Adam Kirsch untersucht die theoretischen Annahmen und Moralvorstellungen der ‚Settler Colonial Studies‘
Von Ingo Elbe
Der amerikanische Literaturkritiker und Schriftsteller Adam Kirsch hat einen treffenden Essay über eine der aktuell womöglich angesagtesten akademischen Modeerscheinungen namens Settler Colonial Studies (SCS) verfasst. Kirsch zeigt, dass diese „Studien“, die man als Teilbereich des postkolonialen Diskurses begreifen kann, keineswegs mit geschichtswissenschaftlicher Forschung über den Kolonialismus gleichzusetzen sind. Es handle sich vielmehr um eine Form des akademisch situierten Aktivismus, der „in erster Linie daran interessiert ist, eine Erzählung über die Vergangenheit zu nutzen, um die Gegenwart zu verändern“. Eine solche Instrumentalisierung historischer Forschung für politische Zwecke zeitige eine ganze Reihe fragwürdiger theoretischer wie praktischer Konsequenzen:
So werde in den SCS ein doppelter Standard hinsichtlich der Darstellung von Massengewalt gepflegt, der in Form eines negativen Eurozentrismus die Kriege, Massenmorde und Kolonialregime indigener oder nichtwestlicher Akteure weitgehend ausspare, verharmlose oder gar rechtfertige, während der Westen und Israel als Inbegriff des kolonialen Unrechts erschienen, das zudem zur Ursünde aller Übel der Gegenwart stilisiert werde. Die damit einhergehende Romantisierung indigener Vergangenheiten wird von Kirsch ebenso an konkreten Fallbeispielen nachgewiesen, wie der in den SCS verwendete Indigenitätsbegriff einer kritischen Betrachtung unterzogen wird. Dieser stehe nicht nur für die banale Tatsache, dass eine Gruppe von Menschen chronologisch vor einer anderen auf einem Territorium lebte. Vielmehr erhalte „Indigenität“ eine „Bedeutung jenseits der Chronologie“ – sie stehe für ‚Spiritualität‘, „Authentizität, Selbstlosigkeit und Weisheit“ sowie für eine irrational konzipierte Verwurzelung in der Natur, speziell im Boden.
Diese tellurische Gemeinschaftsauffassung werde zum einen in okzidentalistischer Manier dem materialistischen, wurzellosen, gemeinschaftszersetzenden und unersättlichen Westen gegenübergestellt (womit einige Motive antisemitischen Denkens reproduziert werden), sie führe zum anderen auch zu einem epistemischen Ethnorelativismus (wie der südafrikanische Philosoph George Hull diese Haltung einmal nannte), der seine Quellen im Radikalkonservatismus des 18. und 19. Jahrhunderts habe: „Die Idee, dass unterschiedliche Völker inkommensurable Wege des Seins und Wissens haben, die in ihrer Beziehung zu einer partikularen Landschaft verwurzelt sind, kommt aus dem deutschen romantischen Nationalismus“, schreibt Kirsch. Ähnliche Ausprägungen dieser ‚herderianischen Linken‘, wie dieser tribalistisch-völkische Relativismus im progressiven Gewand schon genannt wurde, kann man auch bei dekolonialen Theoretikern wie Ramon Grosfoguel oder Walter Mignolo mit ihrem Konzept einer „Geopolitik des Wissens“ finden – Kirsch lässt diesen Strang der Dekolonialen allerdings weitgehend unbeachtet. Mit der Essentialisierung des Indigenitätsbegriffs aufs Engste verbunden sei schließlich die Inflationierung des Genozidbegriffs, die Patrick Wolfe, eine führende Figur der SCS, zum Unbegriff des „strukturellen Genozids“ verleite, der buchstäblich jede Form der Interaktion von Siedlern und ihren Nachfahren mit den Indigenen als Genozid begreife, auch die Gewährung von Staatsbürgerschaft, Mischehen oder kulturelle Assimilation.
Doch nicht nur das Zurechtmachen der Vergangenheit zu moralischen Zwecken sei das Problem, sondern das mit bestimmten theoretischen Axiomen verknüpfte leitende normative Prinzip der SCS selbst: Der mit dem Indigenitätsfetisch einhergehende Verlust einer universalistischen und mit relativ klaren gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen (wie liberaler Kapitalismus oder sozialistische Planwirtschaft) versehenen Zukunftsorientierung führe die SCS zu einer gefährlichen und mit extremem Rigorismus betriebenen Vergangenheitsfixierung: „Wenn die Definition einer progressiven Bewegung lautet, dass sie glaubt, die Zukunft könne besser sein als die Vergangenheit, dann ist die Ideologie des Siedlerkolonialismus [also der SCS, I.E.] nicht progressiv, weil sie glaubt, dass die Vergangenheit besser war […].“ Die Suche nach einem ‚gerechten Frieden‘, wie beispielsweise die Lieblingsfloskel des palästinensischen Revanchismus und seiner westlichen Helfershelfer bezüglich des arabisch-israelischen Konflikts lautet, transportiere hier die Idee der vollständigen Rückgängigmachung eines (realen oder vermeintlichen) kolonialen Unrechts durch Vernichtung der jeweiligen Gesellschaft, die aus diesem Unrecht hervorgegangen sei und damit als auf ewig koloniales Siedlergebilde beschrieben werde („Invasion“, wird Patrick Wolfe zitiert, sei „eine Struktur, kein Ereignis“). Da auch die Nachfahren der einstigen (realen oder vermeintlichen) Siedlerkolonialisten pejorativ als Siedler beschrieben werden und die Idee der unverlierbaren Indigenität des Bodens – seiner ewigen Verknüpfung mit einer ursprünglichen Gemeinschaft – axiomatisch gesetzt sei, laufe Dekolonisierung entweder auf individuelle und institutionelle quasireligiöse Bußrituale hinaus, in der sich Weiße ihrer unverlierbaren Schuld vergewisserten, oder auf ein geradezu apokalyptisches Programm des Kampfes gegen das im Siedler inkarnierte koloniale Böse in Gestalt der Massenvertreibung von und des Massenmords an diesen (realen oder vermeintlichen) Siedlern.
Hier sieht Kirsch die theoretischen Quellen der ‚progressiven‘ Rechtfertigung des Hamas-Massakers an israelischen Zivilisten vom 7. Oktober 2023. Es ist kein Zufall, dass eine nach dem Hamas-Pogrom von Linken zu diesem Zweck verwendete Parole – „Decolonization is not a metaphor“ – zugleich der Titel eines programmatischen Aufsatzes der dekolonialen Theoretikeraktivisten Eve Tuck und Wayne Yang ist. Hier präsentieren die Autoren das Bild einer nichtmetaphorischen Dekolonisierung als „Re-Invasion“ „indigenen Landes“ durch die einst Kolonisierten, wobei diese Re-Invasion in der Aneignung des Landes bestehe und Verarmung und Vertreibung (oder gar Schlimmeres) von „Siedlern“ in Kauf nehme. Das manichäische und völkisch-essentialistische Weltbild solcher Akteure führt schließlich auch zu einer Leugnung der moralischen Einheit der Menschengattung – für Tuck und Yang beispielsweise folgt die nichtmetaphorische Dekolonisierung einer „Ethik der Inkommensurabilität“, die sich nicht darum kümmere, welche Folgen die Re-Invasion des kolonisierten Landes für die Siedler haben werde. Dekolonisierung sei ausschließlich „indigener Souveränität und Zukunft“ rechenschaftspflichtig und gebe die Hoffnung auf, „dass Siedler eines Tages mit Indigenen kommensurabel“ sein könnten. Demnach sind Kolonisierte und Siedler nicht mit gleichen moralischen Maßstäben zu messen und gegen das koloniale Unrecht wird jede Praxis legitim. Diese hier von mir ausführlicher als in Kirschs Abhandlung dargestellte Konzeption dekolonialer Moral wird in „On Settler Colonialism“ gleichwohl pointiert herausgearbeitet und damit gezeigt, welches apokalyptisch – manichäische Mindset junge Menschen heutzutage von bestimmten Aktivistenakademikern vermittelt bekommen. Kein Zufall also, meint Kirsch, dass in einer Umfrage unter 18 bis 24-Jährigen in den USA die Hälfte Pro-Hamas-Haltungen aufweisen.
Im letzten Drittel des Buches widmet sich Kirsch schließlich der Anwendung dieser gewaltaffinen antiwestlichen Erlösungsideologie der SCS auf den arabisch-israelischen Konflikt. Hier wird die Frage behandelt, ob der Siedlerkolonialismus-Vorwurf gegenüber Israel berechtigt ist (was Kirsch verneint) und welche Rolle der zum reinen Opfer stilisierte und zum ‚Indigenen‘ mit einer „ortsgebundenen Existenz“ sowie einem „ontologischen Verhältnis“ (Lorenzo Veracini) zum Boden verkitschte Palästinenser in der SCS-Ideologie spielt. Israel, so Kirsch, gebe in den SCS-Vorstellungen dem abstrakten Bösen der „Invasion als Struktur“ ein konkretes Gesicht und sei ein Staat, dessen Vernichtung, anders als im Fall der USA oder Australiens, „eine realistische Möglichkeit“ sei, eine Möglichkeit, die mit erlösungsantizionistischen Vorstellungen eines Menschheits-Endkampfs zwischen Gut (Palästina) und Böse (Israel) aufgeladen werde.
Vieles wird in diesem kurzen Essay nur angerissen und damit auch gewisse Komplexitäten der SCS und insbesondere des arabisch-zionistischen Konflikts unbeachtet gelassen. Das große Verdienst der Abhandlung von Kirsch ist es aber, pointiert die fatale Melange aus Aktivismus, Akademie und Erlösungsreligion herausgearbeitet zu haben, die eine akute Gefahr für Juden und Israel, aber auch für westliche Demokratien überhaupt darstellt.
Adam Kirsch, On Settler Colonialism. Ideology, Violence, and Justice. New York 2024, 142 Seiten.
Das Buch wird in Kürze in deutscher Übersetzung im Verlag Edition Tiamat (Berlin) erscheinen.