Widerständlerin, Aktivistin, Kommunistin

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Eine Erinnerung an die in Berlin-Plötzensee hingerichtete Ruth Oesterreich

Von Roland Kaufhold

Die 1894 in Dresden geborene Ruth Oesterreich ist nur einem kleinen Kreis politisch Interessierter bekannt. Sie wurde am 25.6.1943 nach einer über zweijährigen Gefängnishaft in Berlin-Plötzensee als Widerständlerin hingerichtet. Birgit Schmidt hat sich 2009 auf die Spurensuche zu dieser „vergessenen Sozialistin“ gemacht, wie es im Untertitel ihres lesenswerten, schmalen Büchleins „Wer war Ruth Oesterreich?“ heißt.  

Die Spurensuche erwies sich anfangs als schwierig, doch dann entdeckte die Autorin eine familiäre Verwandte: Ruth Oesterreich war am 21.4.1941 wegen ihrer Widerstandsaktionen gemeinsam mit ihrer Tochter von der Gestapo in Brüssel – wohin sie geflüchtet war – verhaftet worden. Ihre Tochter, die gleichfalls Ruth hieß, wurde im Februar 1942 freigelassen. Ihre Mutter hingegen wurde nach Karlsruhe, dann nach Berlin in die Haftanstalt Tegel verbracht, im März 1943 wegen „Hochverrats“ angeklagt, verurteilt und dann drei Monate später hingerichtet.

Ihre Tochter bekam im April 1944 in Brüssel ein Kind. Die Autorin nahm Kontakt zur Enkelin auf und diese überließ ihr zahlreiche Unterlagen, darunter auch einige im Buch veröffentlichte Fotos (S. 82-88). Weiterhin gelang es ihr, Kontakt zu Lore Reich aufzunehmen, der jüngeren, 1928 geborenen Tochter der Psychoanalytiker Annie und Wilhelm Reich. Lore Reich (vgl. Reich Rubin 2019, Kaufhold & Hristeva 2020, Hristeva & Kaufhold 2023) lebt 95-jährig in New York (Unmittelbar nach Abschluss dieser Besprechung, am 24.2.2024, ist Lore Reich in Seattle verstorben (Kaufhold 2024a)). Dieser Kontakt war für eine Aufarbeitung von Ruth Oesterreich insofern bedeutsam, da Oesterreich mit dem sagenumwobenen Widerständler und langjährigem Kominternmitarbeiter Arthur Rubinstein (vgl. Kaufhold 2024) – „Lenins Mann in Westeuropa“ (S. 17) verheiratet war. Mitte der 1930er Jahre, als sie wie auch Annie Reich im Prager Exil lebten und dort im Umfeld der Widerstandsgruppe Neu Beginnen (vgl. Kessler 2015) aktiv waren, trennte sich das Paar, und Rubinstein heiratete 1938 Annie Reich. Arnold Rubinstein (von dem nur ein einziges, im Buch veröffentlichtes Foto existiert (S. 86)) und die Reichs waren wiederum entscheidend an der Befreiung der Berliner Psychoanalytikerin und Widerständlerin (gleichfalls bei der Untergrundgruppe Neu Beginnen) Edith Jacobson aus dem Gefängnis Berlin-Tegel beteiligt. Dort, in der Haftanstalt, hatte Edith Jacobson Gefängnisaufzeichnungen angefertigt. Diese wiederum hat die  Sozialwissenschaftlerin Judith Kessler 2015 als Buch herausgegeben (Kessler 2015, Kessler & Kaufhold 2015). Ein verwirrendes Geflecht, bei dem Rubinstein offenkundig eine zentrale Rolle zukam (Kaufhold 2023, 2024).

Ein größerer Teil des Buches beinhaltet den Versuch, die Biografie des Untergrundaktivisten Arnold Rubinsteins, mit dem Ruth Oesterreich verbunden war – Rubinstein wohnte länger, inoffiziell, in ihrer Wohnung – zu rekonstruieren.

Die am 6.6.1894 geborene Ruth Oesterreich orientierte sich früh politisch in kommunistischen Kontexten. Sie arbeitete bei der „Dresdner Volkszeitung“, dann als Sekretärin im Westeuropäischen Büro des Komintern.

1928 wurde sie Mitglied der KPD, dann folgten interne Kämpfe und stalinistisch anmutende Ausschlüsse. Sie wurde 1929 Mitglied der KPD-O, dann wechselte sie zur SAPD. Der Verfolgungsdruck nahm zu. Bereits 1933 musste sie mit ihrer kleinen Tochter nach Prag fliehen, was im Kapitel „Kampf ums Überleben, Komiteearbeit“ (S. 30-36) aufgearbeitet wird. In Prag war sie auch, gemeinsam mit Rubinstein, bei der Geheimorganisation Neu Beginnen engagiert (S. 36-41).

In einem weiteren Kapitel wird die tragische Beziehung zwischen Kreszentia („Zensl“) Mühsam, Ehefrau des 1934 im KZ Sachsenhausen ermordeten Anarchisten Erich Mühsam, sowie Ruth Oesterreich im Prager Exil nachgezeichnet. Sie arbeitete, ökonomisch fortgesetzt unter schwierigsten Verhältnissen lebend, pädagogisch mit Flüchtlingskindern, was im Buch beschrieben wird, blieb hilfsbereit und solidarisch. Und sie setzte ihr antifaschistisches Engagement fort. Sie versuchte Kämpfer im spanischen Bürgerkrieg mit Waffen zu unterstützen. All dies wird von Birgit Schmidt in knapper, sorgfältig recherchierter Weise nachgezeichnet.

1938 floh Ruth Oesterreich weiter nach Paris. Die Autorin zeichnet knapp die wichtigsten Widerständler nach, mit denen Ruth Oesterreich verbunden war, darunter Walter Hammer. Im Zentrum ihrer Recherche steht jedoch das legendenumwobene antifaschistische Wirken von Arnold Rubinstein, der als ausgebildeter Widerständler insgesamt unter zumindest sechs verschiedenen Identitäten lebte und agierte: Allein Rubinsteins verschiedene Untergrund-Namen zu nennen sei problematisch, „denn er trat als Jakob Reich alias Jakob Reichenberg alias James Reich alias James Gordon alias James Thomas in Erscheinung.“ (S. 17) Diese Tarnnamen führte er als wichtigster Untergrundaktivist des Komintern, dem Lenin vertraute, fort. Zusätzlich verfügte er seit spätestens 1929, vermutlich aber schon früher, über eine „bürgerliche Tarnexistenz und polizeiliche Anmeldung unter dem Namen Arnold Rubinstein.“ (ebd., S. 17) (vgl. Kaufhold 2024)

Den Abschluss dieser kleinen biografischen Rekonstruktion zu Ruth Oesterreich bildet eine Beschreibung der zwei Haftjahren sowie ihrer Hinrichtung als Widerstandskämpferin. Ihr letzter Brief an ihre Tochter, unmittelbar vor ihrer Hinrichtung verfasst, ist im Buch veröffentlicht.

Birgit Schmidt (2011): Wer war Ruth Oesterreich? Widerständige Frauen, Bd. 13, Verlag Edition EV, 88 S., 11,80 Euro, Bestellen?

Literatur

Hristeva, G. & R. Kaufhold (2023): Memories of a chaotic world. Growing up as the daughter of Annie Reich and Wilhelm Reich, International Forum of Psychoanalysis, 32 (2), 125–130.
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2020): „Erinnerungen an eine chaotische Welt“. Die Lebenserinnerungen von Lore Reich Rubin, Wilhelm und Annie Reichs Tochter, haGalil, 29.12.202: https://www.hagalil.com/2020/12/lore-reich-rubin.
Kaufhold, R. (2023): „Ich habe nie verstanden, wie man über seine eigenen Probleme schreiben kann“. Vor 45 Jahren starb die Berliner Psychoanalytikerin und Widerständlerin Edith Jacobson in New York, haGalil, 8.12.2023: https://www.hagalil.com/2023/12/edith-jacobson/
Kaufhold, R. (2024): Edith Jacobson als bedeutsame Pionierin in der Geschichte der Kinderanalyse, in: Kinderanalyse 1/2024, S. 40-58 https://elibrary.klett-cotta.de/article/10.21706/ka-32-1-40
Kaufhold, R. (2024a):„Nur Eigenständigkeit kann einen retten“. Zum Tode der Psychoanalytikerin Lore Reich Rubin (11.3.1928 – 24.2.2024), haGalil, 3.3.2024: https://www.hagalil.com/2024/03/lore-reich-rubin-2/
Kessler, J. (2015): Das schwarze Heft. Wie ich ein Vierteljahrhundert auf Edith Jacobsons Gefängnisaufzeichnungen saß. In Kessler & Kaufhold (Hg., 2015), S. 11-43.

Kessler, J. & R. Kaufhold (Hg., 2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Reich Rubin, L. (2019): Erinnerungen an eine chaotische Welt. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Schmidt, B. (2012): Belgieninfo: Auf den Spuren einer vergessenen Sozialistin: Ruth Oesterreich: https://belgieninfo.net/auf-den-spuren-einer-vergessenen-sozialistin/