Briefe aus dem Wilhelm-Reich-Archiv
Von Andreas Peglau
Als ich 2012 im Bostoner Wilhelm-Reich-Archiv recherchierte, stieße ich auch auf Briefe, die im Zusammenhang mit Edith Jacobson standen. Ich will aus diesen Briefen zitieren und sie kurz in die zeitlichen Abläufe einordnen. In einen größeren Zusammenhang gestellt wurden sie bereits 2015 in den von Judith Kessler und Roland Kaufhold herausgegebenen „Gefängnisaufzeichnungen“ Jacobsons.
Ende 1930 übersiedelte Wilhelm Reich von Wien nach Berlin, wurde hier Mitglied der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) und erneut Lehranalytiker. Der Kreis „linker“ Analytiker um Otto Fenichel ermöglichte ihm einen Austausch unter weitgehend Gleichgesinnten. Zu diesem Kreis gehörte Edith Jacobson. Zwischen ihr und Reich – die in wesentlichen politischen und fachlichen Fragen übereinstimmten – entstand eine enge freundschaftliche Beziehung. Bald beteiligte sich Jacobson an der Arbeit in den von Reich initiierten Berliner Sexualberatungsstellen und schrieb für die „Warte“,[1] die Zeitschrift des KP-nahen Sexualreformverbandes, zu dessen Leitung Reich gehörte.[2] Für diesen Verband trat Jacobson zudem als Referentin auf.
Als dann Ende 1932 in der KPD eine Diffamierungskampagne gegen Reich einsetzte, zog auch sie daraus Konsequenzen. Nachdem eine KP-nahe Zeitung behauptet hatte, Reichs Auffassungen liefen einer „revolutionären Kinder- und Jugenderziehung“ zuwider, schrieb sie am 8. Dezember 1932 an die Leitung des Sexualreformverbandes:
„Unter diesen Umständen kann ich leider das für morgen übernommene Referat in Alt-Glienicke über ‚Sexualspiele der Kinder‘ nicht übernehmen, da ich in diesem Referat nach meinen beruflichen Erfahrungen und fachlichem Wissen […] nur oben erwähnte Grundsätze des Genossen Reich zugrunde legen kann.
Um also nicht in Konflikt zu kommen mit einem evtl. Beschluss des Z.K. [Zentralkomitees der KPD] oder anderer Instanzen, um also nicht ‚parteischädigend‘ zu arbeiten, bleibt mir nur die Möglichkeit, bis zur endgültigen Klärung der fraglichen Probleme auf die bisherige Referententätigkeit zu verzichten.“[3]
Wie wichtig ihr die Beziehung zu Wilhelm Reich nach dessen erzwungener Flucht aus Deutschland im April 1933 blieb, zeigt ein Brief vom 7. Mai 1933. Eine Woche zuvor war Reich in Dänemark angekommen. Im Wissen um Reichs bis zur Selbstgefährdung gehendes antifaschistisches Engagement bat ihn Jacobson, offenbar für den Kreis der „linken“ Analytiker sprechend, „in unser aller Namen inständigst, Dich zurückzuhalten und erst festen Fuß zu fassen. Wir müssen jetzt auf lange Sicht arbeiten.“ Obwohl man „sehr skeptisch sein“ müsse „bezüglich der Zukunft“, wolle sie „solange es irgend geht“, in Berlin ausharren – allerdings „in möglichst nahem Kontakt“ zu Reich. „Sollte die Existenz“ in Deutschland „unmöglich werden“, würde sie versuchen, nach Skandinavien nachzukommen. Unterschrieben ist der Brief mit „vielen lieben Grüßen von Deiner getreuen Edith“.[4]
Davor, sich selbst in Gefahr zu begeben, schreckte Jacobson nicht zurück. Ihre Unterstützung der Widerstandgruppe „Neu Beginnen“ führte am 24. Oktober 1935 zu ihrer Inhaftierung.[5]
Am 28. Oktober schrieb Reich an die „linke“, sich ebenfalls an Widerstandsaktivitäten beteiligende norwegische Analytikerin Nic Waal: „Es ist eine dringende Sache: Edith ist am vergangenen Donnerstag verhaftet worden.“ Er habe sofort die Suche nach einem „guten Rechtsanwalt“ veranlasst. Es sei „unbedingt notwendig, vom Auslande her Sorge zu tragen, dass ihr nichts geschieht und dass sie freigelassen wird. […] Das muss vorbereitet werden. Bitte setz Dich in meinem Namen mit (Bronislaw) Malinowski, Havelock Ellis, (Max) Hodann, Neill, (Bertrand) Russel, Stella Brown,[…](Aldous) Huxley in Verbindung.“[6]
Offenbar reagierte Nic Waal umgehend. Erhalten ist dann aber erst wieder ein Brief von ihr, den sie am 17. November schrieb – und zwar aus „Summerhill“, der reformpädagogischen Internatsschule von A. S. Neill im englischen Suffolk. Hier dürfte es ihr auch um Hilfe für Jacobson zu tun gewesen sein. Sie berichtete Reich, dass „die Dinge in Berlin sehr schwierig und kompliziert waren“. Sie habe sich auch beim DPG-Vorstand um Unterstützung bemüht. Dort sei sie jedoch vor allem auf Angst gestoßen, dass der DPG Schaden entstehen könne – und auf Unwissen: Sie waren „äußerst erstaunt, als ich erzählen konnte, dass es mehrmals gelungen war, Leute durch diplomatische Verbindungen und auch durch andere Aktionen herauszukriegen.“[7]
Reich dankte ihr schon am 19. November für ihre Mitteilungen und fragte nach: Edith „sollte ja am Sonnabend herauskommen. Ist es geglückt?“[8]
Er muss schnell erfahren haben, dass dies nicht der Fall war. Mit Sicherheit hat er sich weiter um ihre Freilassung bemüht. Aber dem konnte ich bei meinem Besuch im Reich-Archiv nicht weiter nachgehen.
Noch in seinen autobiografischen Aufzeichnungen „Menschen im Staat“ bezeichnete Wilhelm Reich Edith Jacobson rückblickend als „eine Frau besonderer geistiger Klarheit und tiefer Menschlichkeit“.[9]
Edith Jacobsohn: Warum fällt es der Mutter schwer, ihr Kind sexuell aufzuklären?, in Die Warte 8/1932, S. 6
Unleserliche Zeilen:
(…) Da sich das Geschlechtsleben der Menschschen genauso wie sein geistiges Leben von der Kindheit an
(…) festwurzelnden falschen Einstellung zur Sexualität befreien kann. So hindert die frühe Verbiegung des natür-
(…) Ist es am Ende ein ganz „natürliches“ Gefühl, das sie hindert, sich dem Kind gegen-
(…) wenn wir unsere Kinder besser erziehen wollen, als man uns erzog.
Ähnliche Themen:
Kaufhold, R. (2020); Rudolf Eksteins „Sexualpolitik des Faschismus“ (Mai 1937).
Kaufhold, R. (2022): Erinnerungen an vertriebene jüdische Psychoanalytiker und Wilhelm Reichs Faschismus-Analysen.
Kaufhold, R. (2023): „Wir haben hier einen Dr. Reich, einen wertvollen, aber ungestümen jungen Mann…“.
Im Januar 2024 erscheint Roland Kaufholds Artikel „Edith Jacobson als bedeutende Pionierin in der Geschichte der Kinderanalyse“ in Kinderanalyse, 32 (1), 2024.
Bild oben: Titelseite der „Warte“ mit einem Foto Clara Zetkins
[1] Warum fällt es der Mutter schwer, ihr Kind sexuell aufzuklären?, in Die Warte 8/1932. Da in der „Warte“ auch Pseudonyme verwendet und Beiträge nicht durchweg namentlich gekennzeichnet wurden, außerdem nur Teile dieser Zeitschrift archiviert sind, dürfte es dort noch andere Artikel von Jacobson gegeben haben.
[2] Andreas Peglau (2017): Unpolitische Wissenschaft. Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 125f.
[3] Ebd., S. 170f.
[4] Quelle: Privatarchiv A. Peglau.
[5] Vgl. Judith Kessler & Roland Kaufhold (Hrsg., 2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 12, 14f, 52-56, 61-64.
[6] Ebd. Personen, denen Reich freundschaftlich und/ oder kollegial verbunden war oder zu denen zumindest persönlicher Kontakt bestand. Stella Brown war eine englische feministische Autorin, die auch eine Schrift Hodanns übersetzt hatte.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] Wilhelm Reich (1995): Menschen im Staat, Stroemfeld/ Nexus, S. 238.