Die Lebenserinnerungen von Lore Reich Rubin, Wilhelm und Annie Reichs Tochter…
Von Roland Kaufhold und Galina Hristeva
Die amerikanische Psychoanalytikerin Lore Reich Rubin, 1928 als Tochter von Annie und Wilhelm Reich in Wien geboren und aufgewachsen, hat autobiografische Erinnerungen niedergeschrieben. Der Titel – Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich – entspricht dem Gehalt und der naturgemäß subjektiv getönten Stoßrichtung ihrer Erinnerungen.
Lore Reich Rubin zeichnet das Bild der vernachlässigten, überforderten Tochter, die sie ohne Zweifel war. Das öffentliche Bild ihres weltweit berühmten Vaters, der so sehr und „fast zwanghaft sexuelle Freiheit forderte“ (S. 180), vermochte sie nur schwer mit ihren eigenen Erinnerungen an ihn zu vereinbaren. Ihre Mutter Annie Reich, die bei Wilhelm Reich ihre eigene Analyse begonnen hatte und diese erst einmal abbrach, weil sie Reich 1922 heiratete, war während ihrer eigenen Kindheit sexualaufklärerisch aktiv und in kommunistisch orientierte Sexualberatungsstellen eingebunden gewesen. Auch sie galt in Wien und Berlin als Linke, als Marxistin, als Psychoanalytikerin – und stellte die Beziehung zu ihren eigenen Kindern im Interesse ihrer psychoanalytischen Ausbildung hinten an. Für die heute 92-jährige amerikanische Autorin Lore Reich Rubin war es ein Leben in Widersprüchen, in fragwürdigen Loyalitäten, verstrickt in die heftigen Auseinandersetzungen einer zerbrechenden Ehe. Reich Rubin schreibt in der ihr eigenen lakonischen Weise über die Atmosphäre der Gefährdung bereits in ihren ersten Lebensjahren: „Diese Bedrohung war persönlich, später verschmolzen diese Bedrohungen mit dem großen Ganzen. Meine Eltern arbeiteten beide und sie verstanden sich nicht“ (S. 24).
Die Ambivalenz zu ihrer Mutter Annie Reich
1930 trennten sich die Eltern in Wien, Wilhelm Reich ging in das „brodelnde“, politisch bedeutsame Berlin. Annie blieb mit ihren Kindern in Wien, teilte sich mit Berta Bornstein (vgl. Kaufhold 2003) – über die die Autorin teils vernichtende Urteile fällt – eine Wohnung, siedelte dann doch nach Berlin über.
Lores zutiefst ambivalente Gefühle gegenüber ihrer Mutter kommen im Buch deutlich zum Ausdruck, wie die folgenden Passagen zeigen. Aus der Sicht des etwa zweijährigen Kleinkindes meint sie sich in dieser Weise an Annie zu erinnern: „Ich verehrte meine Mutter, sie war wie ein Engel für mich, immer gütig und geduldig. Sie zeigte nie ihre Wut und hatte immer ein sanftes Wort auf den Lippen“ (S. 14). Später wandelte sich ihr Bild von ihrer Mutter, sie entdeckte die „zweite Seite“ (S. 15) dieser Frau: Neben der „enthusiastischen, sachkundigen, kultivierten Intellektuellen“ (S. 15), die sich für ihre psychoanalytische Ausbildung engagierte, erlebte sie sie nach der Trennung von Wilhelm Reich im Jahr 1930 als depressiv, überfordert. Ihr habe es einfach an Mütterlichkeit gefehlt, notiert sie im Buch mehrfach, in versöhnender Perspektive.
Im Februar 1933, nach der „Machtergreifung“ der Nazis, flohen die Eltern und trennten sich auf einem Berg: „Die Auflösung der Ehe meiner Eltern fand auf einem Gipfel statt. […] Sie wanderten über die Berge, nur mit Rucksäcken, die all ihre Habseligkeiten beinhalteten. Meine Mutter berichtete, dass mein Vater voller Angst war. Auf einmal verspürte sie eine enorme Verachtung ihm und seiner Angst gegenüber. In diesem Moment konnte sie sich endlich von der Knechtschaft, in der er sie gefangen hielt, befreien. Deswegen konnte sie umkehren und ihn auf dem Berggipfel alleine lassen“ (S. 38).
Exil in Prag sowie Dänemark
Annie floh ohne ihre Kinder nach Prag, wohl auch um ihre psychoanalytische Ausbildung bei Frances Deri (1881-1971), die nach Prag emigrierte, abzuschließen. Dort traf sie auch die Loewenfelds wieder (Müller 2000), mit denen sie zeitlebens in Kontakt blieb. Lores Vater Wilhelm Reich emigrierte nach Dänemark und von dort, da die Verfolgungssituationen und der doppelte Ausschluss (sowohl durch die Psychoanalytiker als auch durch die kommunistische Partei; vgl. Peglau 2013, 2020) anhielten, weiter nach Norwegen – und 1939 schließlich in die USA. Dennoch hielten ihre Eltern auch im Exil miteinander Kontakt.
Lore entdeckte als Jugendliche durch Zufall – ihre Mutter wollte ihr dies vorenthalten – einen an sie adressierten Brief ihres Vaters an sie drei, mit dem Wilhelm Reich den Kontakt zu seinen Kindern vom norwegischen Exil aus aufrechtzuerhalten versuchte. Hierin sprach er sich gegen deren Emigration in die USA aus und wünschte, dass sie zu ihm nach Norwegen kommen sollten. „Ich war überwältigt – niemand hatte mir gegenüber irgendetwas von Auswanderung erzählt. Und dann auch noch Amerika!“ (S. 115)
Seine zunehmende politische Desillusionierung über die Kommunistische Partei und die Sowjetunion, die er 1933 in seiner Massenpsychologie des Faschismus in scharfzüngig-eloquenter Weise formulierte (Kaufhold 2020), vermochte Wilhelm Reich jedoch in seinem privaten familiären Leben nicht gelten zu lassen: Zu Hause sei er „strenger Anhänger der Partei“ gewesen und „Die Kinder sollten genauso wie er Kommunisten sein“ (S. 30). Darum trat Lores vier Jahre ältere Schwester Eva in Berlin den jungen Pionieren bei, trug das obligatorische rote Halstuch und ging auch bei kommunistischen Märschen mit. Als sie mit acht Jahren dort aufhörte, bekam ihr Vater einen Wutanfall. Als Lore einmal das in der Schule neu erlernte „O Tannenbaum“ vorsang, brüllte ihr Vater gleichfalls empört herum.
Exkurs: Trotzkis Enkel und Stalins mörderische Wut
Um ihre beiden Kinder Lore und Eva vermochten die Reichs sich nur sehr begrenzt zu kümmern. (Lore selbst stellt Evas Verhalten ihr gegenüber im Buch in etwas irritierend-nachteiliger Weise dar: „Der schlimmste Übergriff meiner Schwester war, dass sie an der Zerstörung meines Schlafes arbeitete“ (S. 76)). Lore und Eva blieben anfangs in Wien, in einer kommunistischen Kinderpension, in der vor allem Kinder von Analytikern sowie auch der Enkel von Trotzki sowie der Sohn Sergei Eisensteins, versorgt wurden: Die Trennungssituation im Jahr 1933 wird als traumatisch erinnert: „Als ich wieder aufschaute, war meine Großmutter weg und ich war alleine mit diesen Kindern und der erwachsenen Frau […] Ich verstand sofort, mit dem gleichen Gefühl, das ich hatte, als ich in der kommunistischen Kinderkommune angekommen war, dass ich hier in der Obhut der fremden Frau zurückgelassen wurde. Drei Jahre lang blieb ich bei ihr und den Kindern“ (S. 49f.).
Eines dieser Kinder war der zwei Jahre ältere Enkel Trotzkis, Sieva (oder auch: Estaban „Vsievolod“ Volkov); allein ihre Erinnerungen an ihn – „das Kind, das mir am meisten in Erinnerung blieb“ (S. 52) – , sind lohnend und veranschaulichen, wie eng Wahn, Verfolgung und Vernichtung, durch die ja auch Wilhelm Reichs Exil geprägt war, in jenen Jahren für viele, insbesondere auch für die von Stalins Wahn nahezu vollständig ausgelöschte Familie Trotzki, miteinander verbunden waren. Gemeinsam besuchten Lore und Sieva eine Montessori-Schule. Sieva zeigte auf dem Weg zur Schule auf einen „schlecht angezogenen Mann auf der anderen Straßenseite“ und sagte: „Das ist ein Spion“ (S. 52). Erst Jahrzehnte später, in den USA, vermochte Lore den wahren Charakter dieser Szene zu verstehen: Selbst der Enkel Trotzkis wurde durch Stalin in Wien überwacht. Wenig später beging Sievas Mutter unter dem enormen Druck Selbstmord, ein Onkel brachte ihn 1935 nach Paris. Reich Rubin beschreibt den weiteren Verlauf der Geschichte so: „Aber dann hatte sein Onkel in Paris eine Blinddarmentzündung und rief einen Rettungswagen. Doch statt des Rettungswagens kamen Stalins Agenten, entführten ihn in einem falschen Rettungswagen und ermordeten ihn. Die Großeltern fanden Sieva später in einem Pariser Waisenhaus und nahmen ihn zu sich mit, wo er dann bis zu ihrem Tod lebte“ (S. 52). Wilhelm Reichs tragischer Tod in einem amerikanischen Gefängnis, den die Autorin am Ende des Buches eindrücklich beschreibt, wird in dieser Szene gewissermaßen bereits antizipiert, was die seelische Dramatik steigert.
Um, von dieser Szene ausgehend, einen Detailaspekt der Geschichte der Psychoanalyse in freier, ironischer Weise nachzuerzählen: Die Mutter von Trotzkis Enkel war wohl bei Max Eitingon in Analyse. Über den Berliner Analytiker und Freud-Vertraute Eitingon und dessen Beziehungen zur Sowjetunion bzw. dessen vorgebliche Agententätigkeit für Stalin existieren viele Gerüchte und Spekulationen – so gab es in The New York Review bereits 1988 eine lesenswerte Studie hierzu „The Mystery of Max Eitingon: An Exchange (Eine Gegenposition findet sich in der Psyche 5/1997, S. 457-470 sowie hier; vgl. auch Karl Pfeifer (unter Bezugnahme auf die israelischen Autoren Isabella Ginor und Gideon Remez): Liebesgrüße aus Moskau; Jüdische Allgemeine, 31.7.2012). Max Eitingon hatte einen russischen Verwandten, der für Stalins Geheimdienst arbeitete und maßgeblichen Anteil an der Verfolgung Trotzkis gehabt haben soll. (Über die Familiengeschichte der Eitingons vgl. Wilmers 2009 und Hristeva 2012). Dieser Verwandte erfuhr die Inhalte der Therapie. Stalin war gegenüber der bourgeoisen Analyse anfangs tolerant, bis er mitbekam, dass er hierbei nicht die Rolle des Supervisors spielen durfte. Sein Zorn wuchs ins Unermessliche, nun war Schluss mit lustig und er verbot Freuds Analyse. 1933 musste Eitingon, auch wegen seiner „lieben arischen Kollegen“, als Jude aus Berlin nach Palästina fliehen und wurde zum Begründer der Psychoanalyse in Palästina (vgl. dazu Liebermann 2015 und 2019). Hierüber dürften wiederum weder Hitler noch sein Kumpel von 1939, Stalin, erfreut gewesen sein…
Viel Zorn spricht aus Lore Reich Rubins Erinnerungen an die Menschen ihrer Kindheit, die – wie ihre berühmten Eltern – teils bis heute idealisiert werden. Aber am Ende findet sich im Buch auch Verständnis für die sehr schwierigen Lebensumstände ihrer Eltern: Bedrohung, Verfolgung und Entrechtung als prägende Rahmenbedingungen.
Emigration nach New York
Um zum Ablauf der Fluchtgeschichte zurückzukommen: Annie Reich holte ihre Tochter nach Prag. Ihre Bedrohung durch die Nationalsozialisten zeichnete sich auch in Prag ab. Annie Reich hatte Glück: 1938 erhielt sie ein Visum und vermochte mit ihren beiden Töchtern nach New York zu fliehen. Erneut mussten sie sich, weitgehend ohne Englischkenntnisse, auf eine völlig neue Lebenssituation einstellen.
Lore vermochte sich überraschend gut auf die neue Situation in den USA einzustellen, obwohl ihre autobiografischen Erinnerungen dies zunächst nicht erwarten lassen. Ihrem Vater Wilhelm Reich gelang 1939 doch noch die Emigration nach New York; in den USA vollzog er bekanntlich eine weitere Wende in seiner Theorieproduktion hin zur Orgonomie; zugleich und parallel hierzu verabschiedete er sich stillschweigend – bzw. teils auch dezidiert argumentierend – von seinen früheren marxistischen Positionen (vgl. Peglau (Hg.) 2020 und Kaufhold (2020)).
Lores Beziehung zu ihrem Vater blieb, wie sie im Kapitel „Die Ankunft meines Vaters“ (1939) anschaulich beschreibt (S. 148-163), problematisch. Ihre Mutter fing Briefe und Geschenke ihres ehemaligen Ehemannes an ihre Kinder ab, ließ diese nur „gefiltert da, so „dass er für mich nicht existierte, quasi eine Leerstelle in meinem Leben war“ (S. 149). Sie blieb vorsichtig in ihren vereinzelten Begegnungen mit ihrem Vater, erwartete weiterhin, „dass dieser Mann unberechenbar und zornig, penetrant und schwierig sein konnte“ (S. 151). In ironischer Weise schreibt Lore über den Feminismus ihres Vaters, der „extrem“ gewesen sei, aber letztlich, obwohl „gut soziologisch begründet […], doch eigennützig“ (S. 34).
Es gelingt der Autorin im Laufe des Buches dann doch, trotz ihrer inneren Verwicklung, dem intellektuellen Feuerkopf und unbeugsamen Kämpfer Wilhelm Reich gerecht zu werden, wenn sie ihn einerseits als „von Natur aus autoritär“ (S. 154) beschreibt, aber hinzufügt: „Er war stets todernst in seinen theoretischen Begründungen für sein Verhalten“ (S. 155). Lore Reich Rubin erzählt über die Observierung und Verurteilung Wilhelm Reichs in den USA, die mit dessen Inhaftierung und Tod im November 1957 nach sechsmonatiger Haft in einem amerikanischen Gefängnis tragisch endeten. Erst im Jahr 2001, als Reich Rubin von der FBI-Akte ihres Vaters erfuhr, wurde ihr bewusst, dass Reichs Überwachung durch das FBI anfänglich einer Namensverwechslung geschuldet war – ein Detailaspekt aus der Spätphase seines Lebens, der in der Fachliteratur überwiegend anders gewichtet wird als von Reich Rubin (vgl. Bennett 2010). Wilhelm Reichs unbändige Leidenschaft, auch unter der größten Bedrohung dennoch weiterhin theoretische Positionen zu beziehen, immer neue wissenschaftliche Bücher vorzulegen – in den USA seine Schriften zur Orgonomie – versteht sie im Kontext seiner „Angst vor der vollkommenen Zerstörung und davor, in Vergessenheit zu geraten“ (S. 159). Der zu Konzessionen wohl unfähige Reich insistierte auf seiner wissenschaftlichen Erkenntnisposition und nahm es dabei in Kauf, sogar seine kleine, enge marxistisch-psychoanalytische Unterstützergruppe im norwegischen Exil mit seiner späten Abkehr vom Marxismus vor den Kopf zu stoßen. Reich Rubin beschreibt weitere Szenen der Brüche mit ihrem Vater, die in wilden, affekthaften Szenen mündeten: „Wie immer, wenn er auf der Suche nach der Wahrheit war, wurde er wütend. Er schrie mich an, befahl mir dann, aus seinem Leben und seinem Haus zu verschwinden und rief, dass er mich nie wieder erblicken wolle“ (S. 160).
Eine späte Versöhnung mit Wilhelm Reich
Im Buch findet sich auch das Kapitel „Versöhnung mit meinem Vater (1944)“ (S. 192-186). Hierin schildert die Autorin ihre späten Begegnungen mit ihrem Vater wie auch mit dem aus Reichs späterer Ehe mit Ilse Ollendorff (1909-2008) entstandenen, 1944 geborenen Sohn Peter. Dabei ist auch ein Foto, auf dem der 47-jährige Vater Reich seinen Säugling Peter in den Händen hält: Das Baby schaut in die Kamera, Reich auf seinen Sohn.
In ihrem Studium der Medizin gehörten Reich Rubin und ihr Ehemann Julius Rubin eine Zeitlang einer trotzkistischen Gruppierung an, was sie ausführlich und voller Ironie mit dem Leben in einer Sekte vergleicht. Die Trennung von der Partei empfand sie als einen Akt des Stolzes und der eigenen Autonomieentwicklung. In all diesen Jahren kämpfte sie mit schweren Depressionen, versuchte ihre konflikthafte Beziehung zu ihrer Mutter innerlich zu klären.
Das abschließende Kapitel „Das tragische Ende des Lebens meines Vaters“ (S. 241-252) enthält berührende Passagen, in denen die Autorin Reichs Beisetzung beschreibt sowie die Begegnungen, die sie hierbei mit ihrer Familie hatte: „Der Tod meines Vaters hatte eine bemerkenswerte Wirkung auf meine Familie. Es war, als wäre ein böser Geist vertrieben worden. Meine Schwester und meine Mutter versöhnten sich langsam wieder“ (S. 249).
Die hier vorliegenden autobiografischen Erinnerungen ergänzen vergleichbare Erinnerungen, die von zahlreichen Verwandten Wilhelm Reichs im Laufe der Jahrzehnte bereits niedergeschrieben wurden. Über Reich geschrieben hat dessen zweite Ehefrau Ilse Ollendorff, eine aus Deutschland stammende Emigrantin, die er in den USA kennengelernt und 1944 geheiratet hatte (Ollendorff-Reich 1975). Ebenso deren gemeinsamer Sohn Peter, der 1973 – sechzehn Jahre nach Reichs Tod – Erinnerungen an seinen impulsiven Vater veröffentlichte, welche ursprünglich unter dem Titel „A Book of Dreams“ erschienen sind (P. Reich 1975). Lore Reichs vier Jahre ältere Schwester Eva (1924 – 2008), die unter den durch die getrennte Emigration desolaten Lebensverhältnissen wie ihre Schwester Lore sehr litt, ihren Vater später als einen Diktator beschreiben sollte, wurde dennoch in den USA als Medizinerin seine Mitarbeiterin und publizierte später, in Anlehnung an Reichs Orgonomie, Bücher über Babymassage und Bioenergie (E. Reich 1997).
Arnold „Michael“ Rubinstein und Edith Jacobson
Spannend und zu politisch-historischer Recherche anregend sind die Darstellungen über Annie Reichs zweiten Ehemann Michael „Thomas“ Rubinstein: Der 1886 in Lemberg Geborene trug, seiner illegalen Tätigkeit geschuldet, diverse Namen: Er trat mal als Arnold Rubinstein auf, wurde in Reichs Familie als Thomas angesprochen, nannte sich auch Jakob Reich und trug je nach Lebenskontext und Untergrundtätigkeit noch weitere Namen. 1919 war er von der Komintern, mit großen Geldern ausgestattet, nach Berlin geschickt worden, um die kommunistische Partei und deren europäischen Gliederungen mit aufzubauen und zugleich zu kontrollieren. Er hatte mehrere Pässe und arbeitete in Wien im Untergrund für die Komintern. Anfangs lebte er mit Ruth Oesterreich zusammen, die als Jüdin ein Opfer der Naziverfolgung wurde. Von seiner konspirativen Tätigkeit im Auftrag der Komintern wusste man Zeit seines Lebens nahezu nichts. Auch Lore Reich las erst im hohen Alter, Jahrzehnte nach seinem Tod im Jahr 1955 in New York, in einem Buch über dessen abenteuerliche Tätigkeit: „Er war ein Experte darin, sich zu verkleiden und seine Lebensgeschichte zu verzerren, um seine wahre Identität zu verstecken“ (S. 99), erinnert sich Lore.
1936 waren Annie und Thomas Rubinstein mit ihrer Tochter Lore nach Prag geflohen. Im Exil gehörten sie weiterhin zum Freundeskreis der „linken“, nach Prag emigrierten Analytiker um Otto Fenichel. Frances Deri, die Fenichels, Mädi Olden, Henry und Yela Loewenfeld, Edward Kronold sowie die Schwestern Steff und Berta Bornstein (vgl. Kaufhold 2003) gehörten weiterhin zu Annies Freundeskreis. Einige ihrer Kinder wurden zu Lores neuen Freundinnen in Prag. Thomas, den sie als eleganten, penibel gekleideten Mann erlebte, fiel die ungewohnte Vaterrolle schwer.
Anschaulich wird im Buch die abenteuerliche Flucht von Annie Reichs Weggefährtin und Freundin, der Psychoanalytikerin und Widerstandskämpferin Edith Jacobson, aus der Gestapohaft beschrieben. Dort, im Gestapo-Gefängnis Berlin, hatte die mutige Psychoanalytikerin Jacobson wegen ihrer Untergrundtätigkeit bei der kleinen antifaschistischen Gruppierung Neu Beginnen über zwei Jahre Haft verbracht. Im Gefängnis hatte sie, vom Tode bedroht, literarische und psychologische Tagebuchaufzeichnungen verfasst, die von der Sozialwissenschaftlerin und Journalistin Judith Kessler entdeckt und 2015 von Kessler unter dem Titel Gefängnisaufzeichnungen publiziert worden sind (Kessler & Kaufhold 2015).
Rubinstein, der nach seinem „Abfall“ von Stalin existentiell bedroht war, gilt heute als zentrales Mitglied von Neu Beginnen in Prag. Gemeinsam mit dem nach Prag emigrierten Psychoanalytiker Otto Fenichel war er der Hauptorganisator der wagemutigen internationalen Befreiungsaktion für Jacobson: Nach einem Hafturlaub, da sie sterbenskrank war, wurde in Berlin eine Meldung ihres Todes verbreitet. Ausgestattet mit einem gefälschten Pass floh Jacobson mit Begleitung über die Berge und gelangte nach New York, wo sie Annie und Lore Reich wiedertreffen sollte (vgl. Kessler & Kaufhold 2015).
Für Lore war diese Wiederbegegnung in den USA eine Ermutigung, war sie Edith Jacobson doch bereits als Kind einmal begegnet: Als ihre Eltern Wilhelm und Annie Reich 1933 Hals über Kopf aus Berlin fliehen mussten, um jeder für sich ein neues Leben im Exil zu finden, wurde Lore gemeinsam mit ihrer Schwester Eva alleine in einen Zug gesetzt, um über Nazi-Berlin nach Dänemark zu gelangen. Dort, am Bahnhof in Berlin, wurden die Kinder von Edith Jacobson am Bahnhof abgeholt. Lore, die in ihren Lebenserinnerungen zu sehr kritischen, häufig herabsetzenden Einschätzungen über ihre Verwandten und zahlreiche mit ihrer Mutter befreundete Psychoanalytiker neigt, erinnert Jacobson als eine warmherzige Frau. Sie schreibt: „Ich war sehr hungrig und durfte nach Herzenslust Brötchen mit echter Butter essen. Ich aß und aß, und Edith schien sich nicht daran zu stören.“ Lores Fazit lautet hier: „Edith verwöhnte uns und der Besuch bei ihr war herrlich“ (S. 60). Jacobson brachte die Kinder am nächsten Morgen wieder zum Bahnhof, damit sie weiter nach Dänemark reisen konnten. Hierzu Lore Reich Rubin: „Aber als wir weiterreisten, wurden wir daran erinnert, dass wir uns nun in Nazi-Deutschland befanden. In einem kleinen Bahnhof tauchte plötzlich eine Gruppe der Hitlerjugend in Uniform auf. Einer von ihnen zeigte auf den Zug und schrie: „Schau, ein Jude!“ (S. 60)
Was Rubinstein anbelangt, ahnte in den USA bis zu dessen Tod im Jahr 1954 niemand, welche wichtige Persönlichkeit des politischen Widerstandes ihr Land erreicht hatte.
Wilhelm Reichs Würdigung
Wilhelm Reichs Befürchtungen, „in Vergessenheit zu geraten“ (S. 159), haben sich zum Glück nicht bewahrheitet. Obwohl sich Lore Reich Rubins Kontakte zu ihrem Vater ab ca. 1934 in Grenzen hielten und obwohl vieles in ihrem Buch – nicht zuletzt dem Genre der Memoiren entsprechend – stark subjektiv ist und sich mehr um ihr eigenes Leben dreht, entfaltet sie eindrücklich und zugleich sehr subtil das lebensechte Bild eines Mannes, ihres Vaters, der sich mitten in den Wirren des 20. Jahrhunderts und seiner eigenen höchst prekären Existenz der Wahrheitssuche und der Ergründung der Geheimnisse des Lebens verschrieben hatte.
Lore Reich Rubin: Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich. Aus dem Englischen von Lilith-Isa Samer. Mit einem Vorwort von Wolfram Ratz. Gießen: Psychosozial-Verlag 2019. 253 Seiten, 29,90 Euro, Bestellen?
–> Zum Tode der Psychoanalytikerin Lore Reich Rubin (11.3.1928 – 24.2.2024)
Literatur
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Ginor, I. & G. Remez (2012): »Her Son, the Atomic Scientist: Mirra Birens, Yuli Khariton, and Max Eitingon’s Services for the Soviets«. Journal of Modern Jewish Studies, vol. 11, no 1, S. 39–59.
Hristeva, G. (2012): Rez. zu: M.-K. Wilmers: The Eitingons. A Twentieth-Century Story. Psyche, Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, 66(5), S. 456-458.
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Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Kaufhold, R. (2020): Einer gegen alle. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ aus dem Jahr 1933 ist wieder zugänglich. Jüdische Allgemeine, 2.7.2020.
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Liebermann, G. (2015): Max Eitingon in Palästina/Eretz Israel (1933-1943). Luzifer-Amor. Zeitschrift zur Geschichte der Psychoanalyse, 28 (55), S. 94-118.
Liebermann, G. (2019): The Origins of Psychoanalysis in Israel: The Freudian Movement in Mandatory Palestine 1918-1948. New York: Israel Academic Press.
Müller, T. (2000): Von Charlottenburg zum Central Park West. Henry Löwenfeld und die Psychoanalyse in Berlin, Prag und New York. Frankfurt am Main: Edition Déjà-vu.
Ollendorff-Reich, I. (1975): Wilhelm Reich. Das Leben des großen Psychoanalytikers und Forschers, aufgezeichnet von seiner Frau und Mitarbeiterin. München: Kindler.
Peglau, A. (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Peglau, A. (Hg.) (2020): Wilhelm Reich: Massenpsychologie des Faschismus. Der Originaltext von 1933. Gießen: Psychosozial-Verlag.
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Wilmers, M.-K. (2009): The Eitingons. A Twentieth-Century Story. London: Faber and Faber.
Danke für diese erhellenden und informativen Anmerkungen zu Wilhelm Reich, der mich in meinen politischen Anfängen sehr beeindruckt hat. Erstaunlich, dass jemand, der den autoritären Charakter der KPD sehr gut beschrieben hat, sich trotzdem nur zum Teil von ihr lösen konnte. Der Preis einer Loslösung bedeutete wahrscheinlich auch damit einhergehende Einsamkeit und Isolierung, wozu Reich, auch angesichts des zunehmenden Verfolgungsdrucks, wohl nicht zur Gänze bereit war.
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