Schriftsteller vermochte da nicht mehr an einen Zufall zu denken. Auch seine Familie wurde gezielt in die mediale Hetze eingebunden. So wurde 1975 auch die Wohnung eines seiner Söhne polizeilich durchsucht. In den Monaten danach, als sich der RAF-Terror fortsetzte, verschärften sich auch die Angriffe der Springerpresse auf Böll immer mehr. Er wurde nun in sehr direkter Weise vom Springerkonzern beschuldigt, unmittelbar Verantwortung für die RAF-Morde zu tragen. Böll sei ein Sympathisant der RAF. „Auf die Kriegserklärung der Springerpresse“, so heißt es im Film, „antwortete Böll mit Literatur“. Böll war sehr eindeutig ein Schriftsteller, kein politischer Akteur. Und dennoch legte er sich mit Springer an – einer Macht, „vor der sich auch Politiker fürchteten“, erinnert Echterhoffs Film die seinerzeitigen Machtverhältnisse.
In nur vier Monaten schrieb der massiv Attackierte seine Katharina Blum-Erzählung nieder. „Falls Ähnlichkeiten mit der Bild-Zeitung“ bestünden sei dies „weder beabsichtigt noch zufällig, sondern unausweichlich“, heißt es in Bölls Vorwort (S. 5). Und nicht er als Autor trage die moralische Verantwortung für die Taten seiner literarischen Protagonistin, sondern die Gesellschaft.
„Wunsch zur Vernichtung des eindeutig Schwächeren“
Im bemerkenswerten Film begegnen wir dem mit Böll auf verschiedenen Ebenen verbundenen Kölner Schriftsteller Günter Wallraff. Auch als Reaktion auf die Angriffe der Bild-Zeitung legte der prominente Kölner Enthüllungsjournalist Wallraff 1977 seine „Bild“-Reportage Der Aufmacher vor. Das Buch, wie auch Wallraffs beiden Nachfolgebände, erregten die gesamte Nation.
Katja Diehl, eine eloquente Verkehrsexpertin und Aktivisten einer Mobilitätswende weg von einer Autofixierung, berichtet im Film von der Brutalität, mit der sie als Frau medial für ihre gut lesbaren Bücher und ihr verkehrspolitisches Engagement in den letzten Jahren attackiert worden ist. In ihren Beschreibungen demonstriert die Autorin besonders eindrücklich, wie sich diese Szenen des heutigen organisierten Hasses Bölls 50 Jahre zurückliegender Erzählung entsprechen: Gegen Katja Diehl richtete sich in den sozialen Medien eine schier unerträgliche Hetze einschließlich zahlreicher Morddrohungen; ein „Wunsch zur Vernichtung des eindeutig Schwächeren“, wie es im Film heißt.
Dass „Katharina Blum lebt“, wie Echterhoffs Film betitelt ist, wird durch diese Interviewsequenzen mit den verschiedenen Schriftsellerinnen eindrücklich deutlich. Der Film endet mit den Schüssen, die Katharina Blum in größter Not gegen ihren Peiniger richtet. Der Bild-Journalist möchte sie „bumsen“, da dachte sie: „Gut, jetzt bumsts“. Bei jedem Schuss zuckt Katharina Blum zusammen.
Ein Epilog: Heinrich Böll, die Nazizeit und Israel
Hier sollte die Filmbesprechung eigentlich enden. Da auf haGalil verschiedentlich Texte über Heinrich Böll und dessen äußerst ungleichen Kollegen Günter Grass erschienen sind – so „Günter Grass mochte keine roten Rosen“ (2012) und der Fortsetzungstext „50 Rosen für Beate Klarsfeld – und nun das Bundesverdienstkreuz“ (2015) sei ein kurzer Exkurs über den durch die Nazizeit geprägten Humanisten und „Freund Israels“ hinzugefügt: Heinrich Böll unterschied sich grundlegend und in wohltuender Weise von vorgeblich „linken“ Schriftstellern wie Grass und Walser.
Heinrich Böll, 1917 in Köln geboren, hatte die Nazizeit sehr bewusst erlebt. Mit Kriegsausbruch wurde er zur Wehrmacht eingezogen und war sechs Jahre lang Soldat. Im September 1945 kehrte der gläubige Katholik nach Köln zurück. Immer wieder sollte er in seinen Romanen und Kurzgeschichten – so in „Wo warst du, Adam?“ sowie „Und sagte kein einziges Wort“ über seine verstörenden Kriegserfahrungen schreiben. Hierdurch blieb der empfindsame, genau beobachtende Böll der nach „Normalisierung“ und „Schuldentlastung“ strebenden deutschen Mehrheitsgesellschaft fremd. Erst posthum erschienen Bölls Tagebücher aus dem Krieg.
Für Böll gab es nie eine „Stunde Null“. Der Nationalsozialismus bildete für ihn zeitlebens eine erschütternde Erfahrung, für die die „hitlergläubigen“ Deutschen die Hauptverantwortung trugen. Norbert Bicher fasst hierzu zusammen: „Sein kurzes Zögern, sich zu freuen über die ersehnte Befreiung, hat Heinrich Böll (1917 – 1985) ein Leben lang nicht losgelassen. Ein Jahr vor seinem Tod 1985 schrieb er in einem Brief an seine Söhne über die Wirren der letzten Kriegsmonate. Als 21-jähriger gleich zu Kriegsbeginn eingezogen haben ihn die Schrecken dieser Sinnlosigkeit, die er in seinen Kriegstagebüchern herausgeschrien hat, nie losgelassen. 1944 in Rumänien schwer verletzt, verbrachte der Gefreite Böll das Ende des Krieges zwischen Lazaretten oder mit gefälschten Papieren bei seiner wegen der Bombenangriffe auf Köln ins Oberbergische geflüchteten Familie. Immer in Angst, der Schwindel könnte auffliegen, und er als Deserteur erschossen werden.“
Er habe die Niederlage der Deutschen im Frühjahr 1945 niemals als „Stunde Null“ empfunden, sondern als Stunde Nichts, bemerkte Böll einmal. Es sei kein schöner Zustand gewesen, ein Deutscher zu sein. „Vergessen Sie nicht … daß wir einfach kaputt waren, verstehen Sie, krank, körperlich krank. Ich bin erst 1948 überhaupt in der Lage gewesen, mich mehr oder weniger körperlich zu regen“, heißt es 2017 in einem DLF-Feature anlässlich Bölls 100.ten Geburtstages. Böll erinnert sich in dem Feature an „Besuche“ von Hitler und Göring in Köln, die er als Schüler erlebte: „Ich stand, zusammen mit Tausenden Kölner Schulkindern Spalier, als er in der dritten Uniform, einer weißen, durch die Stadt fuhr.“ (ebd.) In seinen Erzählungen beschrieb Böll anhand von einzelnen Schicksalen die Situation von Menschen, die nach dem Krieg wieder in ihre zerstörte Heimatstadt zurück kehrten – Böll beschrieb hier also auch immer seine eigenen Kriegserfahrungen als junger Mann: „…es ist nicht nur eine Stadt zerstört, es ist nicht nur ein Land zerstört, es ist auch die Psyche zerstört, Kulturen zerstört, Formen des Glaubens. Und der Titel ist ja ein programmatischer Titel „Der Engel schwieg“, das heißt der Engel sagt nichts mehr.“ In seinen Büchern thematisierte Böll auch immer mal wieder sein Verhältnis zum Judentum, so in „Der Zug war pünktlich“ (1949), „Haus ohne Hüter“ (1954) und dem bereits erwähnten „Wo warst du Adam“.
In besagtem Rundfunkfeature werden weitere Beziehungen Bölls zum Judentum nachgezeichnet: „An einer anderen Stelle des Romans „Wo warst du Adam“ zeichnet er das Psychogramm eines Täters, eines SS-Obersturmführers, und seines Opfers, einer 23-jährigen Jüdin, deren Ermordung durch den deutschen Offizier den Genozid an den Juden auf exemplarische Weise zeigt. In der frühen Erzählung „Todesursache Hakennase“ von 1947 beschreibt Böll einen Massenmord an den Juden und anderen Minderheiten in der Nähe von Kiew. Tötungsverbände und Sonderkommandos erfüllen ihren Auftrag: Ein Massenmord an Greisen, Säuglingen, Roma, Sinti und Juden, den ein Leutnant miterlebt.“ (ebd.)
Böll besuchte 1969, 1972 und 1974 Israel und traf dort seine Freunde Emanuel Ben Gurion, Ernst Simon, Werner Krafft (vgl. Robert Schlickewitz: Böll – Grass nahegelegt, haGalil 2012) 1978 erschien ein Essay Bölls mit dem schlichten Titel „Shalom“. 1986 folgte das von Jacoby herausgegebene Buch „The Land of Israel“, zu dem Böll das Vorwort beisteuerte.
2010, zu Bölls 25. Todestag, erinnerte die Grünen-nahe Heinrich Böll Stiftung – Böll hatte sich von Anfang an zu der jungen, Ende der 1970er Jahre entstehenden und in seiner Heimatstadt bis heute außergewöhnlich erfolgreichen Partei Die Grünen bekannt – an Bölls Werk. Sie schreibt als Einführung zu einem eigenen Böll-Themenschwerpunkt:
„Das israelische Büro der Böll-Stiftung publizierte gemeinsam mit dem Verlag HaKibutz Hameuchad ein Buch mit politischen Schriften von Heinrich Böll auf Hebräisch. „Der Ausverkauf des Schmerzes“ enthält ausgewählte Texte aus dem Zeitraum von 1945 bis 1985.“ Im Herbst 2010 kam es zu Buchvorstellungen in den Cinematheken von Tel Aviv, Sderot und Jerusalem. Das Buch wurde von Hanan Elstein und Adina Stern heraus gegeben.
In Schlickewitz´ (2012) besagtem Böll-Grass-Beitrag gibt der Autor Auszüge aus Bölls „Shalom“ – Essay (1978) wieder, der auch ein halbes Jahrhundert später höchst aktuell bleibt. Böll beschreibt hierin seine Gefühle bei seinen Besuchen in Israel: „… ich habe mich nur stunden-, manchmal minutenlang, kaum einmal tageweise unbetroffen gefühlt. Ich beneide die Deutschen, die unbetroffen sein können. Ich konnte es nur selten sein, das muß vorausgesetzt sein, wenn ich hier ein paar Eindrücke wiederzugeben versuche. Es ist nicht die Frage meiner Schuld (manchmal beneide ich die eindeutig Schuldigen) oder Unschuld, es ist nicht die Frage der Kollektiv- oder Einzelschuld, es ist das Bewußtseit, nicht nur Zeitgenosse der „Endlösung“, sondern deutscher Zeitgenosse gewesen zu sein, Zeitgenosse dieser mit unfaßbarer Gründlichkeit vorbereiteten Ausrottung, wie ich sie bisher am eindringlichsten in H. G. Adlers großer Studie Der verwaltete Mensch dargestellt fand. (…) Es ist nicht das Problem von Anklage, Untersuchung, Freispruch, für ‚schuldig‘ oder ‚nicht schuldig‘ befunden zu werden, es ist eben nicht nur ein moralisches Problem, nicht einmal nur ein menschliches, es ist nicht einmal das Problem der Zeugenschaft, sondern der Zeitgenossenschaft, und vielleicht sind viele Deutsche, zu sehr darauf bedacht, sich freizusprechen oder freigesprochen zu werden, sich bis heute nicht klar darüber, welcher Zeit Genossen sie waren, Zeitgenossenschaft ist nicht Schuld, und so gibt es keine Absolution, es gibt kein Bekenntnis. Aufgefordert, anläßlich eines internationalen Kongresses in Yad Va Shem, der Gedenkstätte für die ermordeten europäischen Juden, eine Rede zu halten, konnte ich kein Wort herausbringen. Ich war zu sehr betroffen, und mir schien, Sprache sei sinnlos geworden.“
Heinrich Bölls jüdisches Erbe: Kölner Bibliothek Germania Judaica
Für Böll war Solidarität mit Juden und mit dem Staat Israel eine Selbstverständlichkeit. Deshalb gründete er bereits 1959, gemeinsam mit seinem Schriftstellerkollegen Paul Schallück und dessen Frau Ilse, dem Buchhändler Karl Keller und dem Publizisten Wilhelm Unger in Köln die Bibliothek „Germania Judaica“. Diese Bibliothek ist bis heute ein Erfolgsmodell, da diese (leider zur Zeit in Renovierung befindliche) öffentliche Bibliothek ein integraler Bestandteil der zentral am Neumarkt gelegenen Kölner Stadtbücherei ist und heute eine der größten Bibliotheken zur Geschichte des deutschen Judentums beherbergt.
Parallel hierzu gründeten Böll und dieser Kollegenkreis zeitgleich die Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die bis heute eine rege Veranstaltungsreihe zu jüdischen Themen sowie zum Staat Israel auf die Beine stellt.
Heinrich Bölls Spuren in „seinem“ Köln sind auch 40 Jahre nach seinem Tode eindrücklich und aktuell. Dies gilt auch für seine Erzählung Die verlorene Ehre der Katharina Blum.