Die Währung in Zeiten wie diesen

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Foto: WOKANDAPIX

Der Fall Benny Morris an der Universität Leipzig hat die Boykott-Debatte im universitären Kontext wieder stärker in den Fokus gerückt. Dabei fällt immer wieder auf, wie häufig Detailfragen verwischt werden – obwohl gerade diese nicht nur den Unterschied ausmachen, sondern die Debatte auch auf eine notwendige Sachebene zurückführen könnten.

Von Anne Rethmann

[English version below]

Schon bei dem von mir mitinitiierten Statement against the Boycott of Israeli Academics kam der Vorwurf auf, einseitig zu sein, wenn nicht gleichzeitig erwähnt wird, dass Universitäten und Bildungseinrichtungen in Gaza von der IDF weggebombt wurden. Es bleibt allerdings unklar, was das konkret mit dem Appell gegen Boykottaufrufe zu tun haben soll. Unser Statement richtet sich nicht an Netanyahu, die IDF oder Regierungsvertreter anderer Länder, sondern an Einzelpersonen in der Wissenschaft – mit dem Ziel, genau jene Kollektivhaftung zu vermeiden, die Israelis mit ihrer Regierung gleichsetzt. Boykottkampagnen dieser Art gibt es eben ausschließlich gegen Israelis. Ein weiterer Einwand im Frühjahr lautete, dass  Palästinenser und sogenannte pro-palästinensische Aktivisten ebenfalls oft – wenn nicht sogar häufiger – gecancelt werden, im deutschen Kontext stets verbunden mit dem Verweis auf die deutsche Staatsräson. Was bei dieser Gleichsetzung jedoch übergangen wird, sind die inhaltlichen Gründe, warum eine Preisvergabe, ein Vortrag oder eine Ausstellung abgesagt wird.

Der Fall Benny Morris bringt die Misere also erneut auf den Tisch. Der renommierte israelische Historiker wurde von der Universität Leipzig ausgeladen, nachdem einige bekannte antiisraelische Gruppen, darunter Students for Palestine Leipzig, eine erfolgreiche Boykottkampagne gestartet und Morris Rassismus unterstellt hatten. Das ist ein schwerer Vorwurf und einige Details sind daher notwendig.

Benny Morris gilt als ein prominenter Vertreter der Neuen israelischen Historiker, der mit seinem wegweisenden Buch von 1988 The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949 begann, die Entstehung Israels kritisch zu hinterfragen. In seinen späteren Publikationen setzte er sich auch mit der Rolle der arabischen und palästinensischen Akteure auseinander, analysierte sowohl deren Versäumnisse als auch ihre bewusste Verweigerung einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts. Die von den Leipziger Studierenden zitierten Passagen aus einem Haaretz-Interview von 2004 lösten vor 20 Jahren eine hitzige innerisraelische Debatte aus – über Zionismus, Moral und den Umgang mit Terror. Morris reagierte auf die massive Kritik zwei Wochen später erneut in Haaretz mit seiner Replik Right to Reply: I Do Not Support Expulsion, in der er die Darstellung seiner Aussagen als verzerrt zurückwies. Auch der Soziologe Natan Sznaider hatte damals diese Debatte klug in dem Artikel Adieu, zionistische Moral für ein deutsches Publikum nachgezeichnet. Sznaider kontextualisierte die innerisraelische Debatte um Morris und seine theoretischen Verschiebungen im Laufe der Zeit, wobei er auch die palästinensischen Selbstmordanschläge während der Zweiten Intifada hervorhob, die bleibende Auswirkungen auf die israelische Gesellschaft und vor allem auf die Friedensbewegung hatten – ein Thema, das heute in vielerlei Hinsicht wieder von hoher Relevanz erscheint. All dies hätte in Leipzig diskutiert werden können, doch keiner dieser Kontexte wurde berücksichtigt. Stattdessen übernahm die Universität in einer ersten offiziellen Stellungnahme ungeprüft die Rassismusvorwürfe. Der Mitinitiator der Ringvorlesung Traditionen und Gegenwart des Antisemitismus Gert Pickel, Theologieprofessor sowie Antisemitismusbeauftragter der Universität, verwies in einem Gespräch mit dem Stadtmagazin Kreuzer zudem auf mögliche Traumatisierungen der Studierenden durch die angekündigten Störaktionen und nannte Sicherheitsbedenken als Gründe für die Absage. Das Signal ist fatal: Wenn solche Veranstaltungen nur noch unter hohem Polizeiaufgebot möglich sind, überlegt jede verantwortliche Person zweimal, wen sie in Zukunft einlädt.

Der Journalist Deniz Yücel hat nun in einem Kommentar für die WELT die Absage als Feigheit kritisiert. Doch indem er auch den Fall Laurie Anderson heranzieht, wird seine Analyse zur Wissenschaftsfreiheit schräg. Daran zeigt sich allerdings, dass ein abstraktes, rein formales Festhalten an der Wissenschaftsfreiheit problematisch werden kann. Deshalb lohnt sich ein genauerer Blick. Die amerikanische Künstlerin und Musikerin trat im Frühjahr ihre Gastprofessur nicht an, weil die Leitung der Folkwang Universität der Künste in Essen sie zuvor gefragt hatte, ob sie weiterhin Boykottaufrufe gegen israelische Kollegen unterstützt. Anderson empfand dies als Gesinnungsschnüffelei und verweigerte daher die Antwort. Das Nachfragen der Universität klingt zunächst skandalös. Niemand möchte nach seiner Gesinnung befragt werden – erst recht nicht in Deutschland, wo der Begriff ohnehin durch die völkische Aufladung der Nationalsozialisten schwer belastet ist. Zudem weckt all dies schnell Erinnerungen an den Radikalenerlass der 1970er-Jahre.

Es könnte sich aber lohnen, eine andere Perspektive in Betracht zu ziehen: Als steuerfinanzierte öffentliche Institutionen, die sich dem freien Wissenschafts- und Kulturaustausch nicht nur verpflichtet fühlen, sondern gemäß dem Grundgesetz auch so handeln müssen, können Universitäten nur mit Personen und zivilgesellschaftlichen Gruppen zusammenarbeiten, die diese Grundsätze teilen und nicht aus Prinzip eine bestimmte Menschengruppe – in diesem Fall Israelis – ausschließen wollen. Aus dieser Perspektive spiegelt die Ablehnung der BDS-Bewegung durch öffentliche Institutionen in Deutschland weniger die sogenannte German guilt wider, sondern vielmehr die Anwendung des Grundgesetzes und der Menschenrechtsstandards.

Die Gründe für viele Absagen durch öffentliche Institutionen in Deutschland – vor allem nach dem 7. Oktober 2023 – scheinen tatsächlich mit BDS-Unterstützung zusammenzuhängen und weniger damit, dass jemand Israel des Genozids in Gaza beschuldigt, das Land als Apartheidstaat oder Siedlerkolonialprojekt bezeichnet. Solche Aussagen bleiben sicherlich nicht unwidersprochen, was in einer Demokratie aber auch zu erwarten ist. Darüber hinaus haben Vorfälle von Hassrede, wie die Verherrlichung und Verharmlosung (oft in Form von Ästhetisierungen) der Hamas-Angriffe vom 7. Oktober, dazu geführt, dass sich Institutionen von einigen Personen distanzierten. Erfahrungen mit anderen Formen von Hassrede, wie die gegen Frauen oder Flüchtlinge, zeigen, dass sie realen Schaden anrichten kann, einschließlich physischer Gewalt, Radikalisierung, Normalisierung von Vorurteilen und Ressentiments. Sie ist daher auch als solche ernst zu nehmen.

Kurz gesagt, die Fälle Benny Morris und Laurie Anderson sind keine zwei Seiten einer unschönen Cancel-Culture-Medaille, wie Yücel es suggeriert. Während sicherlich nicht alle Aussagen von Morris verteidigt werden müssen, scheint aber der Vorwurf des Rassismus hier vielmehr als erfolgsversprechende Taktik zu dienen, um ihm als Israeli und bekennendem Zionisten die Möglichkeit zu nehmen, seine Forschungsarbeit an der Universität Leipzig zu diskutieren. Anderson hingegen trat von sich aus zurück, indem sie die legitime Nachfrage der Universität nach ihrer Unterstützung für BDS als Gesinnungsschnüffelei inszenierte. So stilisierte sie sich selbst zum Opfer – die Währung schlechthin in Zeiten wie diesen.

 

Currency in Times Like These

Since the controversy surrounding Benny Morris at the University of Leipzig, the boycott debate within academia has reemerged with greater prominence. What stands out repeatedly is how often critical details are obscured—even though these very details not only make the difference but could also bring the discussion back to the much-needed level of substantive argumentation.

By Anne Rethmann

Take, for example, the Statement Against the Boycott of Israeli Academics, which I co-initiated. It was accused of being one-sided for not simultaneously addressing incidents like the IDF bombing universities and educational institutions in Gaza. However, it remains unclear what exactly such events have to do with an appeal against academic boycotts. Our statement is not directed at Netanyahu, the IDF, or government representatives of any country but at individual scholars—with the aim of avoiding precisely the kind of collective punishment that conflates Israelis with their government. Notably, boycott campaigns of this nature exclusively target Israelis. Another critique, raised earlier this year, argued that Palestinians and so-called pro-Palestinian activists are also frequently—if not more frequently—canceled, especially in Germany, where this is often attributed to the country’s Staatsräson. Yet this comparison glosses over the substantive reasons behind decisions such as denying an award or canceling a lecture or exhibition.

The case of Benny Morris brings this misery back to the forefront: The renowned Israeli historian was disinvited by the University of Leipzig after some well-known anti-Israel groups, including Students for Palestine Leipzig, launched a successful boycott campaign accusing Morris of racism. This is a grave charge, and certain details are necessary here.

Morris is considered a prominent figure among Israel’s New Historians. His groundbreaking 1988 book The Birth of the Palestinian Refugee Problem, 1947–1949 critically examined Israel’s founding. In later works, he also addressed the role of Arab and Palestinian actors, analyzing both their failures and their deliberate refusal to pursue peaceful solutions to the Israeli-Palestinian conflict. The excerpts from a 2004 Haaretz interview cited by Leipzig students sparked a heated debate in Israel 20 years ago—over Zionism, morality, and the handling of terror. Morris later responded to the massive critiques in Haaretz with his article Right to Reply: I Do Not Support Expulsion, rejecting what he described as distorted portrayals of his views. Sociologist Natan Sznaider thoughtfully chronicled this debate for a German audience in his 2004 piece Adieu, zionistische Moral. Sznaider contextualized the inner-Israeli debate surrounding Morris and his theoretical shifts over time, while also considering the Palestinian suicide attacks during the Second Intifada, which had lasting effects on Israeli society and especially on the peace movement—an issue that seems highly relevant again today in many ways. All of this could have been discussed in Leipzig, but none of this context was considered. Instead, the university’s initial official statement uncritically adopted the racism allegations. Gert Pickel, a theology professor and the university’s commissioner for antisemitism, further defended the decision in an interview with Leipzig’s Kreuzer magazine, citing concerns about potential trauma among students due to the announced disruptions, as well as security issues, as reasons for the cancellation. The signal is troubling: if such events can only take place under heavy police protection, every responsible organizer will think twice about whom to invite in the future.

Journalist Deniz Yücel criticized the cancellation as an act of cowardice in a recent commentary for WELT. Yet his analysis of academic freedom becomes strange when he links Morris’s case to that of Laurie Anderson. His comparison, however, shows how an abstract, purely formal adherence to academic freedom can become problematic, warranting closer examination. In Anderson’s case, the American artist and musician chose not to take up a guest professorship at the Folkwang University of the Arts in Essen after the university asked whether she still supported calls to boycott Israeli colleagues. Anderson decried this as thought policing and refused to answer. At first, the University’s stance may seem scandalous, and who would want their beliefs questioned—especially in Germany, where the term Gesinnung alone carries such weight, due to its National Socialist history, and quickly evokes memories of the 1970s Radikalenerlass.

Yet another perspective might be worth considering: Publicly funded institutions, bound by Germany’s Basic Law, are not just committed to free cultural and academic exchange—they must act accordingly. So, such institutions can only collaborate with individuals and civil society groups, who share these principles and do not categorically exclude certain groups—in this case, Israelis. From this perspective, the rejection of BDS by public institutions in Germany reflects not so much so-called German guilt, but rather the application of Basic Law and human rights standards.

Most cancellations by German public institutions—especially after October 7, 2023—do indeed seem to be linked to BDS advocacy rather than accusations that Israel is committing genocide in Gaza or is an apartheid or settler-colonial state. Such statements are certainly not left unchallenged, but this is to be expected in a democracy. Furthermore, incidents of hate speech, such as the glorification and downplaying (often in the form of aestheticization) of the Hamas attacks on October 7, have led institutions to distance themselves from certain individuals. Experiences with other forms of hate speech, such as those targeting women or refugees, demonstrate that it can cause real harm, including physical violence, radicalization, and the normalization of prejudice and resentment. Therefore, it should be taken seriously.

To put it briefly, the cases of Benny Morris and Laurie Anderson are not two sides of the same ugly cancel-culture coin, as Yücel suggests. While not all of Morris‘ statements need to be defended, the accusation of racism seems more like a promising tactic to prevent him, as an Israeli and an avowed Zionist, from discussing his research at the University of Leipzig. Anderson, on the other hand, stepped down voluntarily, portraying the university’s legitimate inquiry about her support for BDS as thought-policing. In doing so, she cast herself as a victim – the currency par excellence in times like these.