Palästina 1936

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Der amerikanische Politologe und Journalist Oren Kessler beschreibt in seinem Buch detailliert Protagonisten, Verlauf und Konsequenzen des sogenannten „arabischen Aufstands“ im palästinensischen Mandatsgebiet der Jahre 1936-39. Er hält die Ereignisse dieser Jahre für eine bis heute fortwirkende, entscheidende Weichenstellung im arabisch-zionistischen Konflikt.

Von Ingo Elbe

Der arabische Nationalismus: Niederlage im Sieg

Der Aufstand sei einerseits ein „Schmelztiegel“ des palästinensisch-arabischen Nationalismus, andererseits der Höhepunkt innerarabischer Konflikte gewesen – immerhin sollen etwa ein Viertel der weit mehr als 5000 arabischen Opfer des Aufstands von Arabern selbst getötet worden sein. Insbesondere die nahezu völlige Eliminierung einer dem Zionismus gegenüber pragmatisch eingestellten arabischen Opposition innerhalb des palästinensischen Mandatsgebiets durch den Terror des islamistischen Antisemiten Mohammed Amin al-Husseini, des Muftis von Jerusalem, wird thematisiert. Der Aufstand habe, so Kessler, desaströse Folgen für die palästinensisch-arabische Gesellschaft gehabt: Etwa 40000 Menschen seien geflohen, die arabische Wirtschaft sei durch die Boykottierung des jüdischen Sektors, durch Generalstreik, Kriegsabgaben und Flucht einheimischer Eliten ruiniert worden, die arabischen Clans hätten sich schließlich in tödlich verfeindete Lager gespalten. Diese enorm wichtigen Entwicklungen erhalten im Buch leider einen viel zu geringen Raum (Hillel Cohens Abhandlung Army of Shadows, die von Kessler auch angeführt wird, ist hier einschlägiger).

Der Preis für den einzigen Erfolg des Aufstands aus arabischer Sicht – der Abkehr des Empire von der Idee eines jüdischen Staates – sei das „brutal[e] und irreparab[le]“ Zerreißen des „politischen, sozialen, militärischen und wirtschaftlichen Gefüges des arabischen Palästina“ gewesen, resümiert Kessler. Kein Wunder also, meint er, dass der „Arabische Aufstand“ in der palästinensischen kollektiven Erinnerung „marginalisiert, sogar verschwiegen“ worden sei, habe man es hier doch mit einer weitgehend selbst verschuldeten Nakba vor der Nakba zu tun (allerdings war auch die Nakba von 1948 eine „selbstverschuldete Katastrophe“, wie Efraim Karsh zu Recht feststellt).

Die Verkündung des britischen Peel-Teilungsplans für das Mandatsgebiet im Juli 1937 als Reaktion auf die erste Phase des Aufstands sei ein zweiter zentraler Aspekt der Ereignisse, der die UN-Teilungsresolution vom 29.11.1947 in gewisser Hinsicht vorweggenommen habe. Drittens sei es al-Husseini 1937 gelungen, den Konflikt zu regionalisieren, indem die umliegenden arabischen Mächte diplomatisch einbezogen worden seien. Zugleich habe er es auf dem Kongress von Bludan im September 1937 geschafft, eine antijüdisch-islamistische Ausrichtung durchzusetzen.

Viertens sei ausgerechnet 1939, in einer Zeit radikalisierter Verfolgung der Juden in Europa, die faktische Schließung der Tore Palästinas für nennenswerte jüdische Immigration durch den Appeasement-Kurs Neville Chamberlains und durch Malcolm MacDonalds White Paper vollzogen worden. Der arabische Terror und die strategische Priorisierung der muslimischen Welt durch das Empire, die schon im Dezember 1937 zur internen Verwerfung des erst kurz zuvor beschlossenen Teilungsplans geführt hatten, leiteten das definitive Ende der britischen Unterstützung für die Realisierung eines jüdischen Staates ein. Detailliert rekonstruiert Kessler hier die Argumentationen und Vorstellungen der entscheidenden Akteure auf Konferenzen, in privaten Korrespondenzen oder Tagebucheinträgen.

Insbesondere die Naivität des Appeasement-Gedankens des britischen Premiers gegenüber dem Nationalsozialismus und den intransigenten arabischen Extremisten (die in der palästinensischen Nationalbewegung die führende Fraktion stellten) löst beim Leser eine gewisse Erschütterung aus: Man gebe den europäischen Faschisten und arabischen Radikalnationalisten, was sie wollen, und Friede wird einkehren, so der Gedanke Chamberlains und seines Stabes. Man erkennt hier unschwer Muster heutiger Argumente für die Selbstauslieferung des Westens an seine schlimmsten Feinde im Namen des „Friedens“ und die aktuell weitgehende Gleichgültigkeit gegenüber den existentiellen Nöten des Judentums wieder.  Nicht weniger déjà-vu-verdächtig ist der von Kessler skizzierte Kurs des Empire, mitten im größten arabischen Gewaltausbruch gegen den Jischuw (dem bereits 1920, 1921 und 1929 antijüdische Pogrome vorausgegangen waren) die Juden abzustrafen und den radikalen arabischen Kräften entgegenzukommen. Eindrucksvoll beschreibt Kessler auch die Begeisterung, die Musa Alami, George Antonius und Hussein Khalidi Anfang 1939 als Mitgliedern der arabischen Delegation einer Konferenz entgegenschlug, die den Kurswechsel der Briten gegenüber dem Zionismus legitimieren sollte. Sogar das politische Symbol des Terrors des Muftis, die Kufiya, sei als Modeaccessoire in der Londoner Schickeria getragen worden.

Der Zionismus: Sieg in der Niederlage

Die – höchst ambivalente – Unterstützung des Empire für zionistische Bestrebungen bis zum Jahr 1938 zeige sich vor allem in der Bewaffnung jüdischer Einheiten durch die britische Mandatsmacht als polizeiliche Unterstützung gegen den Terror der al-Husseini-Schergen. Damit hätten die Briten weitgehend unbeabsichtigt die Ausbildung von Haganah-Einheiten vorangetrieben – als Ausnahme wird der christliche Zionist Orde Wingate beschrieben, der diese Ausbildung mit dem erklärten Ziel der Bildung einer „army of Zion“ betrieben habe. In ausführlichen, teils biographischen Skizzen schildert Kessler die allmähliche Desillusionierung Ben-Gurions hinsichtlich der Frage arabischer Anerkennung des Zionismus aufgrund wirtschaftlicher Vorteile, die dieser mit sich brachte. Selbst als gemäßigt geltende Vertreter eines arabischen Nationalismus wie George Antonius oder Musa Alami hätten die Idee eines jüdischen Staates prinzipiell abgelehnt und auf die charismatischen Führungsqualitäten Amin al-Husseinis im Aufstand gesetzt. Die kurzzeitige Unterstützung des Peel-Teilungsplans durch arabische Vertreter im Juli 1937 sei durch den Terror des Muftis schnell im Keim erstickt worden. Der Geburt des jüdischen Gegenterrorismus in Gestalt der Irgun (IZL) und dessen den Konflikt radikalisierenden Konsequenzen wird in Kesslers Darstellung viel Raum gegeben. Letztlich sei der Jischuw siegreich aus dem arabischen Aufstand hervorgegangen: Ausweitung der Siedlungen trotz arabischen Terrors, Aufbau demokratischer parastaatlicher Organisationen, ein kleines, aber gut ausgebildetes Militär, ein effektiver jüdischer Wirtschaftssektor, hohe politische Motivation und – ungeachtet zum Teil erheblicher Konflikte zwischen IZL und Haganah – ein hoher Grad an Einheit und politischer Motivation habe an dessen Ende gestanden.

Kessler schildert die Akteure, ihre Biographien, Positionen und Handlungen im Rahmen des Aufstands mit großer Akribie, was bisweilen zur Ausblendung weiterer Kontexte führt. So wird Ben-Gurions positive Aufnahme des im Peel-Plan angedachten, nötigenfalls zwangsweisen Bevölkerungstransfers aus seinen privaten Korrespondenzen und Schriften zitiert, ohne zu erwähnen, dass die Idee eines Bevölkerungstransfers nie zur politischen Linie des Mehrheitszionismus unter seiner Führung wurde. Der Leser wird mit den Schlussfolgerungen, die aus dem Material zu ziehen sind, mehr oder weniger alleingelassen, was in Zeiten der Überführung historiographischer Darstellungen in schrille aktivistische Propaganda aber auch durchaus von Vorteil sein kann. Allerdings informiert uns Kessler in seinem Schlusskapitel, in dem er zum Beispiel die zweite Intifada als teilweise Wiederholung der Ereignisse von 1936ff. präsentiert, ebenfalls nicht über die genauen Gründe der palästinensischen Seite für die Ablehnung der weitreichenden israelischen Friedensangebote im Jahr 2000. Dabei wären auch hier starke Kontinuitäten zu früheren Positionen radikaler arabischer Nationalisten zu finden gewesen.

Insgesamt ist Kesslers Buch zu empfehlen, weil es mit den politischen Entscheidungsprozessen und Konflikten im Kontext des arabischen „Aufstands“ vertraut macht und darlegt, wie sich die radikale antizionistische Haltung bei den relevanten arabischen Akteuren durchsetzen konnte – womöglich sogar um den Preis des eigenen Untergangs.

Oren Kessler, Palestine 1936. The Great Revolt and the Roots of the Middle East Conflict. London/New York 2023, Bestellen?