„Ich habe nie verstanden, wie man über seine eigenen Probleme schreiben kann“

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Vor 45 Jahren starb die Berliner Psychoanalytikerin und Widerständlerin Edith Jacobson in New York

Von Roland Kaufhold

 „Von dem Leben, von den Lieben, / denen ich so weit entrückt / sind in meiner Hand geblieben / Zauberblumen, die ich pflückt. / In den Märchen, in den Träumen, / die sich meiner mild erbarmen / wandele ich in schönen Räumen / lebe in der Liebe Armen. (…) / Doch wenn grausam Wirklichkeiten / mich aus meinen Träumen wecken / packt mich Finsternis und Leiden / und der Gram schleicht um die Ecken.“
Edith Jacobson (Gefängnisaufzeichnungen, während ihrer Haft im Untersuchungsgefängnis Alt-Moabit 1935/36 verfasst), in: Kaufhold 2015, S. 45)

Der Leben der deutsch-amerikanischen Psychoanalytikerin und Widerständlerin Edith Jacobson ist von zahlreichen, weitgehend unbekannten Facetten der Verfolgung und Ausstoßung geprägt. Ihre von Judith Kessler (Kessler 2015) entdeckten und publizierten Gefängnisaufzeichnungen (Kessler & Kaufhold, Hg., 2015), die das Mitglied der linken Widerstandsgruppe Neu Beginnen während ihrer über zweijährigen Gestapohaft als Überlebensversuch und als Versuch der Selbstvergewisserung verfasste, sind von einem imposantem Überlebenswillen gekennzeichneten. Der Lebensweg Edith Jacobson wird nachfolgend knapp nachgezeichnet. Und es wird das komplizierte, weitestgehend unbekannte Beziehungsgeflecht innerhalb der „linken“, widerständigen Psychoanalytiker nachgezeichnet, dem Edith Jacobson angehörte. Diese linken Psychoanalytiker befreiten sie 1938 in einer tollkühnen internationalen Rettungsaktion aus der Berliner Gestapohaft.

Die 1897 geborene Edith Jacobson, die in einer jüdischen Ärztefamilie aufwuchs und sich durch die Gefahr des Nationalsozialismus politisierte, floh 1938 auf abenteuerlichem Wege aus der Gestapohaft über Prag und Paris nach New York, wo sie am 9.10.1938 ankam. Dort, im Exil, gelang es ihr, ihre psychoanalytische Karriere fortzusetzen. Über ihre traumatische Gestapohaft sprach sie nahezu nie wieder, jedoch bearbeitete sie diese in einer klinischen Studie (Jacobson 1949). Und doch bemerkte die Psychoanalytikerin 1971 in einem Interview mit ihrem Kollegen David Milrod: „Ich habe nie verstanden, wie man über seine eigenen Probleme schreiben kann.“ (in: May & Mühlleitner 2015, S. 198).

Vor 45 Jahren, am 8.12.1978, verstarb Edith Jacobson in New York.

Berliner Anfänge: Psychoanalyse und Widerstand

Als sich Edith Jacobson, die 1929 in Berlin ihre psychoanalytische Ausbildung abgeschlossen hatte, ab 1930 ihrer Gefährdung als Jüdin bewusst wurde, schloss sie sich in Berlin verschiedenen Diskussions- und Arbeitsgruppen politisch linker Psychoanalytiker an. Dies waren vor allem Otto Fenichel und Wilhelm Reich, mit denen Edith Jacobson lebenslang eng befreundet blieb. Diese Beziehung wurde wegen der teils divergierenden Positionen dieser beiden Freudschen Linken zunehmend kompliziert; ihre Beziehung endete in Feindschaft und Beziehungsabbrüchen (Peglau 2013).

Weiterhin spezialisierte sich Jacobson, was heute weitgehend in Vergessenheit geraten ist, in der in Entstehung begriffenen, von Sigmund und Anna Freud maßgeblich unterstützten psychoanalytisch-pädagogischen Aufbruchbewegung (vgl. Kaufhold 2001, 2003, 2024), welche sich zu einer professionellen Kinderanalyse entwickeln sollte (Kaufhold 2024). Deren bekannteste Vertreter waren Anna Freud, Siegfried Bernfeld und August Aichhorn (Kaufhold 2003); aber auch Annie Reich, Barbara Lantos, Edith Glück und Erich Fromm gehören dazu.

Aus diesen sozialen, politischen und fachlichen Kontexten entstand auch der Empfängerkreis von Otto Fenichels 119 „Geheimen Rundbriefen“ der „Linksfreudianer“, die  durch Otto Fenichels überbordendem Engagement und seiner Leidenschaft zur Systematik, in den Jahren von 1934 bis 1945 verschickt wurden. Es war ein Versuch, auch während der Lebenssituation des Exils einen politisch-fachlichen Zusammenhalt zu sichern. Nach der Niederlage Nazideutschlands trafen sich einige der exilierten Linksfreudianer in New York wieder. Niemand schlug vor, die Wiener und Berliner Tradition in den USA wieder fortzusetzen. Die Rundbriefe wurden eingestellt, so als hätte sie es nie gegeben.

Auch Edith Jacobson gehörte zu den Empfängern dieser geheimen Rundbriefe Fenichels.

Edith Jacobson in Otto Fenichels „Geheimen Rundbriefen“

Der linke Psychoanalytiker und Emigrant Otto Fenichel hatte von 1934 bis 1945 insgesamt 119 „Geheime Rundbriefe“ an einen Kreis linker, emigrierter europäischer Psychoanalytiker verschickt. Diese erschienen 1998 in einer von Mühlleitner & Reichmayr (1998) edierten zweibändigen Gesamtausgabe. In diesen „Geheimen Rundbriefen“ werden auch die Versuche ihres linken Freundeskreises nachvollziehbar, Edith Jacobson aus der Gestapohaft zu befreien, was 1938 gelang. Weiterhin wird die fachinterne Diskussion von Jacobsons seinerzeitigen Publikationen nachgezeichnet. Einige Auszüge hieraus seien knapp zitiert:

1934 sondierte der lockere Zusammenschluss linker Psychoanalytiker die verbliebenen, geringen Chancen, noch irgendeinen Einfluss auf die Entwicklung der durch den Nationalsozialismus existentiell bedrohten Psychoanalyse in Wien und Berlin zu nehmen. Der größte Teil von ihnen war zu diesem Zeitpunkt bereits in verschiedene Exilländer geflohen – Edith Jacobson jedoch noch nicht: „Wie bereits erwähnt, diskutierten am 3. Und 4. April 1934 in Oslo Fenichel, Wilhelm Reich, Edith Jacobson, Nic Hoel und Georg Gerö über allgemeine Fragen und Organisatorisches sowie über konkrete Schritte im Hinblick auf den bevorstehenden Kongreß in Luzern“, notiert Fenichel1934 (Mühlleitner & Reichmayr 1998, S. 31). Der internationale psychoanalytische Kongress 1934 in Luzern, an dem Reich noch teilnahm, endete mit Reichs stillschweigend inszeniertem Ausschluss aus seinen Psychoanalytischen Standesverbänden (Peglau 2013). 

Und: Jacobson „berichtete in den Rundbriefen 1934 über die psychoanalytische Gruppe in Berlin.“

Im April 1934 schreibt Fenichel: „A. (Annie) Reich schreibt: In der Angelegenheit der deutschen Vereinigung soll man auf Edith Jacobsohn hören und jedenfalls nicht daran zweifeln, „daß Boehm gleichgeschaltet ist.“ (…) Der Bericht von Otto Fenichel über die Zustände in der I.P.V. sind für jeden Psychoanalytiker, dem die psy.an Forschung am Herzen liegt, tief erschütternd, er bringt aber mir nicht wesentlich Neues.“ (ebd., S. 69)

Am 4.4.1935 teilt Fenichel mit: „Edith J. (Jacobson, selbst Empfängerin der „Rundbriefe“) „schreibt: Sie habe „in der Vereinigung“ einen Vortrag „Über das Heilungsproblem in der Kinderanalyse“ gehalten und „die Diskussion zur Verkündung grundsätzlicher Dinge benutzt“. Werner Kemper und Bernhard Kamm seien „allmählich so influenziert, daß sie sofort mitreagieren.“ (ebd., S. 208)

Am 5.6.1934 war ein Vernetzungstreffen von Fenichel, Edith Glück, Edith Jacobson und Annie Reich in der CSSR geplant. Fenichel schreibt über seinen Konkurrenten und zunehmenden Gegner Wilhelm Reich: „In politischer Hinsicht haben z.B. Annie Reich und Edith Jacobsohn mehr kritische Bedenken gegen Reich als ich, und dennoch möchte ich ihre Mitarbeit in unserer Gruppe nicht missen.“ (ebd., S. 119)

18.5.1936 schreibt Fenichel: „Fräulein Dr. Edith J. (acobson), deren momentane Lage Ihnen wahrscheinlich bekannt ist (Jacobson befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Gestapohaft, RK), bittet mich, in ihrem Namen einen Vortrag zum Kongreß unter dem Titel „Über die Über-Ich-Bildung bei der Frau“ anzumelden. Sie hofft, bis dahin in der Lage zu sein, den Vortrag halten zu können.“ (S. 381) Jacobsons Manuskript wurde auf dem XIV. Internationalen Psychoanalytischen Kongreß in Marienbad verlesen.

Am 12.6.1936 erhielt Fenichel einen von Anne Buchholtz verfassten internationalen Aufruf, sich dringlich für die Freilassung der schwer kranken Edith Jacobson zu engagieren.[i]

Fenichel schreibt daraufhin an seine Kollegen: „Soeben erhalte ich folgendes Schreiben: „Beiliegend sende ich Ihnen einen Aufruf an alle Analytiker. Ich bitte Sie, denselben allen Kollegen Ihrer Ortsgruppe mitzuteilen und sich an Dr. Jones zu wenden, um sich auf alle mögliche Art an der Aktion für Dr. Jacobsohn zu beteiligen! Ich bitte, die Sache nicht zu verzögern, sondern mit dem Ernst zu behandeln, den ein Menschenleben wert ist!“

Es folgt der Nachdruck des „Aufruf(es) an alle internationalen Analytiker!“: „Acht Monate sind vergangen, seit Dr. Edith Jacobsohn in Berlin von der Geheimen Staatspolizei verhaftet wurde! Acht Monate sitzt Dr. Jacobsohn im Gefängnis, ohne daß es zum Prozeß gekommen ist.“ Buchholtz zitiert einen norwegischen Dichter und fährt fort:

„Jedem Analytiker rufe ich diese Worte zu in Gedanken an Edith Jacobsohn: Legt diesen Brief nicht beiseite mit der Entschuldigung, daß Eure Ferien jetzt beginnen! Könnt Ihr die Sonne und die Freizeit genießen, wenn Eure Kollegin vergeblich in ihrer Gefangenschaft auf Eure Hilfe wartet? Entschuldigt Euch nicht mit Ausflüchten, es habe keinen Sinn und Erfolg. Richtige, einflußreiche und unerschütterlich durchgreifende Delegationen haben in Berlin schon ganz andere Dinge erreicht! Anne Buchholtz c/o Aunkebye, Olso, Tullingsgate 4, Norwegen.“(S. 432) Der Brief ging auch an 18 weitere Psychoanalytiker in Amerika, Indien, Palästina, Holland, Dänemark, Norwegen, Lettland, Frankreich, USSR, Finnland, Schweiz, Japan, Polen, Österreich, CSSR sowie an Sigmund Freud in Wien.

Otto Fenichel stand diesem Brief bzw. internationalen Aufruf mit großer Skepsis entgegen. Er fürchtete, dass Edith Jacobsons Aussichten auf eine Befreiung hierdurch eher geringen würden.

Am 12.6.1936 fügte Fenichel zu den möglichen Auswirkungen dieses Briefes hinzu: „Ich hoffe, daß die Folgen dieser Kinderei nicht allzu schwer sein werden, sondern durch beiliegendes Schreiben beigelegt werden konnte, das ich an Jones, Anna Freud und Marie Bonaparte richtete.“ (S. 434)

Und: „Ich glaube“, fügte Fenichel hinzu, „daß der Eindruck, der durch solche, von einer Unbekannten gezeichnete „Aufruf“ bei den Analytikern erweckt wird, so ist, daß sie Sympathie und Hilfsbereitschaft verlieren.“ Hierfür gäbe es zumindest drei Gründe.

„Was unbedingt vermieden werden muß, ist, daß am Ende gar Reich für die Veröffentlichung dieses Aufrufs sorgt. Ich bitte Annie (Reich) und Gerö, die vielleicht noch einigen diesbezüglichen Einfluß haben, sofort an Reich (zu) schreiben und ihn dringend davor zu warnen.“

Es werden nachfolgend von Fenichel einige Reaktionen auf die Briefe beschrieben, auch von Wilhelm Reich, der ihm aus Oslo geschrieben und geschildert habe, „dass er und Freunde erwogen hätten, den Beitrag zu publizieren, dass sie aber nach längerer Diskussion „beschlossen haben, auf eine Publikation zu verzichten“, notiert Fenichel am 7.7.1936.

Am 27.6.1934 informiert Fenichel über einen konkreten Beitrag von Jacobson: „Nach längerer Zeit schreibt Edith Jacobsohn wieder einmal über die Weiterentwicklung in der Deutschen Vereinigung: „B.(oehm) ist allmählich sehr sanft geworden und bespricht alles Wichtige in größerem Kreise (…) Aber die sozialen Qualitäten des Instituts haben geradezu erschüttert.“

Am 24.3.1936 informiert Fenichel über einen Vorschlag von Bernhard Kamm; dieser war drei Monate zuvor in die USA emigriert: Dieser „aus der Vereinigung ausgeschiedene und nunmehr trotz seiner arischen Abstammung der „Judengruppe“ angehörende Kollege (Kamm) möchte unsere Meinung darüber wissen, ob er von sich aus am Kongreß einen Ausschlussantrag gegen die Deutsche Vereinigung einbringen solle, wozu er Lust habe.“ (ebd., S. 459) Fenichel fügt ergänzend den Vorschlag hinzu: „Ich meine, daß es aus mehreren Gründen angezeigt wäre, wenn ein solcher Antrag von nicht deutscher Seite käme.“

Am 18.4.1937 schreibt Fenichel über Grotjahns und Kamms Engagement an der Menninger Klinik – Martin Grotjahn und Bernhard Kamm waren, obwohl sie keine Juden waren, aus Solidarität mit ihren jüdischen Kollegen freiwillig aus Nazideutschland in die USA emigriert (vgl. Kaufhold 2015, Kaufhold & Hristeva 2021): An der Menninger Klinik habe sich „jetzt eine eigene, der Chicagoer Gruppe angeschlossene, „Analytical Study Group in Topeka“ gebildet, bestehend aus Menninger, seinem Bruder, Knight, Tidd, Grotjahn und Kamm; u.a. hielt Kamm dort einen Vortrag über „Character Analysis“. (…) K(amm) schreibt: „Es war interessant, daß ich von anwesenden Nicht-Analytikern gut verstanden und bejaht, von Analytikern kritisiert wurde, allerdings äußerst suaviter in modo.“ (auf milde Weise?)

Nach Jacobsons Flucht nach New York wurde in Fenichels Rundbriefen nun regelmäßig über die Lebenssituation und Aktivitäten Jacobsons informiert.

Am 1.3.1941 schreibt Fenichel in seinem Rundbrief Nr. 74: In New York sind Bibring und Hartmann angekommen. – „Gestern tagte unsere neue Diskussionsgemeinschaft, an der u.a. Wälders, Nunberg, Hartmann, Annie Reich, Kronold, Isakower, Bertl Bornstein, Edith Buxbaum, Mahler, Löwenfeld und Edith Jacobson teilnahmen.“ (S. 1422)

Am 27.7.1941 informiert Fenichel darüber dass am New Yorker Institut nun sowohl Jacobson als auch Annie Rubinstein-Reich tätig seien.

Es finden sich in den Rundbriefen weitere Erwähnungen Jacobsons, insbesondere zu ihren neuen englischsprachigen Vorträge und Publikationen, insbesondere zum Thema der Depression.

Edith Jacobsons Untergrundkampf in Berlin bei Neu Beginnen

Edith Jacobson schloss sich der linken, klandestin arbeitenden Untergrundgruppe Neu Beginnen an, wie auch einige weitere, nicht so bekannte Psychoanalytikerinnen (vgl. Kaufhold 2024, Kessler 2015). Sie wurde unter dem Decknamen „John“ sowie „Irma“ geführt.

Jacobson arbeitete auch therapeutisch mit Kindern und verfasste in den Jahren von 1930 bis zu ihrer Inhaftierung durch die Gestapo im Jahr 1935 zahlreiche kinderanalytische Studien (vgl. Kaufhold 2023).

In dieser Phase der Politisierung arbeitete sie mit Wilhelm Reich eng zusammen, was sich auch in ihrem erhalten gebliebenen Briefwechsel mit Reich widerspiegelt; diesen Briefwechsel dokumentiert der Psychoanalysehistoriker Andreas Peglau in diesem haGalil-Themenschwerpunkt in seinem Beitrag zu Briefen aus dem Wilhelm-Reich-Archiv“. Jacobson arbeitete auch in Reichs Berlin-Charlottenburger sexualpädagogischen Beratungsstelle als Psychoanalytikerin mit und identifizierte sich in dieser Phase mit Reichs Vorstellungen und theoretischen Konzepten. Sie bewunderte Reichs Kreativität und Vitalität, was sie mit zahlreichen weiteren Kolleginnen verband, u.a. auch mit Bruno Bettelheim (Fisher 2003). So publizierte sie 1932 auch den Beitrag  „Warum fällt es der Mutter schwer, ihr Kind sexuell aufzuklären?“ in dem KPD-nahen Magazin Die Warte, in dem auch Wilhelm und Annie Reich publizierten. Hierbei sprach sie ausführlich über die Lebenssituation des proletarischen Kindes (Kaufhold 2024).

Was in offenkundiger Weise mit den parallelen Erfahrungen des jungen Psychoanalytischen Pädagogen Rudolf Ekstein in Wien korrespondierte: Ekstein wurde 1937 nach der Veröffentlichung eines an Reichs Schriften orientierten Beitrages in einer kommunistischen Zeitschrift wegen seiner Nähe zu Reichs sexualaufklärerischen Gedanken aus dem kommunistischen Jugendverband ausgeschlossen. Diese Parallelität der Erfahrungen zwischen ihm und seinem frühen Vorbild Wilhelm Reich sollte Eksteins zukünftigen Lebensweg in den USA maßgeblich prägen (vgl. Fisher 2003, Kaufhold 2001).

Edith Jacobson sagte 1932 aus den gleichen Gründen einen Vortrag zum Thema „Bürgerliche und proletarische Ehe“ bei dem KPD-nahen „Einheitsverband für proletarische Sexualreform und Mutterschutz“ wieder ab, als sie die KPD-internen Angriffe gegen „den Genossen Reich“ wahrnahm (Kaufhold 2020, Peglau 2023)

Der Untergrundagent und Ehemann von Annie Reich, Arnold Rubinstein

Für die Unterstützung und Befreiung Edith Jacobsons spielt eine Persönlichkeit eine zentrale Rolle, deren Einfluss und Aktivitäten bis heute nur schwer zu eruieren und einzuschätzen ist. Ich spreche von dem linken Aktivisten und Publizisten Arnold Rubinstein (23.5.1886 – 15.3.1955), zweiter Ehemann von Annie Reich. Dessen Wirkmacht einzuschätzen fällt besonders schwer, weil Rubinstein über Jahrzehnte als sozialistischer Aktivist professionell klandestin arbeitet, unter zahlreichen Namen auftrat und publizierte und über mehrere Pässe verfügte. Mit diesen arbeitete er über Jahrzehnte international in verschiedenen kommunistischen Gruppen. Wie schwer Rubinsteins Wirken zu erfassen war verdeutlichen die autobiografischen Erinnerungen der Reich-Tochter Lore Reich Rubin (2019). Diese haben wir 2019, unter Bezugnahme auch auf Rubinstein, auf haGalil beleuchtet (Kaufhold &Hristeva, 2020, vgl. Hristeva & Kaufhold 2023).

Der 1886 in Lemberg geborene deutsch-russische Kommunist Rubinstein („Genosse Thomas“) war 1905 in die Schweiz übersiedelt. Er studierte Pädagogik, experimentierte in einem chemischen Labor mit Sprengstoff und war Redakteur einer sozialistischen Zeitschrift. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Komintern, kehrte nach Berlin zurück und war von dort aus bis 1928 in konspirativer Weise leitendes Mitglied des Komintern. In dieser Position soll er für die Verteilung riesiger Geldbeträge in Europa zuständig gewesen sein. Er war in erster Ehe mit Berta Brutzkus, dann mit Ruth Oesterreich und ab 1938 mit Annie Reich verheiratet.

Seiner illegalen Tätigkeit geschuldet trug er diverse Namen: Er trat mal als Arnold Rubinstein auf, wurde in Reichs Familie als Thomas angesprochen, nannte sich auch Jakob Reich und trug je nach Lebenskontext und Untergrundtätigkeit noch weitere Namen. 1919 war er von der Komintern, mit großen Geldern ausgestattet, nach Berlin geschickt worden, um die kommunistische Partei und deren europäischen Gliederungen mit aufzubauen und zugleich zu kontrollieren. In Wien arbeitete er im Untergrund für die Komintern. Anfangs lebte er mit Ruth Oesterreich (Belgieninfo, 2012) zusammen, die als Jüdin ein Opfer der Naziverfolgung wurde.

Nach dem Tode Lenins war Rubinstein zunehmend bedroht, publizierte um 1930 jedoch noch die Bücher „Illustrierten Geschichte der Russischen Revolution“ sowie „Illustrierte Geschichte des Bürgerkrieges in Rußland“. 1931 schloss er sich der KPD an, saß auch im Parteivorstand der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD). Weiterhin leitete er in Berlin den russischen Verlag „Kniga“.

Von seiner konspirativen Tätigkeit im Auftrag der Komintern wusste man Zeit seines Lebens nahezu nichts. Auch Lore Reich las erst im hohen Alter, Jahrzehnte nach seinem Tod im Jahr 1955 in New York, in einem Buch über die abenteuerliche Tätigkeit ihres zeitweiligen Vaters: „Er war ein Experte darin, sich zu verkleiden und seine Lebensgeschichte zu verzerren, um seine wahre Identität zu verstecken“ (S. 99), erinnert sich Lore Reich.

Diese Einschätzung von Arnold Rubinsteins zentraler Bedeutung trifft überein mit einer knappen, lesenswerte Studie über Ruth Oesterreich (1894-1943), Rubinsteins früherer Lebensgefährtin (Schmidt 2011). Schmidt zeichnet Ruth Oesterreichs Lebensweg und deren Widerstandstätigkeit bis zu ihrer Hinrichtung durch die Nationalsozialisten am 25.6.1943 nach, mit Schwerpunkt auf deren gemeinsame Lebensphase mit dem in Lemberg geborenen Rubinstein von ca. 1925 bis Mitte der 1930er Jahre. Allein Rubinsteins verschiedene Untergrund-Namen zu nennen sei problematisch, „denn er trat als Jakob Reich alias Jakob Reichenberg alias James Reich alias James Gordon alias James Thomas in Erscheinung.“ (Schmidt 2011, S. 17) Diese Tarnnamen führte er als wichtigster Untergrundaktivist des Komintern, dem Lenin vertraute. Zusätzlich verfügte er seit spätestens 1929, vermutlich aber schon früher, über eine „bürgerliche Tarnexistenz und polizeiliche Anmeldung unter dem Namen Arnold Rubinstein.“ (ebd., S. 17) Mit diesem Namen lebte er gemeinsam mit Annie Reich auch in Prag (ab 1933) sowie in den USA (ab 1938). Er, der sich in seiner Jugend in Polen in anarchistischen Kreisen bewegte und wohl auch an zumindest einem Attentat (1905) beteiligt gewesen sein soll, war auch laut Schmidt „Lenins Mann in Westeuropa“ (ebd.,). Lenis stattete Rubinstein für seine Komintern-Untergrundtätigkeit mit unermesslichen Geldern aus – die Vermutungen liegen zwischen einigen und mehr als Hundert Millionen DM – , mit denen er die diversen europäischen kommunistischen Parteien unterstützte.

Zahlreichen Mitgliedern der kommunistischen Bewegung galt er als „Genosse J.“, „der Dicke“ oder auch als „Genosse Thomas“. Rubinstein beeindruckte alle mit seiner außergewöhnlichen Fähigkeit zur Konspiration. Er hatte auch zu Trotzki „eine direkte Verbindung“ (ebd., S. 20), weshalb er nach Lenins Tod sowie Trotzkis Entmachtung im Jahr 1924 von seinem Posten im Komintern entfernte wurde und danach massiv durch „stalinistische“, parteitreue Kreise bedroht war. 1924 wurde ihre gemeinsame Tochter Ruth geboren. Auch in Berlin lebte Rubinstein unter einer falschen Identität. Bei Ruth Oesterreich wohnte er anfangs illegal, wenn sie auch oft gemeinsam ins Kino gingen und öffentlich auftraten. Seine zahlreichen Identitäten verbarg Rubinstein auch bei seiner Einreise – gemeinsam mit Annie Reich – in die USA. Vor einer Reise nach Moskau hingegen warnte er alle ihm nahestehende Genossen.

Rubinstein verteilte als hoher Komintern-Mitarbeiter „Gelder und falsche Papiere, besorgte illegale Quartiere und diente als Umschlagstelle für geheime Postsendungen. So gingen durch seine Hand auch Lenins versiegelte Briefe an Paul Levi. (ebd., S. 21) Er eröffnete zur Tarnung zahlreiche Büros. Seine Besucher habe er „nie zweimal am gleichen Ort“ empfangen, „niemand kannte alle seine Büros und Wohnungen“ (ebd.).

Der Osteuropahistoriker und Ukraine-Experte Karl Schlögel bezeichnete Rubinstein als einen „Mann des totalen Untergrunds“ (ebd., S. 20)

1925 wurde er offiziell nach Moskau befohlen und aller Ämter enthoben. Vor ein Parteigericht konnte Rubinstein jedoch nie gestellt werden, weil er der Partei nie angehört hatte. Vermutlich rettete ihm das sein Leben. Danach kehrte Rubinstein wieder nach Berlin zurück.

In Prag arbeitete Rubinstein auch für Neu Beginnen. In diesen Jahren kümmerte er sich auch um die Kinder der Reichs, Eva und Lore.

Ruth Oesterreich, um dies nachzutragen, wurde am 21.4.1941 gemeinsam mit ihrer Tochter Ruth nach Verrat inhaftiert. Diese wurde im Februar 1942 freigelassen und überlebte in Belgien. Die mutige Antifaschistin Ruth Oesterreich wurde am 25.6.1943 im Gefängnis Berlin-Ploetzensee wegen ihrer antifaschistischen Widerstandstätigkeit hingerichtet.

1936 waren Annie Reich und Thomas Rubinstein mit ihrer Tochter Lore nach Prag geflohen. Dort trafen sie mit weiteren exilierten Psychoanalytikern zusammen. Einige von deren Kindern wurden zu Lores neuen Freundinnen in Prag. Thomas Rubinstein, den sie als eleganten, penibel gekleideten Mann erlebte, fiel die ungewohnte Vaterrolle schwer.

Rubinstein, der nach seinem „Abfall“ von Stalin existentiell bedroht war, gilt heute als zentrales Mitglied von Neu Beginnen in Prag. In Prag gehörte Annie Reich und Rubinstein gemeinsam mit George Gero, Edith Jacobson, Edith Ludowyk Gyömröi zu dem linken Psychoanalytikerkreis um Otto Fenichel offenkundig gleichfalls dieser Untergrundgruppierung – oder deren Umfeld – an.

Von Prag aus koordinierten Fenichel, Annie Reich und Rubinstein die ersten Schritte zur Befreiung Edith Jacobsons (s.o.). So trafen die drei und Weißbarth am 4.4.1936 mit dem Rechtsanwalt Kussmann zusammen, der für eine Freilassung Jacobsons engagiert wurde. (Mühlleitner 2005, S. 134-136).

In ihren Erinnerungen sollte Edith Jacobson übrigens die Rolle von Annie Reich und Rubinstein hervorheben; letzteren bezeichnete sie als einen „experienced man politically, quite an experienced man. So he had prepared for the escape.“ (Mühlleitner 2005, S. 146)

1938 flogen Annie Reich und Rubinstein weiter nach New York; nach der Ermordung Trotzkis nahm er aus Angst vor einer Ermordung den Namen Arnold Thomas Rubinstein an.

Für Lore war die Wiederbegegnung mit Edith Jacobson in den USA eine Ermutigung, war sie Edith Jacobson doch bereits als Kind einmal begegnet: Als ihre Eltern Wilhelm und Annie Reich 1933 Hals über Kopf aus Berlin fliehen mussten, um jeder für sich ein neues Leben im Exil zu finden, wurde Lore gemeinsam mit ihrer Schwester Eva alleine in einen Zug gesetzt, um über Nazi-Berlin nach Dänemark zu gelangen. Dort, am Bahnhof in Berlin, wurden die Kinder von Edith Jacobson am Bahnhof abgeholt. Lore, die in ihren Lebenserinnerungen zu sehr kritischen Einschätzungen über ihre Verwandten und zahlreiche mit ihrer Mutter befreundete Psychoanalytiker neigt, erinnert Jacobson als eine warmherzige Frau: „Ich war sehr hungrig und durfte nach Herzenslust Brötchen mit echter Butter essen. Ich aß und aß, und Edith schien sich nicht daran zu stören.“ Lores Fazit lautet hier: „Edith verwöhnte uns und der Besuch bei ihr war herrlich“ (ebd., S. 60).

Edith Jacobson brachte die beiden Reich-Töchter am nächsten Morgen wieder zum Bahnhof, damit sie weiter nach Dänemark reisen konnten. Hierzu Lore Reich Rubin in ihrer Erinnerung über ein halbes Jahrhundert später: „Aber als wir weiterreisten, wurden wir daran erinnert, dass wir uns nun in Nazi-Deutschland befanden. In einem kleinen Bahnhof tauchte plötzlich eine Gruppe der Hitlerjugend in Uniform auf. Einer von ihnen zeigte auf den Zug und schrie: „Schau, ein Jude!“ (Reich Rubin 2019, S. 60). Anschaulich wird in Lore Reich Rubins Buch die abenteuerliche Flucht von Annie Reichs Weggefährtin und Freundin, der Psychoanalytikerin und Widerstandskämpferin Edith Jacobson, aus der Gestapohaft beschrieben (vgl. Kaufhold & Hristeva 2020, Hristeva & Kaufhold 2023).

In Lore Rubins zweitem Erinnerungstext an Edith Jacobson (Rubin 2005) beschreibt sie, im zeitlichen Abstand – sie war 77 Jahre alt – auch ihren Stiefvater Rubinstein; sie verweist als Quelle auf die Darstellungen ihrer Angehörigen: „Zu den Nicht-Analytikern der Emigrantengruppe gehörte auch mein neuer Stiefvater, Arnold Rubinstein alias „Thomas“. Er war ein geheimnisvoller Mann, und wir Kinder wußten, daß er unter falscher Identität und mit gefälschtem Pass lebte. Erst in den vergangenen Jahren habe ich Forschungsarbeiten über ihn entdeckt. (…) Man hat uns aber nie erzählt, wer er wirklich war.“ (Rubin 2005, S. 319f.) Dann schildert sie eine Szene aus dem Jahr 1938 – da war Lore Reich 10 Jahre alt -, die sie in der Rekonstruktion mit Edith Jacobsons Befreiungsaktion in Verbindung setzt:

“Ich erinnere mich an einen Abend in Prag (wahrscheinlich Juni 1938)[ii]. Mein Stiefvater wirkte ungewöhnlich nervös, wanderte stundenlang auf und ab, versuchte aber zu verbergen, wie aufgeregt er war. Ich ging verwirrt zu Bett, doch am nächsten Morgen, als er nichts mehr geheimzuhalten hab, erzählte mir meine Mutter, was geschehen war. Sie hatten Edith aus Deutschland herausgeschmuggelt. Emmy Minor war mit ihrem eigenen Pass und dem Pass von Mädi Olden, den sie in ihrer Kleidung versteckt hatte, nach Deutschland gereist, hatte es irgendwie geschafft, Edith aus dem Krankenhaus zu „entführen“, und war gemeinsam mit ihr nach Prag zurückgefahren. Mit welchem Trick es Emmy gelungen war, das Krankenhaus zusammen mit Edith zu verlassen, weiß ich nicht. Weder Emmy noch Mädi waren jüdisch, und offenbar sah Edith Mädi so ähnlich, dass sie mit ihrem Pass[iii] über die Grenze gelangen konnte. Am nächsten Tag sollte Ediths Mutter, die noch immer in Deutschland lebte, die Behörden informieren und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Diese Maßnahme diente dem Schutz der Mutter. Erst durch Lilo Gerös Bericht habe ich erfahren, daß sie selbst bereits Monate zuvor mit ihrem ungarischen Pass nach Deutschland gereist war und Edith geholfen hatte, vom Gefängnis ins Krankenhaus verlegt zu werden (Reich Rubin 2019).

Hierzu ergänzend ein paar Informationen: Die jüdische Psychoanalytikerin Lilo Gerö (1903-2009) hatte schon in Berlin gemeinsam mit Jacobson dem linken Diskussionskreis um Fenichel angehört. Sie war eng mit Annie Reich befreundet und war nach ihrer Emigration  am Aufbau der Prager Psychoanalytischen Arbeitsgemeinschaft beteiligt (vgl. Kaufhold 2023). Jacobson wohnte nach ihrer Flucht nach Prag anfangs in Gerös Wohnung.

Emmy Minor, Emmi Minor-Zarubova, geb. 1906, die bei Jacobson eine psychoanalytische Ausbildung machte, war als Antifaschistin 1933 aus Berlin nach Paris geflohen, wo sie eine psychoanalytische Schulung machte. Sie war am 17.3.1936 von Prag aus zu der Berliner Hauptgerichtsverhandlung gegen Jacobson gereist und erlebte, in welcher stoischen Ruhe Jacobson den harten Urteilsspruch gegen sich aufnahm (Mühlleitner 2005, S. 138). Annie Reich bestätigte diese Vorgänge und Minors zentrale Rolle hierbei in einem Brief an ihre Kollegin Emma Plank (Emmi „hat vor ½ Jahr unter sehr großer eigener Gefährdung Edith Jakobsohn aus Deutschland geholt“ (Mühlleitner ebd., S. 148).

Die Kinderanalytikerin Christine „Mädi“ Olden (1888-1959), in Prag als Kind Wiener Eltern geboren, gehörte in Prag sowie später in New York zu Edith Jacobsons Freundeskreis. In den 1920er Jahren arbeitete sie in Wien als Chefredakteurin und Verlegerin einer Kinderzeitschrift („Der Regenbogen“) und machte anschließend bei Hanns Sachs am Berliner Psychoanalytischen Institut eine psychoanalytische Ausbildung. In Berlin gehörte sie zum Linksfreudianischen Kreis um Fenichel und Bernfeld und nahm auch an den Sitzungen der Pädagogischen Arbeitsgemeinschaft teil. In Prag beendete sie 1938 ihre psychoanalytische Ausbildung und emigrierte 1939 weiter nach New York. Dort setzte sie ihre kinderanalytische Tätigkeit fort und publizierte in amerikanischen psychoanalytischen Fachzeitschriften zu kinderanalytischen Themen.

Was Arnold  Rubinstein anbelangt, ahnte in den USA bis zu dessen Tod im Jahr 1954 niemand, welche wichtige Persönlichkeit des politischen Widerstandes ihr Land erreicht hatte.

Eine ausführliche Studie des Autors über Edith Jacobson (Roland Kaufhold: Edith Jacobson als bedeutsame Pionierin in der Geschichte der Kinderanalyse) erscheint Anfang 2024 in der Zeitschrift Kinderanalyse (Klett-Cotta).

Ein Epilog: Ernst Federn, Margaret Mahler, Edith Jacobson und die Shoah

Wenn man die Folgen der Shoah zu verstehen versucht stößt man nahezu überall vor allem auf Vergessen, Verleugnen und Auslassungen. Das gilt für die Gesamtgesellschaft und gleichermaßen für die Erinnerung innerhalb der kleinen, thematisch hieran interessierten Szene zum Schicksal vertriebener und ermordeter PsychoanalytikerInnen.

Auch jüdische Psychoanalytiker, die selbst Opfer der rassistischen und antisemitischen Verfolgung und Shoah wurden, wollten und mussten vergessen – aber aus sehr anderen Gründen als die Mehrheitsgesellschaft bzw. die Majorität ihrer nicht-jüdischen Berufskollegen (vgl. Kaufhold 2001, Kessler & Kaufhold 2015, Kaufhold & Hristeva 2021).

Der Wiener Psychoanalytiker Ernst Federn, der als Jude und entschiedener Stalingegner unter der stalinistischen „Häftlingsselbstverwaltung“ sieben Jahre lang einen Überlebenskampf führte und bereits wenige kurz nach seiner Befreiung aus Buchenwald eine große Studie zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors veröffentlichte (Kaufhold 2014a), sprach erst im Alter vereinzelt offen über seine Desillusionierungen als jüdischer Rückkehrer nach Österreich:

„Das entscheidende Ereignis meines Lebens war – wie könnte es auch anders sein – meine Erfahrung in den Konzentrationslagern.“ Ernst Federn war 85 Jahre alt, als er dies schrieb. Er war ein Überlebender der Schoah, was weitgehend unbekannt war – bzw. verleugnet wurde – , selbst unter und von seinen Berufskollegen. Ernst Federn wusste um dieses nicht-Wissen. Er akzeptierte dieses als unabänderliche Tatsache.

Sein eigener Tod war der Preis, den er für seinen Kampf gegen den Nationalsozialismus zu zahlen bereit war. In privaten Gesprächen erwähnte Ernst Federn verschiedentlich auch die ihm zugetragene oder direkt erlebte, schon beinahe triumphale Reaktion von Kollegen und Gesprächspartnern auf sein Insistieren über sein eigenes nicht-beschädigt-Sein durch die KZ-Haft: Wann dieser Ernst Federn denn unter der Last seiner Erfahrungen zusammen brechen werde, so spekulierten durchaus nicht wenige seiner Berufskollegen immer wieder, privat und sogar halb-öffentlich. Solche Reaktionen verwunderten ihn eher, als dass sie ihn kränkten. Er betrachtete sie als seelische Unfähigkeit, die Realität als solche anzuerkennen. Auch die psychoanalytische Ausbildung hatte hieran nichts zu verändern vermocht.

Ernst Federn hat sich nur einmal direkt über das nicht-Sprechen über seine eigenen traumatischen Lager-Erfahrungen geäußert. Federn führte aus:

„Was mich angeht, so hätte ich sehr gern von meinen (Konzentrationslager-, d. Verf.) Erlebnissen erzählen wollen, aber es waren die Analytiker, die ausnahmslos einem Gespräch über meine Lagererlebnisse aus dem Wege gegangen sind. Es scheint, dass die Opfer zwar das Gespräch vermeiden, nicht aber das Schreiben. (…) Warum konnte man darüber schreiben und so schwer darüber reden? Ich glaube, dass die Welt des Konzentrationslagers (…) in Gesprächen Menschen, die das nicht selbst erlebt haben, kaum vermittelt werden kann. Wer davon erzählt, muss fürchten, dass die Zuhörer ihm nicht glauben, oder dass ihnen das Gehörte so peinlich ist, dass man mit dem Erzählen lieber aufhört. Auch Psychoanalytiker bilden da keine Ausnahme. Unter dem Vorwand, meine Gefühle schonen zu wollen, verbarg sich die Angst vor eigenen Konflikten, die durch die Berichte über die Schrecken des Lagerlebens ausgelöst werden konnten.“ (Kaufhold 2014b)

Die gebürtig österreichisch-ungarische Margaret M. Mahler (1897 -1985 (New York)) war eine Kinderärztin und Psychoanalytikerin (Kaufhold 2018). Sie hatte zunächst Kunstgeschichte und dann – als erste Frau – Medizin an der Budapester Universität studiert. Wegen antisemitischer Erfahrungen wechselte sie zu einem Medizinstudium nach Jena, worin sie 1922 promovierte. Sie spezialisierte sich auf eine Tätigkeit als Kinderärztin und eröffnete in Wien eine Privatpraxis. Sie machte bei der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung eine psychoanalytische Ausbildung und wurde 1933 deren außerordentliches Mitglied. Anschließend arbeitete sie an einer psychoanalytisch orientierten Kinderklinik, an der vorwiegend jüdische Kinder behandelt wurden. Im Oktober 1938, unmittelbar nach dem „Anschluss“ Österreichs, gelang ihr gemeinsam mit ihrem Ehemann gerade noch die Flucht in die USA. In New York, wo sich zahlreiche psychoanalytische Emigranten wieder trafen (Wirth & Haland-Wirth 2003), gelang ihr eine Karriere als psychoanalytische  Spezialistin für psychisch sehr kranke Kinder, vor allem autistisch-psychotische Kinder (Kaufhold 2001).

In einem sich u.a. auf Archivquellen von Thomas Aichhorn stützenden Ausstellungskatalog  (Sigmund Freud Museum (o. J.) wird an Mahlers Verfolgungsschicksal erinnert und dieses auch mit der Biografie von Edith Jacobson – deren psychoanalytische Kollegin Mahler in New York wurde – in Verbindung gebracht. Die nachfolgenden Darstellungen zitieren aus diesem lesenswerten Ausstellungskatalog:

„Am 13.10.1938 können die Eheleute an Bord der Queen Mary nach New York ausreisen, wo sie von der WPV-Kollegin Bertha Bornstein persönlich in Empfang genommen werden. 1940 wird Mahler Mitglied der New York Psychoanalytic Society und erhält einen Lehrauftrag für Psychiatrie an der Columbia University. Ihr Arbeits- und Forschungsschwerpunkt sind kindliche Psychosen. 1945 wird sie über den Tod ihrer Mutter unterrichtet, die 1944 nach Auschwitz deportiert wurde. Sie verfällt in eine schwere Depression und beginnt eine weitere Analyse bei Edith Jacobson. 1950 gründet sie einen therapeutischen Kindergarten für psychotische Kinder am Einstein College in New York. In den folgenden Jahren leitet sie das Ausbildungsprogramm des Philadelphia Psychoanalytic Institute. 1975 veröffentlicht sie ihre wohl bekannteste Studie Die psychische Geburt des Menschen, die auf beobachtender Forschung in einer natürlichen Umgebung basiert.

Brief von Margaret S. Mahler an August Aichhorn vom 28. Mai 1948. „Nach Österreich ist es schwer zu fahren und ich habe diesen Plan vor 10 Monaten bereits aufgegeben. Offenbar habe ich eine große Abneigung dahinzufahren – seien Sie mir nicht böse. Ich weiß, Sie werden versuchen, mich zu verstehen.“ Mahler hat es nach 1945 konsequent abgelehnt, nach Österreich zu reisen.

(…) Am 2. Oktober 1985 stirbt Margaret S. Mahler in New York. Ihrem letzten Willen entsprechend, wird ihre Asche neben dem Grab ihres Vaters auf dem jüdischen Friedhof in Sopron beigesetzt.“

Literatur
Belgieninfo (2012): Auf den Spuren einer vergessenen Sozialistin: Ruth Oesterreich: https://belgieninfo.net/auf-den-spuren-einer-vergessenen-sozialistin/
DeMeo, J. (2016): Marxism, “Comrade Thomas” (aka “Yakov Reich”, “Arnold Rubinstein”) and Wilhelm Reich: https://obrlnews.wordpress.com/2016/02/14/marxism-comrade-thomas-aka-yakov-reich-arnold-rubinstein-and-wilhelm-reich-2/
Fisher, D. J. (2003): Psychoanalytische Kulturkritik und die Seele des Menschen. Essays über Bruno Bettelheim unter Mitarbeit von Roland Kaufhold und Michael Löffelholz. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Gedenkstätte Deutscher Widerstand (o. J.): EDITH JACOBSON, 10. September 1897 – 08. Dezember 1978, Internet: https://www.gdw-berlin.de/vertiefung/biografien/personenverzeichnis/biografie/view-bio/edith-jacobson/
Hristeva, G. & R. Kaufhold (2023): Memories of a chaotic world. Growing up as the daughter of Annie Reich and Wilhelm Reich, International Forum of Psychoanalysis, 32 (2), 125–130. https://doi.org/10.1080/0803706X.2023.2232963.
Jacobson, E. (1949): Observations on the psychological effects of imprisonment on female political prisoners.In K. R. Eissler (Ed.), Searchlights on Delinquency. New York: International Universities Press.
Jacobson, E. (1983): Depression. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Kaufhold, R. (2003): „Wo wäre die Psychoanalyse in Wien heut“?
Spurensuche zur Geschichte der in die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, Luzifer-Amor, Heft 31, 16. Jg., S. 37-69, wie auch auf haGalil 2020: https://www.hagalil.com/2020/09/psychoanalyse-2/
Kaufhold, R. (Hg., 2014a): Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Kaufhold, R. (2014b): Ernst Federns Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Am 26. August jährt sich Ernst Federns 100. Geburtstag. haGalil 8/2014: https://www.hagalil.com/2014/08/federn-2/
Kaufhold, R. (2015): Biografische Notizen Edith Jacobson. In Kessler & Kaufhold (Hg., 2015), S. 45-79.
Kaufhold, R. (2018): Edith Buxbaum (20.4.1902 – 14.7.1982). Eine Pionierin der Psychoanalytischen Pädagogik und antifaschistische Aktivistin: Von Wien über New York nach Seattle/Washington, haGalil 12/2018: https://www.hagalil.com/2018/12/edith-buxbaum-2
Kaufhold, R. (2020): Rudolf Eksteins „Sexualpolitik des Faschismus“ (Mai 1937). Ein frühes Dokument des politischen Widerstandes eines angehenden Psychoanalytikers, haGalil 6/2020: https://www.hagalil.com/2020/06/sexualpolitik-des-faschismus/
Kaufhold, R. (2024): Edith Jacobson als bedeutsame Pionierin in der Geschichte der Kinderanalyse, in: Kinderanalyse 1/2024.
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2020): „Erinnerungen an eine chaotische Welt“. Die Lebenserinnerungen von Lore Reich Rubin, Wilhelm und Annie Reichs Tochter,haGalil, 29.12.202: https://www.hagalil.com/2020/12/lore-reich-rubin.
Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In. Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021. Gießen: Psychosozial-Verlag), S. 7 – 66.
Kessler, J. (2015): Das schwarze Heft. Wie ich ein Vierteljahrhundert auf Edith Jacobsons Gefängnisaufzeichnungen saß. In Kessler & Kaufhold (Hg., 2015), S. 11-43.
Kessler, J. & R. Kaufhold (Hg., 2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
May, U.,& E. Mühlleitner (Hg., 2005): Edith Jacobson. Sie selbst und die Welt ihrer Objekte. Leben, Werk, Erinnerungen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Mühlleitner, E., & Reichmayr, J. (1998). Otto Fenichel, 119 Rundbriefe. Band I und II. Frankfurt a.M., Basel: Stroemfeld.
Peglau, A. (2013):Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Peglau, A. (2024): „Eine Frau besonderer geistiger Klarheit und tiefer Menschlichkeit“. Briefe aus dem Wilhelm-Reich-Archiv, haGalil.
Reich Rubin, L. (2019): Erinnerungen an eine chaotische Welt. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Rubin, L. (2005): Meine Erinnerungen an Edith Jacobson. In: May & Mühlleitner 2005, S. 329-338.
Schmidt, B. (2011): Wer war Ruth Oesterreich? Auf den Spuren einer vergessenen Sozialistin. Widerständige Frauen, Band 13 Verlag Edition AV.
Sigmund Freud Museum (o. J.): Organisierte Flucht – Weiterleben im Exil. Wiener Psychoanalyse 1938 und danach: Margret S. Mahler, 1988. Internet: https://www.freud-museum.at/de/detailseiten-organisierte-flucht
Wirth, H. J. & und T. Haland-Wirth (2003): Emigration, Biographie und Psychoanalyse. Emigrierte Psychoanalytikerinnen in Amerika. In: Kaufhold, R. & R. Löffelholz (Hg., 2003): So können sie nicht leben“ – Bruno Bettelheim (1903-1990). Themenschwerpunkt in Zeitschrift für Politische Psychologie, 2003, 11 (H. 1-3/2003), S. 91-120.

 

 

[i] Über diese bisher nahezu vollständig unbekannte Geschichte rund um Anne Buchholtz wird Andreas Peglau 2024 eine Studie veröffentlichen.
[ii] Bzgl. der exakten Daten von Jacobsons Flucht existieren in der Fachliteratur teils geringfügig voneinander abweichende Daten. Offenkundig fand Jacobsons beschriebene Flucht über die Berge nach Prag im Mai 1938 statt; am 27.5.1938 kam sie in Prag an: „Edith ist in Prag!“ jubilierte Otto Fenichel in einem Brief an seine Kollegin – und spätere (1940) Ehefrau Hanna Heilborn https://www.psychoanalytikerinnen.de/deutschland_biografien.html#Heilborn (Mühlleitner 2005, S. 148). Fenichel war bereits etwa drei Wochen zuvor von Prag nach New York emigriert, wo er am 13.5.1938 eintraf.
[iii] In Mädi Oldens „gefälschten“ Pass war ein Foto Edith Jacobsons eingefügt worden.