„Nur Eigenständigkeit kann einen retten“

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Foto: A. Peglau

Zum Tode der Psychoanalytikerin Lore Reich Rubin (11.3.1928 – 24.2.2024)

Von Roland Kaufhold

Am 24. Februar ist die Psychoanalytikerin Lore Reich Rubin in Seattle verstorben. Sie wurde 95 Jahre alt, wie der amerikanische Psychoanalytiker Daniel Benveniste (vgl. Benveniste 2021) im Auftrag der Familie Lore Reichs mitteilte.

Lore Reich wurde am 11.3.1928 als Tochter von Annie und Wilhelm Reich in Wien geboren. Es waren stürmische, gefährliche Zeiten, geprägt von Armut und starken politischen Spannungen, in die auch ihre Eltern eingebunden waren.

Annie Reich, Eva und Lore (von links rechts) , von Wilhelm auf dem Balkon fotografiert (Foto: privat / Lore Reich-Rubin)

In ihrer Autobiografie (Reich Rubin 2019) hat Lore Reich ihr beeindruckendes Leben vor allem als eines in Widersprüchen beschrieben, geprägt von fragwürdigen Loyalitäten und heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihren Eltern, in der Endphase einer zerbrechenden Ehe. Es waren Jahre der Angst und der Bedrohung eines jüdischen Mädchens in den Zeiten des Nationalsozialismus. Gefährdungen prägten bereits ihre ersten Lebensjahren: „Diese Bedrohung war persönlich, später verschmolzen diese Bedrohungen mit dem großen Ganzen. Meine Eltern arbeiteten beide und sie verstanden sich nicht“, erinnerte sie sich (Reich Rubin 2019, S. 24).

Eine ihrer frühen Bezugspersonen war die Psychoanalytikerin Berta Bornstein, über die Lore Reich in ihrer Autobiografie (2019) sehr abwertende Urteile gefällt hat.

1930: Die Trennung ihrer Eltern – Wilhelm Reich der Rebell

1930 trennten sich ihre Eltern – die sie als „wichtigen Teil der intellektuellen und gesellschaftlichen Revolution“ erinnert: „Sie waren Psychoanalytiker, sie waren Intellektuelle, sie waren Marxisten“ (Reich Rubin 2019, S. 17): Annie Reich blieb in Wien. Der politische Aktivist und Widerständler Wilhelm Reich hingegen ging in das „brodelnde“, politisch bedeutsame Berlin. Lore vermisste ihn sehr. Dort setzte er seine publizistische wie auch seine sexualaufklärerische und widerständige Tätigkeit fort: Zuerst bei der KPD, nach seinem Rauswurf aus dieser wie auch nach seinem politisch bedingten Ausschluss aus den psychoanalytischen Standesorganisationen als freier, ungemein produktiver Publizist und Widerständler (Kaufhold & Hristeva 2021, Peglau 2013).

In ihrer posthumen Erinnerung an den Vater schwingt eine starke jugendliche Identifizierung mit dessen radikalem Nonkonformismus (vgl. Kaufhold 2020) durch: „Mein Vater war ein Rebell, sowohl als Kommunist als auch als Psychoanalytiker. Er war in Deutschland, um „Nazis zu besiegen“, und ein aktiver, aber, da er Autorität nicht gut akzeptieren konnte, kein guter Anhänger der kommunistischen Partei. Er hatte allerdings eine große Gefolgschaft in der Mentalhygienebewegung, die der kommunistischen Partei als Frontorganisation dienen sollte. Sie benutzten ihn wie er sie benutzte, bis sie beschlossen ihn rauszuwerfen.“ (ebd., S. 29f.) 

Lores Mutter Annie Reich

Auch ihre Mutter Annie Reich blieb, in den Zeiten der heranbrausenden Faschismus und der Notwendigkeit der Gegenwehr, als marxistisch orientierte, in Ausbildung befindliche Psychoanalytikerin politisch aktiv. Ihre Beziehung zu ihren eigenen beiden kleinen Kindern – Lores Schwester Eva war vier Jähre älter als Lore – standen hierdurch bedingt eher im Hintergrund, was Lore Reich in ihrer Autobiografie in eindrücklicher Weise beschreibt.  

Ihre lebenslange, früh geprägte Ambivalenz, aus der erinnerten Sicht eines zweijährigen Kleinkindes erinnert, goss Lore Reich 90 Jahre später in die Worte: „Ich verehrte meine Mutter, sie war wie ein Engel für mich, immer gütig und geduldig. Sie zeigte nie ihre Wut und hatte immer ein sanftes Wort auf den Lippen“ (Reich Rubin 2019, S. 14). Es gab jedoch noch eine zweite Seite: Neben der „enthusiastischen, sachkundigen, kultivierten Intellektuellen“ (ebd., S. 15), die sich für ihre psychoanalytische Ausbildung engagierte, erlebte sie ihre frisch geschiedene Mutter als depressiv und überfordert. Ihr habe es schlicht in diesen Zeiten schwerster Belastungen und Bedrohungen an Mütterlichkeit gefehlt.

Im Februar 1933, nach der „Machtergreifung“ der Nazis dann die endgültige Trennung ihrer Eltern: Annie floh ohne ihre Kinder – diese sollten später nachkommen – nach Prag, wo sie ihre psychoanalytische Ausbildung bei Frances Derry (Deri) fortsetzte und im Emigrantenmilieu verkehrte. Sie hatte diese Psychoanalyse bereits in Berlin bei Frances Derry begonnen, bis diese nach der Machtergreifung der Nazis 1933 nach Prag emigrierte. Annie folgte ihr.

Wilhelm Reich hingegen musste nach Dänemark, dann weiter nach Norwegen fliehen. 1938 emigrierte er weiter in die USA. In dieser dramatischen Situation im Sommer 1934 besuchten Lore und ihre Schwester ihren Vater Wilhelm in Dänemark. Dieser, wie auch ihr neuer Schwiegervater Rubinstein, reisten in diesen Jahren stets mit gefälschten Pässen.

1933: Eine ermutigende Begegnung mit der Psychoanalytikerin Edith Jacobson

Lore Reich und ihre Schwester wurden in Wien allein in einen Zug gesetzt, um zuerst nach Berlin zu reisen. Dort wurden sie von der linken, gleichfalls im antifaschistischen Widerstand engagierten Psychoanalytikerin Edith Jacobson am Wiener Bahnhof in Empfang genommen. Dieses kurze Treffen war so anrührend für die Sechsjährige, dass sie diese Szene noch 85 Jahre später in sehr persönlicher Weise in Worte fasste. Sie empfand Edith Jacobson als eine äußerst warmherzige Frau:

„Meine Schwester, damals zehn, und ich, sechs Jahre alt, wurden wieder einmal ganz alleine in einem Zug von Wien nach Berlin geschickt, wo wir von einer Freundin meiner Eltern, Edith Jacobson abgeholt wurden und eine Nacht in ihrer Wohnung verbrachten. Am nächsten Morgen nahmen wir den Zug nach Dänemark. Wir kamen ohne Zwischenfälle in Berlin an und uns fiel nur auf, dass die Butter im Speisewagen knapp war, sodass im Zug keine Butter serviert wurde. (…) Edith verwöhnte uns und der Besuch bei ihr war herrlich. Aber als wir weiterreisten, wurden wir daran erinnert, dass wir uns nun in Nazi-Deutschland befanden. In einem kleinen Bahnhof tauchte plötzlich eine Gruppe der Hitlerjugend in Uniform auf. Einer von ihnen zeigte auf den Zug und schrie: „Schau, ein Jude!“ – in einem fürchterlichen Tonfall, als würde die ganze Gruppe auf einmal diese Person angreifen. Glücklicherweise fuhr der Zug im selben Moment weiter. Dieses Ereignis war eine schmerzvolle Mahnung von dem, was in Deutschland vor sich ging, und dass wir vermutlich nicht durch Deutschland reisen sollten. Nun kann man sich fragen, wie ich das damals verstand. Ich kann nur sagen, dass ich als Sechsjährige  verstand, dass die Nazis die Juden verfolgten. Zuvor, in Berlin, hatte ich das noch nicht gewusst. Ich wusste, dass Nazis versuchten, die Arbeiterbewegung, die Sozialisten und die Kommunisten niederzuschlagen. Das machte auch Sinn, denn zuerst mussten die Nazis ihre politischen Gegner bekämpfen, um schlussendlich ihre eigene Agenda durchzusetzen.“ (ebd., S. 60)

Die Jugendliche Lore spürte in Wien die Feindseligkeiten, die Bedrohungen ihrer Eltern, vereinzelt aber auch als jüdische Jugendliche den Antisemitismus. Sie habe als Jugendliche in Wien „die Menschen nicht verstehen oder billigen können“, schreibt sie in ihrer Autobiografie, „die gehorchten oder kooperierten, die Juden, die freiwillig ihre Sachen packten und sich zur Deportation meldeten.“ (ebd., S. 24) Wenige Zeilen später notiert sie, im zeitlichen Abstand: „Wir wuchsen unter dieser Bedrohung auf, waren aber nie persönlich mit ihr konfrontiert.“ (ebd.)

Lore und Eva blieben anfangs, drei Jahre lang, in Wien bei ihren Großeltern. Sie wurden in einer kommunistischen Kinderkommune betreut, in der vor allem Kinder von Psychoanalytikern sowie auch der Enkel von Trotzki, Sieva, und der Sohn Sergei Eisensteins versorgt wurden: „Ich war alleine mit diesen Kindern und der erwachsenen Frau. (…) Drei Jahre lang blieb ich bei ihr und den Kindern“ (ebd., S. 49f.).

Für Lore, die sehr unter den Trennungsszenen ihrer Eltern gelitten hatte, war die Kinderkommune „wie eine Bestätigung der Erfahrungen, die ich schon in Wien machen musste: Man kann sich nicht auf seine Familie verlassen, da diese jederzeit verschwinden kann und man stets bereit sein muss verlassen zu werden. Nur Eigenständigkeit kann einen retten.“ (Reich Rubin 2019, S. 22)

Ein paar mal wurde sie in diesen drei Jahren von ihren Eltern – die ja faktisch auf der Flucht und als Juden und als in der Öffentlichkeit bekannte Linke bzw. als kämpferische Antifaschisten (Wilhelm Reich) konkret gefährdet waren – besucht. Ansonsten hatten sie nur telefonischen Kontakt mit ihnen.

Lore und Sieva – der von Stalins Agenten verfolgt wurde, wie das gesamte Umfeld Trotzkis – besuchten einen Montessori-Kindergarten. Auch dort erlebte sie, wie sie sich im Alter erinnerte, solche Verfolgungsversuche (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021; Hristeva und Kaufhold 2024).

Um 1936 vermochte Annie Reich ihre beiden Töchter nach Prag nachzuholen.

1938: Emigration in die USA – „Waren wir Juden? Waren wir Deutsche?“

1938 erhielt ihre Mutter Annie ein Visum für die USA; gemeinsam mit Annies neuem Lebenspartner Arnold Rubinstein gelang der Familie die Emigration in die USA. Rubinstein, dessen vielfältiges, klandestines kommunistisches Wirken – er trat unter zahlreichen Pseudonymen und Identitäten auf (Schmidt 2011, Kaufhold 2023b) – bis heute nur erahnbar ist, war eine der wohl schillerndsten Persönlichkeit der linken Untergrundbewegung. Er dürfte auch, wie auch Lore Reich (2005, 2019) vermutet, den maßgeblichsten Anteil an der Befreiung Edith Jacobsons aus der Gestapohaft gehabt haben (Kaufhold 2023b, 2024, Kessler 2015, Kessler & Kaufhold 2015): „Er war ein Experte darin, sich zu verkleiden und seine Lebensgeschichte zu verzerren, um seine wahre Identität zu verstecken“, erinnert sich Lore Reich (Reich Rubin 2019, S. 99).

Die elfjährige Lore musste sich erneut auf eine völlig andere Lebenssituation einstellen und erneut eine neue Sprache lernen. In ihrer Autobiografie hat sie detailreich – insbesondere im Kapitel „Die Auswanderung nach Amerika“ – veranschaulicht, welche enormen Anpassungsleistungen von ihr als Kind und Jugendliche gefordert waren und wie schwierig der Kulturwechsel und ihre seelische Anpassung an diesen für sie war, und wie sehr sie diese als „Demütigung“ („Unsere Erfahrung mit Amerikanern fing mit einer Reihe von kleinlichen Demütigungen an“…) (ebd., S. 117) empfand. Eine entscheidende Hilfe für ihre Familie, insbesondere auch für die Einreise ihres neuen Stiefvaters Arnold Rubinstein in die USA, war das Engagement der Amerikanerin Mary O´Neal Hawkins (1897-1983) (ebd., S. 118f.): Diese in Denver aufgewachsene Amerikanerin hatte nach einem Medizinstudium in New York bei dem Wiener psychoanalytischen Emigranten Fritz Wittels eine Psychoanalyse begonnen und war dann 1933 nach Wien gegangen, um dort (bei Grete Bibring) sowie an Anna Freuds kinderanalytischem Seminar von 1936 – 1938 ihre kinderpsychoanalytische Ausbildung fortzusetzen. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland half sie als mutige Widerständlerin von Wien und anschließend von London aus zahlreichen jüdischen Kollegen und Freunden bei ihrer Flucht. 1940 kehrte sie in die USA zurück. Lore Reich beschreibt deren Unterstützungsaktion für die Einreise Rubinsteins in dieser Weise: „Mary O´Neal Hawkins (…) kam ins Büro des Konsulats marschiert und sagte: „Wie können sie es wagen, meinem Freund Arnold Rubinstein (Thomas) kein Visum auszustellen. Ich werde davon sofort meinem Senator berichten.“ (…) – und so bekam Thomas doch sein Visum, obwohl er erst viele Monate später nachkommen konnte.“ (Reich Rubin 2019, S. 118f.)

Auch Lawrence Kubie – „den wir schon aus Wien kannten“ (ebd., S. 121) – , Direktor  eines Komitees der American Psychoanalytic Association, hatte sich zur Aufgabe gestellt, „so viele Psychoanalytiker wie möglich aus Zentraleuropa zu retten“ (ebd.). Es waren jeweils sehr konkrete, solidarische Menschen, die die Jüdin Lore Reich und deren jüdische Eltern sehr konkret unterstützen und sie so vor der Vernichtung durch die Deutschen retteten. Lore hat dies niemals vergessen, auch nicht bei ihren späteren Besuchen in Wien, ab dem Jahr 2000. Zu ihrem ehemals Wiener Freundeskreis gehörten in New York Kolleginnen wie Edith Jacobson, Mädi Olden und Berta Bornstein, in deren Gegenwart sie – Lore und ihre Mutter Annie Reich – sich in ihrer neuen Heimat New York wirklich wohl und beheimatet fühlten. Sehr anschaulich und detailreich beschreibt sie in ihrer Autobiografie ihre Versuche als Jugendliche in New York, dort seelisch und intellektuell wirklich „anzukommen“, Freunde zu finden, ein Gefühl der Zugehörigkeit zu entwickeln. In ihrer Wiener Kindheit war dies, aufgrund der Verfolgungserlebnisse ihrer Eltern, nur schwer möglich gewesen. In den folgenden Jahren wurde Lore und ihre Schwester Eva von ihrer neuen amerikanischen Umwelt immer wieder nach ihrer eigenen Identität gefragt: „Wohin wir auch gingen, die erste Frage, die wir gestellt bekamen, betraf immer unsere Identität: Waren wir Juden? Waren wir Deutsche? Wir wussten nicht, dass das Judentum mit einer Ethnizität verbunden und nicht nur eine Religion war.“ (ebd., S. 147) Sie benötigte mehrere Jahre, so schreibt sie selbst im Rückblick, um sich an die unvertraute amerikanische Kultur anzupassen und ihre eigene, widerspruchsreiche Identität zu entwickeln.

Studium: Geschichte, Psychologie, Medizin – und eine winzige trotzkistische Gruppe

Lore Reich studierte in den USA zuerst Geschichte und Psychologie, und dann doch, wie von ihren Eltern gewünscht, in New York Medizin. Dieses schloss sie 1954 ab. Es folgte eine Ausbildung zur Psychoanalytikerin.

Zusammen mit ihrem Ehemann Julius (Julie) Rubin verkehrte sie in ihrer Studienzeit in winzigen akademischen trotzkistischen Gruppen, was sie im Rückblick mit dem Leben in einer Sekte verglich. In dieser Phase musste sie zeitweise gegen starke Depressionen  kämpfen und um seelische Autonomie ringen.

Ihre ambivalente Beziehung zu Wilhelm Reich

In den USA vermochte Lore – ihre Mutter fing an Lore gerichtete Briefe und Geschenke Wilhelm Reichs ab (Reich Rubin 2019, S. 148-163) – zu ihrem nun gleichfalls in den USA lebenden Vater keinen stabileren Kontakt mehr herzustellen: Wegen der gefilterten Briefe habe Wilhelm Reich „für mich nicht existiert“, er sei „eine Leerstelle in meinem Leben“ (ebd., S. 149) gewesen. Bei vereinzelten Begegnungen mit ihrem Vater sei sie deshalb sehr vorsichtig, zurückhaltend gewesen, auch weil sie wusste „dass dieser Mann unberechenbar und zornig, penetrant und schwierig sein konnte.“ (ebd., S. 151) In ihrer Autobiografie beschreibt sie zahlreiche problematische, für sie schwierige Begegnungen und Auseinandersetzungen mit ihrem Vater, auch später noch in den USA – so wollte sie dort niemals bei ihrem Vater übernachten, weil sie diffuse Ängste entwickelte, die sie in ihrem Buch beschreibt und analysiert (u.a. S. 59-68, 148-163, 180f., 192-196, 241-252) – , die das widerspruchsreiche Bild Reichs und die über Jahrzehnte und bis heute zutiefst kontroverse Rezeption (vgl. Sharaf 2022, Peglau 2020, Reich 2020, Kaufhold & Hristeva 2021, Fallend & Nitzschke 2002) um wesentliche, wertvolle Facetten bereichert und erweitert. So ist ihr Buch „Erinnerungen an eine chaotische Welt“ auch eine späte Versöhnung insbesondere mit ihrem Vater.

Jahrzehnte später, als sie sich, auch angeregt durch Myron Sharafs Forschungen über Wilhelm Reich, intensiver mit Reichs auch in den USA durch Observierungen und Verfolgungen gekennzeichneten letzten Lebensjahre beschäftigte und vieles Neues über ihren auch in den USA berühmten Vater erfuhr, vermochte sie sich mit ihrem 1953 in einem amerikanischen Gefängnis verstorbenen Vater innerlich auszusöhnen, wie in ihrer Autobiografie spürbar ist.

„… und mich nicht mehr schäme seine Tochter zu sein“

Erst ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2001, erfuhr sie von der FBI-Akte ihres Vaters und dessen massiver Überwachung. Wilhelm Reichs unbändige Leidenschaften, seine Fähigkeit, auch unter der größten Bedrohung dennoch weiterhin theoretische Positionen zu beziehen und neue Theorien zu entwickeln, immer neue wissenschaftliche Bücher vorzulegen bzw. frühere, Wiener Bücher in der englischen Version umzuschreiben, beeindruckten und inspirierten sie. Sie verstand sie nun im Kontext seiner „Angst vor der vollkommenen Zerstörung und davor, in Vergessenheit zu geraten“ (S. 159).

Und erst Jahrzehnte nach Wilhelm Reichs tragischem Tod in einem amerikanischen Gefängnis im Jahr 1957 – den Lore Reich eindrücklich beschreibt – und nach der Lektüre der breitgefächerten Sekundärliteratur über Reich und der zahlreichen Reich-Biografien änderte sich „auch meine Meinung über meinen Vater“ (S. 151): Ihr sehr defensives, abweisendes Verhalten gegenüber ihrem omnipotentem, teils sehr aggressiv auftretendem Vater sei „nötig gewesen, um mich gegen seine aufdringliche Persönlichkeit wehren zu können, aber ich begann auch seine Entwicklung und die Tragödie seines Lebens zu verstehen. (…) ich fand heraus, dass er in vielerlei Hinsicht ein Opfer gewesen war. Nach einer traumatischen Kindheit war er zuerst Opfer Anna Freuds, dann der Nazis und zum Schluss war er Opfer der FDA. Seine Tendenz zur schrillen Provokation trug natürlich zu seinem Leiden bei, aber die Situationen, in denen er sich befand, waren nicht durch ihn verursacht worden. Seine fortschreitende Großspurigkeit war eine Reaktion auf die zahlreichen Wenden in seinem Leben.“ (ebd., S. 251). Viele seiner Ideen seien außergewöhnlich bedeutsam, auch heute noch gültig, vor allem seine Studien über die Ursachen des Faschismus (Reich 2020, Peglau 2013, Kaufhold & Hristeva 2021). Sie sei sehr froh, dass Wilhelm Reichs Werk heute auch in Europa wieder gelesen werde. Nun, im Alter, sei sie froh, dass sie mit ihm und seiner Vergangenheit Frieden geschlossen habe „und mich nicht mehr schäme seine Tochter zu sein.“ (ebd., S. 252)  

Im Alter wurde Lore Reich auch von vielen psychoanalytischen Forschern über ihre höchst außergewöhnliche Biografie befragt. So zehrt Myron Sharafs amerikanische, kongeniale Biografie über ihren Vater Wilhelm Reich (Sharaf 2022, Kaufhold 2023a) maßgeblich von ihren eigenen Kindheitserinnerungen an ihren Vater, ergänzt durch ihre spätere familiäre Spurensuche. Sharafs Forschungen wiederum erleichterten es Lore Reich, wie man ihrer Autobiografie zu entnehmen vermag, sich mit ihrer schwierigen, widerspruchsreichen Kindheit in Wien und Prag zu versöhnen.

In dem ihre Autobiografie abschließenden Kapitel „Das tragische Ende des Lebens meines Vaters“ (S. 241-252) beschreibt sie ihre seelische Fähigkeit, aus dieser Trennungssituation einen seelischen Entwicklungsprozess zu gestalten:

„Der Tod meines Vaters hatte eine bemerkenswerte Wirkung auf meine Familie. Es war, als wäre ein böser Geist vertrieben worden. Meine Schwester und meine Mutter versöhnten sich langsam wieder“ (S. 249).

Im Jahr 2000, da war sie 72, also 65 Jahre nach ihrer Emigration, besuchte sie gemeinsam mit ihrem ebenfalls aus Österreich gebürtigen Ehemann erstmals wieder Wien. Freunde aus den USA hatten sie vor dem österreichischen Antisemitismus und insbesondere vor dem sehr rechten Haider gewarnt. Umso überraschter waren sie „von der freundlichen, gar antifaschistischen Atmosphäre“ Wiens (ebd., S. 112); sehr erfreut war sie über ein großes Shoahdenkmal im Zentrum Wiens. Dass es solche Erinnerungen in Wien gab, die sie als Vertriebene selbst zu erleben vermochte, war für sie eine mit dem Leben und der familiären Vertreibungsgeschichte versöhnliche Geste.

Sieben Jahre später, im Juni 2007, reiste die inzwischen 79-jährige Lore Reich Rubin erstmals in ihre Geburtsstadt Berlin. Am 23.6.2007 – also am 110. Geburts- und 50. Todestag ihres Vaters Wilhelm Reich – wurde an Reichs früherem Wohnhaus in der Schlangenbadener Straße 87 in Berlin-Wilmersdorf, wo er ab 1931 gewohnt hatte, eine würdige Gedenktafel enthüllt, auf der die wesentlichen Lebensphasen von Wilhelm und Annie Reich erinnert werden. An dessen Einweihungszeremonie nahm Lore Reich Rubin u.a. gemeinsam u.a. mit Regine Lockot und Andreas Peglau teil.

Schlangenbader Straße 87. Das von Gudrun Peters aufgenommene Foto entstand am 23.6.2007 bei der Einweihung einer Gedenktafel für Wilhelm und Annie Reich. Sitzend: Lore Rubin-Reich (inks), ganz rechts ihre Tochter Erica. Stehend: Regine Lockot, ganz rechts: Andreas Peglau.

Im Alter musste die betagte Lore Reich schwere persönliche Verluste ertragen: Ihr Ehemann Julie verstarb 2004, ihre Schwester Eva Reich 2008. Lore Reich zog daraufhin 2010 nach Seattle, um in der Nähe ihrer Kinder zu wohnen. 

Lore Reich-Rubin, die selbst mit 95 Jahren noch am Leben teilnahm, Recherchen über ihren Vater und dessen Weggefährten von den USA aus unterstützte und sich über Besprechungen ihres Buches sehr freute – so reagierte sie in einer deutsch-englischen Mail sehr freundlich auf unsere Besprechung der deutschsprachigen Ausgabe ihres Buches (Kaufhold & Hristeva 2021) – verstarb am 24.2.2024 im Alter von 95 Jahren in Seattle (s.u.).

2022 war ein ausführliches lebensgeschichtliches Interview mit der 93-jährigen Lore Reich Rubin veröffentlicht worden, in dem man ihrer Persönlichkeit, ihrer Interessen und ihre Interesse am Leben als über 90-Jährige gegenwärtig wird – ein berührendes, bleibendes Dokument:

In einem Nachruf ihrer amerikanischen Familie heißt es:

„Lore Reich Rubin MD, 95, an eminent psychoanalyst born and raised in the Viennese world of Sigmund Freud and the daughter of Wilhelm Reich, died on February 24 at her home in Seattle. In failing health, and after discussions with her children, Dr. Rubin made use of the Washington State law allowing death with dignity and chose to end her own life consciously and courageously. Throughout her life and to the very end she possessed and wielded a powerful intellect and an uncommon capacity to interpret human behavior. 

Lore Reich was born in Vienna, Austria on March 11, 1928 to Wilhelm and Annie Reich, a power couple in the small group of Viennese psychoanalysts who trained with Freud in the 1920s and early 1930s.  An older sister, Eva, was born in 1924. Her parents divorced in 1933 and Annie and the two girls fled Europe, the holocaust and imminent war, arriving in New York City in 1938.  Seeking places to hike and walk as in Europe, Annie eventually discovered Northern New England and Mt. Desert Island, which became a frequent vacation destination for Eva and Lore.

Lore attended Oberlin College before transferring to New York University where she earned a BA in 1949. She completed a medical degree at New York University in 1954, a residency in psychiatry at Albert Einstein School of Medicine in 1958, and graduated from the New York Psychoanalytic Institute in 1962. In the late 1940s she met Julius (Julie) Rubin, and they were married in 1947 when Lore was 18 years old. After Lore spent a brief period in private practice in Manhattan, the couple moved to Pittsburgh in 1964 when Julie took a position in the Department of History at the University of Pittsburgh.

From 1964 to 2000 Lore maintained an active private practice and served as a faculty member at the University of Pittsburgh School of Medicine and at the Pittsburgh Psychoanalytic Institute. Throughout her career Lore was active in the wider psychoanalytic community, writing, teaching and serving in professional organizations. Her teaching focused on ego psychology, character structure and psychoanalytic theory. 

During these years in Pittsburgh (1964-2010), Lore and Julie raised a family and were deeply engaged in neighborhood and community life. The family enjoyed vacations at a shared farmhouse in rural Pennsylvania. In addition, over many decades Lore maintained her connection to coastal Maine near where Eva had a medical practice. Julie died in 2004, Eva Reich died in 2008, and Lore moved to Seattle to be near her children on the West Coast in 2010.  

Later in her career, in articles and in talks, she illuminated the importance of Wilhelm Reich’s early contributions to psychoanalysis and social psychology and clarified controversies surrounding her father. In an autobiography published in 2021, Memories of a Chaotic World: Growing Up as the Daughter of Annie Reich and Wilhelm Reich, Lore describes a childhood surrounded by luminaries of the psychiatric and psychoanalytic world and, at the same time conveys the life-disrupting collision between fascism and democracy in Europe.  

Lore grew up skiing in the Alps with her family, and later took up tennis with Julius; she enjoyed both activities throughout much of her life. She held an eclectic appreciation for paintings and sculpture, historical letters and biographies, as well as literature. Her studies led to a deep knowledge of psychoanalytic history and its intersection with world history. Additionally, she remained throughout her life a dedicated advocate for reproductive rights.

She is survived by her children Toby and Erica; a paternal half-brother Peter Reich; a niece, Renata Moise, and five grandchildren. Donations in Lore’s name may be made to Planned Parenthood.“

Literatur

Benveniste, D. (1998/2012): A Bridge Between Psychoanalytic Worlds. A Dialogue with Rudolf Ekstein…, haGalil, 9.2.2012: http://www.hagalil.com/2012/02/benveniste/

Benveniste, D. (2021). Advanced acclaim for Lore Reich Rubin’s Memoir. In L. Reich Rubin, Memories of a chaotic world. Growing up as the daughter of Annie Reich and Wilhelm Reich (pp.). New York: International Psychoanalytic Books.

Fallend, K. & B. Nitzschke (2002): Der „Fall“ Wilhelm Reich. Beiträge zum Verhältnis von Psychoanalyse und Politik. Gießen: Psychosozial-Verlag. 

Hristeva, G. & R. Kaufhold (2023): Memories of a chaotic world. Growing up as the daughter of Annie Reich and Wilhelm Reich, International Forum of Psychoanalysis 2023, Vol. 32, No. 2, S. 125-130 https://www.tandfonline.com/…/10…/0803706X.2023.2232963

Kaufhold, R. (2020a): Einer gegen alle. Wilhelm Reichs »Massenpsychologie des Faschismus« aus dem Jahr 1933 ist wieder zugänglich. Jüdische Allgemeine, 2.7.2020: https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/einer-gegen-alle-3/

Kaufhold, R. (2023a): „Wir haben hier einen Dr. Reich, einen wertvollen, aber ungestümen jungen Mann…“. Myron Sharafs großartige Wilhelm Reich-Biografie, haGalil 2023: https://www.hagalil.com/2023/03/reich-3/

Kaufhold, R. (2023b): „Ich habe nie verstanden, wie man über seine eigenen Probleme schreiben kann“ Vor 45 Jahren starb die Berliner Psychoanalytikerin und Widerständlerin Edith Jacobson in New York, haGalil 12/2023 https://www.hagalil.com/2023/12/edith-jacobson/

Kaufhold, R. (2024): Edith Jacobson als bedeutsame Pionierin in der Geschichte der Kinderanalyse, in: Kinderanalyse 1/2024, 32. Jg. , S. 40-58.

Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In: Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021, S. 7 – 66. https://www.psychosozial-verlag.de/22564 Eine Kurzversion: https://www.hagalil.com/2022/03/vertriebene-juedische-psychoanalytiker/

Kessler, J. (2015): Das schwarze Heft. Wie ich ein Vierteljahrhundert auf Edith Jacobsons Gefängnisaufzeichnungen saß. In Kessler & Kaufhold (Hg., 2015), S. 11-43.

Kessler, J. & R. Kaufhold (Hg.) (2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Peglau, A. (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial Verlag. https://buecher.hagalil.com/2014/10/wilhelm-reich/

Peglau, A. (2024): Lore Reich ist verstorben https://andreas-peglau-psychoanalyse.de (Rubrik: Vermischtes).

Reich, W. (2020): Massenpsychologie des Faschismus, Hg. Andreas Peglau. Gießen: Psychosozial-Verlag. https://www.hagalil.com/2023/03/reich-3/

Reich Rubin, L. (2003): Wilhelm Reich and Anna Freud. His expulsion from psychoanalysis. International Forum Psychoanal 12 (2/3), 2003, S. 109–117.

Reich Rubin, L. (2008a): Wilhelm Reichs wechselnde Theorien über Kindererziehung. Werkblatt 61, 2008, S. 3–22.

Reich Rubin, L. (2008b): Der Werdegang einer Psychoanalytikerin, in: Ludger M. Hermanns (Hrsg.), Psychoanalyse in Selbstdarstellungen, Band VII, Frankfurt am Main, S. 45–76.

Reich Rubin, L (2009): On becoming a psychoanalyst. Contemp Psychoanal 45, 2009, S. 483–503.

Reich Rubin, L. (2019): Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Rubin, L. R. (2005): Meine Erinnerungen an Edith Jacobson. In: May, U. & Mühlleitner, E. (2005): Edith Jacobson. Sie selbst und die Welt ihrer Objekte. Leben, Werk und Erinnerungen. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 313-327.

Schmidt, B. (2011): Wer war Ruth Oesterreich? Auf den Spuren einer vergessenen Sozialistin. Widerständige Frauen, Band 13 Verlag Edition AV.

Sharaf, M. (2022): Wilhelm Reich – Erforscher des Lebendigen. Eine Biografie. Gießen: Psychosozial Verlag.