Der Untergang

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Verstärkte Präsenz der IDF an der syrischen Grenze, Foto: IDF Sprecher

Das Regime von Baschar al-Assad scheint Geschichte zu sein. Das plötzliche Ende kam für alle überraschend – wohl auch für den Diktator selbst. Nun rätselt man in Israel, wie es in Syrien weitergeht.

Von Ralf Balke

Am Ende ging alles rasend schnell. Hieß es noch vor einer Woche, dass Rebellen in Syrien die Außenbezirke der Stadt Aleppo einnehmen würden und Regierungstruppen mit russischer Luftunterstützung in mehreren Regionen des Landes ganz plötzlich in heftige Kämpfe verwickelt seien, so wurde am Sonntagmorgen bekannt, dass nun sogar Damaskus von ihnen erobert wurde. Das bedeutet: die brutale Herrschaft des Assad-Clans ist definitiv vorbei. Seit 1970 hatten erst Hafiz al-Assad und nach seinem Tod im Jahr 2000 sein Sohn Baschar al-Assad Syrien unter Missachtung jeglicher Menschenrechte das Land kontrolliert und ein Schreckensregime installiert. 2011 erhoben sich die Syrer gegen diese Diktatur, was folgte, war ein blutiger Bürgerkrieg, dem rund 500.000 Menschen zum Opfer fielen. Millionen Syrer flüchteten ins Ausland. Jetzt hat Baschar al-Assad Syrien verlassen und ist selbst zum Flüchtling geworden. Über seinen aktuellen Aufenthaltsort gibt es derzeit aber nur Spekulationen und Gerüchte.

Der neue starke Mann heißt jetzt Abu Mohammed al-Julani, manchmal auch al-Golani oder al-Dscholani geschrieben, was darauf hinweist, dass seine Familie wohl von den Golanhöhen stammt. 1982 im saudischen Riad geboren ist er alles andere als ein Unbekannter – schließlich saß al-Julani zwischen 2006 und 2011 wegen seiner Zugehörigkeit zu dem Netzwerk von al-Qaida in amerikanischen Gefängnissen. Nach seiner Freilassung machte er Karriere, und zwar als einer der Anführer der sogenannten Nusra-Front, einem al-Qaida-Ableger in Syrien, der bereits während des syrischen Bürgerkriegs aktiv gegen das Regime von Baschar al-Assad gekämpft hatte und Teile des Nordwestens des Landes unter Kontrolle bekam. Heute nennt man sich nicht mehr Nusra-Front, sondern Hayat Tahrir al-Sham (HTS), und er hat sich nach eigenen Angaben von radikalem Islam verabschiedet und einen Imagewandel vollzogen.

„Al-Julani war deutlich schlauer als Assad“, so eine Einschätzung von Joshua Landis, Syrienexperte und Leiter des Zentrums für Nahoststudien an der Universität von Oklahoma, gegenüber der „Jerusalem Post“. „Er hat sich umorientiert, neu positioniert und neue Verbündete gefunden, indem man eine Charmeoffensive gegenüber Minderheiten startete.“ Und Aron Lund, ein Fellow des amerikanischen Thinktanks Century Foundation, ergänzt, dass al-Julani und die HTS gewiss einen Wandel durchlebt hätten, aber nach wie vor „ziemliche Hardliner“ seien. „Es handelt sich um reine Publicity, aber die Tatsache, dass sie sich überhaupt bemühen, zeigt, dass sie nicht mehr so dogmatisch sind, wie sie es einmal waren. Al-Qaida oder der Islamische Staat der alten Schule hätten das nie getan.“

Auch wenn die HTS derzeit die stärkste aller Rebellengruppen ist, die Baschar al-Assad zu Fall gebracht haben, heißt das noch lange nicht, dass sie nun überall in Syrien das Sagen haben werden. Kurzum, niemand weiß im Moment mit Gewissheit, wer die Kontrolle in Damaskus haben wird, wie das nächste politische System aussehen könnte oder ob das Land nicht in einen endlosen Kampf rivalisierender Gruppierungen versinkt. Die Ereignisse sind alle noch zu volatil.

Selbstverständlich bereitet das Chaos in Syrien auch Israel große Sorge. Zwar zählte das Assad-Regime zu den notorischen Feinden, aber über die Jahrzehnte hinweg hatte man genug Erfahrungen im Umgang mit Damaskus, sodass israelische Sicherheitsexperten immer von einer gewissen Berechenbarkeit und Rationalität der Akteure ausgehen konnten, ganz nach der Formel: Assad ist zwar unser Gegner, aber immerhin einer, den wir gut kennen und einschätzen können. Nun ist man mit einer völlig neuen Situation konfrontiert. Und man war ebenso erstaunt, wie wohl alle Beobachter der Region. „Der israelische Geheimdienst, der den syrischen Rebellen nur wenig Aufmerksamkeit schenkt – die meisten Ressourcen konzentrieren sich auf den Iran, die Hisbollah und die Palästinenser (vor allem nach dem 7. Oktober) – wurden überrascht“, bringt es Sicherheitsexperte Amos Harel in „Haaretz“ auf den Punkt. „Der militärische Nachrichtendienst, dessen Einschätzungen von den israelischen Streitkräften weitestgehend geteilt werden, sprach kürzlich sogar von Hinweisen zu einem Wiedererstarken der syrischen Armee.“ Israel hat daher seine Präsenz auf dem Golan, der unmittelbar an Syrien angrenzt, verstärkt.

Einerseits gibt es Bedenken, dass sunnitische Extremisten angesichts ihrer enormen Erfolge auf die Idee kommen könnten, die Pufferzone zwischen beiden Staaten zu überschreiten, um Israel selbst oder auch Drusen, die sie der Loyalität zu Baschar al-Assad verdächtigen, anzugreifen. Auf Stellungen der UN-Friedenstruppe UNDOF, die diese Pufferzone kontrolliert, hatte es bereits am Samstag unweit der Stadt Majdal Shams solche Attacken der Rebellen gegeben. Sonntagnachmittag kam dann die Meldung, dass israelische Soldaten der Shaldag-Elite-Einheit deshalb die syrische Seite des Hermon-Berges besetzt haben sollen, und das ohne dabei auf Gegenwehr gestoßen zu sein – ein weiteres Indiz dafür, dass die syrische Armee wohl kaum noch existent ist.

Zugleich meldeten sich israelische Politiker zu Wort, die mit dem Hinweis auf eine mögliche dschihadistische Regierung, die bald in Damaskus am Ruder sein könnte, die Einrichtung einer israelischen Sicherheitszone in dieser von den Vereinten Nationen kontrollierten Pufferzone fordern, allen voran Amichai Chikli, Minister für Diaspora-Angelegenheiten. Auch Benjamin Netanyahu eilte am Sonntag in Begleitung von Verteidigungsminister Israel Katz auf den Golan. Gegenüber der Presse betonte er seine Rolle als derjenige, der die Ereignisse in Gang gesetzt hätte, die letztendlich zum Ende der Diktatur in Damaskus geführt haben. „Dies ist ein historischer Tag in der Geschichte des Nahen Ostens“, sagte er bei einem Besuch auf dem Berg Bental an der Grenze zwischen Israel und Syrien. „Das Assad-Regime ist ein zentrales Bindeglied in der >Achse des Bösen< des Iran – dieses Regime ist nun gefallen.“ Ferner erklärte der Ministerpräsident: „Das ist eine direkte Folge der Schläge, die wir dem Iran und der Hisbollah, den Hauptunterstützern des Assad-Regimes, zugefügt haben.“

In der Tat ist das Ende der Diktatur eine weitere herbe Niederlage für den Iran. Denn Bashar al-Assad war mehr als einfach nur ein Verbündeter Teherans. Zum einen hatten die Mullahs mit ihrer Unterstützung für Damaskus mit dafür gesorgt, dass das Regime im syrischen Bürgerkrieg nicht zu Fall kam. Auf diese Weise konnten sie ihren Einfluss in der Region ausbauen. Zum anderen wurde über Syrien die Hisbollah mit Nachschub versorgt, was Israel in der Vergangenheit immer wieder zu verhindern versuchte. Genau diese Verbindung ist nun unterbrochen, was ebenfalls für die Schiitenmiliz im Libanon zum Problem werden könnte. Die Zeitung Yedioth Aharonoth zitiert einen Offizier der Iranischen Revolutionsgarden, der den Untergang des Assad-Regimes als „den Fall der Berliner Mauer der Achse des Widerstands“ bezeichnete. „Innerhalb von elf Tagen haben wir alles verloren, wofür wir 13 Jahre lang gekämpft haben.“ Auch für Russland bedeutet das Ende der Diktatur in Damaskus einen Verlust. Denn auch Moskau galt als Garant des Regimes, hatte im Bürgerkrieg mit seiner Luftwaffe im Jahr 2015 ganze Städte, in denen man Rebellen vermutete, mit seinen Fassbomben in Schutt und Asche gebombt. Offensichtlich war Russland ebenfalls nicht in der Lage, seinen Vasallen wie vor neun Jahren zu schützen, weil die militärischen Ressourcen wegen des Krieges in der Ukraine nicht mehr ausreichen. Deshalb sieht Wladimir Putin seinen Stützpunkt in Tartus, dem einzigen russischen Hafen am Mittelmeer, ebenfalls in Gefahr.

All diese Ereignisse der vergangenen Tage bringen auf den ersten Blick Israel einige handfeste Vorteile. Auf der anderen Seite machen sich die Sicherheitsexperten einige Gedanken, und das nicht nur, weil plötzlich Islamisten unmittelbar an einer Grenze zu Israel die Kontrolle übernehmen. Denn in Syrien gibt es reichlich chemische Waffen – erinnert sei nur an die Giftgasangriffe der syrischen Armee auf von Rebellen gehaltenen Gebieten in der Region Ghuta im syrischen Bürgerkrieg im August 2013. Und es gibt einen weiteren Profiteur, und der heißt Recep Tayyip Erdogan – schließlich war die Türkei die Regionalmacht, die gleich zwei der Rebellengruppen massiv unterstützt hatte, und zwar die HTS und die Syrische Nationalarmee, vormals als Freie Syrische Armee firmierend. Ohne diesen Support aus Ankara wären die Gegner des Assad-Regimes nicht so plötzlich in die Offensive gegangen und zudem erfolgreich gewesen. Auf diese Weise wächst der Einfluss des türkischen Präsidenten, der Israel alles andere als freundlich gegenüber eingestellt ist, beim Mitgestalten einer Neuordnung Syriens. Auch das kann für Jerusalem eine Herausforderung bedeuten.