Anmerkungen zu einem neuen Buch des Journalisten und Schriftstellers Marko Martin über das Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 und seinen Folgen für Juden, Israelis, Deutsche und unseren Planeten.
Von Martin Jander
Marko Martins neues Buch „Und es geschieht jetzt“ war überfällig. Es füllt eine Lücke. Bislang gibt es nur wenige ostdeutsche Stimmen, die so klar ihre Solidarität mit dem vom Iran und der „Achse des Widerstands“ angegriffenen Israel artikulieren. Bislang waren solche entschiedenen Stellungnahmen von Akteuren der fünf neuen Bundesländer vorwiegend aus ostdeutschen jüdischen Gemeinden, der Amadeu Antonio Stiftung, der christlichen Aktion Sühnezeichen und ab und an auch von Wolf Biermann zu hören. Aus der linken, pazifistischen Opposition der 70er und 80er Jahre gegen die DDR, war kaum etwas zu vernehmen. Marko Martin holt das nach.[1] In dem Ende September 2024 veröffentlichten Buch „Und es geschieht jetzt. Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober“ berichtet der seit dem Fall der Mauer beständig durch die Welt reisende Autor von seinen Begegnungen und Gesprächen mit Freunden, Bekannten und Autoren in Israel und Berlin.
Auf den ersten Blick ist das Buch völlig strukturlos. Ein Vorwort zur Erläuterung zentraler Ideen fehlt. Eine Dokumentation, eine Chronik oder ein Film sei sein Buch, wie Marko Martin mehrfach betont, nicht. Aber die Stimmen, die er in den mit „Eins“, „Zwei“ und „Drei“ überschriebenen Kapiteln zitiert, sind keine Erfindungen. Die Schriftstellerin Ady Kaslasy-Way[2] etwa und alle anderen Menschen, die zu Wort kommen, sind im wirklichen Leben Freunde und Bekannte Martins.
Im Zentrum des Buches stehen Trauer, Verzweiflung und Schmerz dieser jüdischen Freunde und Bekannten Marko Martins über das größte Massaker an Juden seit der Shoa. Es gibt seither auf unserem Planeten keinen sicheren Ort mehr für Juden. Israel wurde von vielen Juden seit seiner Gründung eben als ein solcher sicherer Ort angesehen. Man ringt um Worte. Der Leser wird bei der Lektüre in dieses Ringen hineingerissen.
Gerungen wird in dem Buch aber nicht nur um Sprache, sondern auch um einen Raum für die Erinnerung an die ermordeten und verschleppten Menschen. Ein solcher Raum existiert nicht nur in den Gesprächen, sondern auch als „Platz der Geiseln“ vor dem Museum of Art in Tel Aviv.
Martin ist von den humanistischen Motiven der israelischen Zivilgesellschaft begeistert. Der „Platz der Geiseln“ ist einer der zentralen Orte in Israel, an dem der Versuch gemacht wird, der israelischen Regierung zu erklären, dass die Rückkehr der Geiseln ihr wichtigstes Ziel in der Verteidigung gegen die Vernichtungsabsichten von Hamas, Hisbollah und den anderen Mitgliedern der vom Iran koordinierten „Achse des Widerstands“ sein müsse.
Das Buch handelt auch davon, dass es in der Bundesrepublik gegenwärtig leider wieder viele gute Gründe für Juden gibt, unsichtbar zu bleiben. Die Anzahl antisemitischer Straftaten ist nach dem Massaker der Hamas sprunghaft gestiegen.
Das Buch handelt nicht zuletzt davon, dass Juden in Israel aber auch in der Bundesrepublik und überall auf der Welt erfahren, dass ihre Schmerzen, ihre existenzielle Bedrohung nicht interessieren, nicht wahrgenommen werden.
Leider verpasst der Autor eine ausführliche Darstellung des Austritts jüdischer Autoren aus dem PEN-Berlin. Die Nicht-Wahrnehmung der Lage Israels und der Juden überall in der Welt durch die Schriftstellerorganisation war sein Hauptgegenstand.[3]
In formaler Hinsicht erinnert mich Marko Martins Text an ein Buch, das die Holocaustüberlebende und Zeitungsreporterin Inge Deutschkron über die große Liebe ihres Lebens, den jüdischen Kommunisten Leo Hauser verfasste: „Das verlorene Glück des Leo H.“[4] Die in ihrem Text aufgerufenen Stimmen sind sowohl die Menschen, die sie sind. Darüber hinaus konstruierte Inge Deutschkron aber, durch ihre Zusammenstellung und Anordnung der Stimmen ein Bild der Lage der Juden vor, während und nach der Shoa. Leo Hauser wurde aus KZ-Haft befreit. Sein Leben aber war, wie das Leben der meisten Überlebenden, zerstört. Inge Deutschkron verstand ihr 2001 veröffentlichtes Buch als „dokumentarischen Roman“.
Ganz wie Inge Deutschkron zitiert Marko Martin in seinem dokumentarischen Roman nicht nur Stimmen seiner jüdischen und israelischen Freunde, er führt die Leser durch die Zusammenstellung der Stimmen und ihre Anordnung in die Geschichte des Massakers der Hamas und seiner israelischen, internationalen wie deutschen Kontexte ein. Wie der Autor bei der Buchvorstellung am 7. Oktober 2024 in der Urania Berlin formuliert, „umkreise“ er das davor und das danach des Massakers der Hamas.
Die Unterschiede beider Bücher sind jedoch erheblich. In „Und es geschieht Jetzt“ schreibt kein jüdischer Holocaustüberlebender über jüdische Holocaustüberlebende. Die von Marko Martin erzählte Geschichte ist außerdem noch nicht zu Ende. Wir Leser des Buches, befinden uns noch mitten im Krieg. Ob der Iran und seine Bündnispartner weitere Angriffe zur Vernichtung Israels orchestrieren und die Welt damit in einen Weltkrieg stürzen, oder ob die westliche Staatengemeinschaft gemeinsam mit Israel durch kluges Handeln den Untergang der iranischen Autokratie einleiten kann, ist ungewiss. In welcher Weise nicht nur Israel, seine Feinde und Freunde, sondern auch alle Leser des Buches von Marko Martin agieren, wird den Ausgang dieser Geschichte mit beeinflussen.
Marko Martin, der mit 18 Jahren den Dienst in der Nationalen Volksarmee der DDR verweigerte und in die heute mit der DDR vereinigte Bundesrepublik ging, hat die intellektuellen und ethischen Leerstellen des Milieus der DDR-Friedensbewegung, die sich mit Israel und mit Antisemitismus so gut wie nicht befasste, hinter sich gelassen.
Eine Leerstelle bleibt aber. Marko Martin, der zu Recht entschiedene Worte zum gegenwärtig erneut sichtbar werdenden Antisemitismus vieler linker Akteure Westdeutschlands findet, kommt auf den Antisemitismus der untergegangenen DDR, der sich gegenwärtig zum Beispiel in den Demonstrationen von „Die Linke“ oder dem „Bündnis Sarah Wagenknecht“ zeigt, so gut wie nicht zu sprechen. Keine Waffen für Israel – und auch keine Waffen für die Ukraine – lautet deren nur scheinbar pazifistische Forderung. Israel, so wird ganz im Anschluss an die DDR-Propaganda gelogen, betreibe einen Genozid. Die solche Lügen verbreiten, wollen ein wehrloses Israel. Sie wollen Juden in der Bundesrepublik und in Israel der Vernichtung ausliefern und außerdem die lang und mühsam erkämpfte Erinnerungskultur der Bundesrepublik zerstören.
Nichts hat diese Absicht besser dokumentiert, als das Beschmieren des Denkmals in der Berliner Rosenstraße. Die Würdigung der Retterinnen von fast 1000 jüdischen Männern wurde mit der aufgesprühten Textzeile „Jews are committing Genocide“ verunstaltet.
Eine weitere Leerstelle bleibt. Die in Ostdeutschland aufgewachsene spätere Kanzlerin der Bundesrepublik Angela Merkel hat 2008 vor dem Parlament Israels erklärt: „Jede Bundesregierung und jeder Bundeskanzler vor mir waren der besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die Sicherheit Israels verpflichtet. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“[5] Angela Merkel war es auch, die mit dieser Rede damit begann, regelmäßige Treffen der Regierungskabinette der Bundesregierung und Israels einzuführen.
Marko Martin erwähnt diese Erweiterung des Selbstverständnisses der vereinigten Bundesrepublik in seinem Buch nicht. Er erwähnt auch nicht, dass die „Ampel“ ein Treffen mit der israelischen Regierung nach dem Massaker der Hamas noch nicht zustande gebracht hat.
Martin bewundert den Humanismus der israelischen Zivilgesellschaft, die keines der Opfer der Hamas vergisst und ihre Regierung dazu drängt, der Rückkehr aller noch lebenden Geiseln den Vorrang vor allen anderen Überlegungen zu geben. Er verweist auf die jüdische Tradition der Sozialethik, die Pflicht des Menschen Gottes Gesetzen zu folgen und die Welt zu heilen. Marko Martin übersetzt diesen Humanismus in die Sprache europäischen Philosophie mit „Solidarität der Erschütterten“. „Versuchen wir“, formuliert Martin, „via negativa“ als Kenner der Moral, nicht als Moralapostel, uns der Erfahrung unserer doch sehr eigenartigen Menschlichkeit zu nähern.“[6]
Das ist, aus meiner Sicht, noch keine gute Übersetzung. Die von Angela Merkel bereits vorausgesehene „Stunde der Bewährung“ ist mit dem 7. Oktober 2023 für die Bundesrepublik ohne Zweifel gekommen. Unsere Republik wird, anders als Israel, keineswegs existenziell von islamistischen Terroristen mit ihrer Vernichtung bedroht. Aber das Massaker der Hamas stellt uns vor die Frage, ob unsere Beteuerungen von der „historischen Verantwortung“ ernst gemeint sind, oder nur „leere Worte“ bleiben.
Der Krieg des Iran und seiner „Achse des Widerstandes“ zur Vernichtung Israels stellt uns Kinder und Enkel der deutschen Nazis und unsere politischen Repräsentanten vor die Frage, ob wir bereit sind uns für unsere jüdischen Freunde einzusetzen und wie weit wir damit, militärisch, wirtschaftlich, politisch, intellektuell und menschlich gehen. Unseren jüdischen und israelischen Freunden genau zuhören, ihre Tränen und ihre Schmerzen zu teilen, wie Marko Martin das in diesem Buch tut, kann nur ein Anfang sein.[7]
Marko Martin, Und es geschieht jetzt: Jüdisches Leben nach dem 7. Oktober, Tropen Verlag 2024, 234 S., 22.- Euro, Bestellen?
[1] Das neue Buch ist bereits das dritte Buch Marko Martins über Israel. Die beiden anderen sind: Marko Martin, Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt, Hannover 2012. Marko Martin, Tel Aviv: Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt, Wiesbaden 2016.
[2] Siehe zum Beispiel das Interview der „Jüdischen Allgemeinen“ mit Adi Kaslasy-Way vom 11. Oktober 2023: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/die-weizenfelder-von-sderot-bedeuteten-freiheit/.
[3] Sie dazu den ausführlichen Artikel in der „tageszeitung“: Julia Hubernagel, Keine Frage der Balance, in: die tageszeitung vom 13.12.2024 (https://taz.de/Streit-um-Israel-im-PEN-Berlin/!5976312/).
[4] Inge Deutschkron, Das verlorene Glück des Leo H., Büchergilde Gutenberg 2001, ISBN 978-3763251056, 222 Seiten. Nur noch antiquarisch erhältlich.
[5] Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel vor der Knesset am 18. März 2008 in Jerusalem (https://www.bundesregierung.de/breg-de/service/newsletter-und-abos/bulletin/rede-von-bundeskanzlerin-dr-angela-merkel-796170).
[6] Zitiert nach: Marko Martin, Und es geschieht Jetzt, Berlin 2024, S. 133/134.
[7] Siehe: »Stilles Embargo«- Israelischer Armeesprecher: Deutschland lässt uns im Stich, in: Jüdische Allgemeine vom 11. Oktober 2024 (https://www.juedische-allgemeine.de/israel/israelischer-armeesprecher-deutschland-laesst-uns-im-stich/).