Als der Krieg im Libanon erneut ausbrach, ging ich in Berlin-Schöneberg spazieren und begegnete einer israelischen Aktivistin und Wissenschaftlerin, die nach Berlin ausgewandert war. Ich fragte sie, wie sie zurechtkommt. „Ich fühle mich schrecklich“, entgegnete sie. „Ich kann meinen libanesischen Freunden nicht gegenübertreten.“
Von Mati Shemoelof
Es war Herbst in Berlin, und wir standen draußen in der Kälte. Ich gab zu: „Ich meide die Nachrichten. Wenn ich die neuen Berichte sehe, habe ich danach Mühe zu schreiben oder zu arbeiten.“ Sie blickte auf die bunten Blätter, die auf dem Bürgersteig gelandet waren, dann wieder zu mir. „Wir haben Glück, dass wir Israel verlassen haben und jetzt hier leben. Ich fühle mich nicht mehr mit ihnen (Anm. d. Autors: mit dem israelischen Volk) verbunden.“
Wie können wir Scham, Trauer, Wut und Verrat überwinden?
Aber sind wir wirklich nicht mehr mit unserem Heimatland verbunden? Ist es so einfach? Und wo stehen wir jetzt? Ich bin verloren, mehr denn je. Meine Frau erinnerte mich daran, dass ich in der Vergangenheit wütend wurde und die israelische Regierung verfluchte, etwa beim letzten Gaza-Krieg. Aber als die Armee in den Libanon einmarschierte, sagte ich nur: „Wir können nichts tun.“
Ich habe das nicht einmal bemerkt. Wie ein Mantra wiederholte ich: „Es liegt nicht in meiner Hand. Was sollen wir auch tun mit diesen Gefühlen der Hilflosigkeit, der Entfremdung und der Abkoppelung? Wie können wir Scham, Trauer, Wut und Verrat überwinden? Was geschieht mit uns, wenn wir aus der Ferne den blutigen Sturm beobachten, der das Land, in dem wir geboren wurden, in einen endlosen Abgrund zieht?“
Mit meinem Mantra kamen die Rückenprobleme. Ich konnte mich kaum bewegen. Genau an dem Tag, an dem ich besagte Freundin traf, am 23. September, wurden bei israelischen Angriffen im Libanon mindestens 558 Menschen getötet, darunter 50 Kinder und 94 Frauen. Mehr als 1800 Personen wurden nach Angaben des libanesischen Gesundheitsministeriums verletzt. Wie im Gazastreifen hatte Israel auch im Libanon unschuldigen Menschen das Leben genommen. Die Regierung begründete den Angriff mit der Absicht, die 60.000 israelischen Einwohner Nordisraels, die nach der Bedrohung durch die Hisbollah geflohen waren, zurückzubringen. Aber hat Israel zuvor auch alle diplomatischen Möglichkeiten ausgeschöpft?
Netanjahu habe nicht einmal die USA zu dem Bombardement konsultiert, kritisierte der Schriftsteller und Journalist Adam Shatz. Der Angriff mache „den amerikanischen und französischen Vorstoß für einen Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah, dem Netanjahu privat zugestimmt hatte, zum Gespött“.
Ist das Leben der israelischen Bevölkerung nun mehr wert als das Leben der Menschen in Gaza oder im Libanon? Gibt es in den Augen Israels wirklich eine Hierarchie, die es rechtfertigt, Hunderte von unschuldigen Menschen zu töten, um einen Hamas- oder Hisbollah-Kommandeur auszuschalten, nur weil er sich unter ihnen versteckt hat?
Zwischen uns und ihnen ist eine Barriere entstanden
Ich denke wieder an die Freundin, die ich in Berlin getroffen habe, an mein Rückenproblem, an mein Mantra. Manchmal empfinde ich Abscheu und ein tiefes Gefühl der Scham über den Wandel in großen Teilen der israelischen Gesellschaft. Ich habe das Gefühl, dass eine Barriere zwischen uns und ihnen entstanden ist, eine Mauer, die uns dauerhaft zu trennen scheint. So stelle ich es mir zumindest vor.
Seit dem Angriff des Iran auf Israel Anfang Oktober habe ich begonnen, die Beziehung zwischen dem zeitgenössischen jüdischen Leben außerhalb Israels und der Version des Judentums, die Israel der Welt präsentiert, zu überdenken. Als ob gerade der richtige Zeitpunkt wäre, um über jüdische Identitätskonzepte nachzudenken.
Schon fühle ich die nächste Zerrung in meinem Rücken. Ich will die Solidarität mit dem israelischen Volk nicht untergraben, während es sich durch Angriffe des Iran oder seiner Stellvertreter-Milizen wie der Hamas oder der Hisbollah unmittelbar bedroht fühlt. Aber in Berlin treffen wir täglich auf die arabische Diaspora – wie können wir ihnen in die Augen schauen, wenn unser Land, in unserem Namen, für den Tod unzähliger unschuldiger Menschen verantwortlich ist? Ich will diese Rückenschmerzen loswerden. Ich brauche einen Ort, an dem das Leben dieser Menschen zählt.
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„i am the mother
no longer willing to sacrifice sons
to wars of men and
gods of war i
mother refuse to lose
more daughters to sons gone crazy
watching kids get bombed and blown
into bits of brain and bone“
– Suheir Hammad
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Ich sehe ihre Blindheit
Ich war 14 Jahre alt, als die riesigen grauen Panzer an mir vorbeirollten. Die stählernen Monster fuhren auf ihren langen Trägern entlang der Küstenstraße, die an meiner Heimatstadt Haifa vorbeiführte, in Richtung Libanon. Es war der Beginn eines neuen Krieges.
Ich wusste nicht, was Krieg bedeutet. Diese Reihe von Panzern war für mich surreal. Plötzlich war der Blick aufs Mittelmeer, das ich liebte und schätzte, von diesen riesigen, bedrohlichen Maschinen verdeckt.
Kurz darauf verließ uns mein Vater, um sich als Reservist der Armee anzuschließen. Meine Mutter war besorgt. Ich war besorgt. Nach dem gescheiterten Attentat der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) auf den israelischen Botschafter in London im Juni 1982 hatte der israelische Verteidigungsminister Ariel Sharon eine Rechtfertigung parat, um einen Krieg gegen Arafats PLO zu beginnen und in den Libanon einzumarschieren, wo die Organisation ihren Sitz hatte.
Niemand wusste, was nun geschehen würde. Weil wir Kinder nicht mehr draußen spielen durften, mussten wir stattdessen den Bunker unter unserem Keller putzen. Ich erinnere mich daran, wie wir einmal nach draußen schlichen und meine Mutter uns anschrie: „Geht zurück in den Bunker! Seid ihr verrückt?“
Die Einheimischen sahen in mir einen Eroberer
In diesen acht Jahren des Krieges gegen den Libanon wurde meine Angst vor den stählernen Monstern durch eine Art Gehirnwäsche des militaristischen Systems ersetzt. Ich ging zum Rekrutierungsbüro und sie fragten mich, in welcher Truppe ich dienen wolle. Ich antwortete: „Nur in einer Panzertruppe.“
Nachdem ich acht Monate lang gelernt hatte, den Merkava-Panzer zu bedienen, wurde ich Ende der Neunzigerjahre auf eine Mission geschickt, um das besetzte Gebiet im Süden des Libanon zu bewachen. Wir waren auf der Ostseite stationiert, in der Nähe der libanesischen Stadt Mardsch Uyun. Dort realisierte ich, dass die Einheimischen in mir einen Eroberer sahen.
Jedes Mal, wenn wir mit unseren Panzern nach Hisbollah-Guerillakämpfern suchten, fanden wir Sprengsätze, die uns aufhalten sollten. Einmal sahen wir mit unserem Nachtsichtgerät Schemen, die wir für Hisbollah-Kämpfer hielten, und wir eröffneten das Feuer. Am Morgen stellten wir fest, dass wir auf Wildschweine geschossen hatten, die wie Menschen in einer geraden Linie gelaufen waren.
Inzwischen ist es nicht mehr unwahrscheinlich, dass Israel den Süden des Libanon erneut besetzen wird.
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„The war will end,
and leaders will shake hands.
That old woman will keep waiting for her martyred son.
And those children will keep waiting for their hero father.
I don’t know who sold our homeland,
but I saw who paid the price.“
– Mahmoud Darwish
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Ich schäme mich schon lange dafür, in welchem Ausmaß Israels rechtsextreme, messianische Regierung Kriegsverbrechen gutheißt. Selbst ein Zyniker wie ich kann nicht glauben, dass Israel bis heute kein Abkommen zur Rückführung der Geiseln unterzeichnet hat. Eine solche Vereinbarung könnte zu einer Deeskalation in der gesamten Region führen und möglicherweise weitere Kriege im Libanon und im Iran verhindern.
Ich weiß, dass viele fortschrittliche israelische Juden diese Schuldgefühle und Angst empfinden. Auch ich versuche, mich sowohl dem unermesslichen Leid im palästinensischen und libanesischen Lager zu stellen als auch den Schmerzen der Israelis und den anderen Opfern des Krieges – aber mein Rücken ist gebrochen.
Ich muss mich von dieser psychischen Krankheit befreien. Als Jude in der Diaspora sind weder die Palästinenser noch das libanesische Volk meine Feinde.
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„Das Weinen des Soldaten und das Weinen des Besiegten
lassen sich niemals vergleichen
und dennoch weinen sie beide heute Nacht
und nur die Erde weiß zu unterscheiden
welche Dichter mit ihren Tränen
und welche mit ihren Fäusten schreiben
das Gedicht, das heut Nacht auf beiden Seiten des Leviathans
entstand
durchquert den Himmel:
ihm war das Wort ‚Grenze‘
noch nie ein Begriff.“
– Mati Shemoelof. Übersetzung: Gundula Schiffer
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Wir alle – auch Palästinenser, Libanesen, Israelis – haben unsere Heimat verlassen, wurden vertrieben oder ins Exil geschickt und leben jetzt in westlichen Städten. Uns allen wurde das Rückgrat gebrochen. Die Trauer um die vielen Toten, die jeden Tag beerdigt werden, ist enorm. Die Zerstörung ist noch nicht zu Ende. Wie sollen wir unseren Kindern erklären, warum so viele Familien wie vom Erdboden verschwunden sind?
Und gerade weil wir so viel Schmerz empfinden, müssen wir eine gemeinsame Diagnose finden, eine gemeinsame Behandlung, statt getrennt danach zu suchen.
Es gibt keine perfekte Lösung.
Ich weiß, dass einige israelische Juden in der Diaspora zögern, an propalästinensischen Demonstrationen teilzunehmen, und ihre Angst ist verständlich. Aber es gibt unter den Israelis im Ausland das wachsende Bedürfnis, im politischen Aktivismus gegen den Krieg neue Kraft zu finden.
In Zeiten der Hetze, des rechtsextremen, rassistischen Nationalismus und des Verlusts der moralischen Orientierung muss auch ich ein symbolisches Heilmittel für meinen Rücken finden.
Der Beitrag erschien zuerst in der Berliner Zeitung v. 14.11.2024.
Zur Webseite von Mati Shemoelof: mati-s.com
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