„Wir haben hier einen Dr. Reich, einen wertvollen, aber ungestümen jungen Mann…“

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Wilhelm Reich, aufgenommen von Ludwig Gutman, geboren am 23.6.1869 in Horn, ermordet am 18.4.1943 im Ghetto Theresienstadt.

Myron Sharafs großartige Wilhelm Reich-Biografie

Von Roland Kaufhold

Kein Psychoanalytiker hat so heftige Auseinandersetzungen ausgelöst wie der ungestüme, außergewöhnlich produktive psychoanalytische Theoretiker und zeitweilige Marxist Wilhelm Reich. Die Deutungs- und Aneignungsversuche von Reichs imposantem Lebenswerk halten bis heute an (Peglau 2013, Kaufhold & Hristeva 2021).

Anfangs hielt auch Sigmund Freud große Stücke auf den 1897 geborenen Wilhelm Reich: „Wir haben hier einen Dr. Reich, einen wertvollen, aber ungestümen jungen Mann, seinem Steckenpferd leidenschaftlich ergeben, der nunmehr den genitalen Orgasmus als Gegenmittel gegen jegliche Neurose preist. Er mag von Ihrer Analyse (…) vielleicht lernen, etwas Respekt vor der komplizierten Natur der menschlichen Psyche zu empfinden.“ (S. 125) Dies schrieb Sigmund Freud am 9.5.1928 an Lou Andreas-Salomé.

Später, als der Nationalsozialismus seine zerstörerische Macht auch in Freuds Wien zeigte, sollte sich das Verhältnis zwischen den Beiden verfinstern – bis hin zum von Intrigen geprägten Ausschluss Reichs aus den psychoanalytischen Standesverbänden (vgl. Kaufhold & Wirth 2006, Peglau 2013, Reich 2020).

Die Folgewirkungen hiervon ereilten Reich auch im skandinavischen sowie im amerikanischen Exil, wie Sharaf detailreich in seiner faszinierenden Reich-Biografie nachzeichnet.

Myron Sharaf, ein amerikanischer Hochschullehrer und Reich-Weggefährte, hatte bereits als 18-Jähriger in den USA Kontakt zu Reich gefunden. Dennoch wahrte er sich eine gewisse Distanz. Die Fähigkeit zur kritischen, dennoch von starker Sympathie getragenen Betrachtung zeigt sich auch im Buch, was eines seiner Stärken ist.

Als Wilhelm Reich erfuhr, dass Sharaf an einem Buch über ihn arbeitete, untersagte er ihm dies. Seine Biografie sei sein Eigentum. Reich war nicht immer talentiert darin, Mitstreiter als gleichberechtigte Partner zu akzeptieren und diese zu ermutigen. 

1983 erschien Sharafs Biografie in den USA, 1994 folgte eine deutsche Übersetzung unter dem Titel Der heilige Zorn des Lebendigen. Nun ist das Werk endlich wieder zugänglich. Es gibt keine bessere Reich-Biografie.

Sie ergänzt Andreas Peglaus Reich-Studien (Peglau 2013, Reich 2020), deren Fokus auf Reichs marxistisch-psychoanalytischen Werken, insbesondere dessen Faschismusstudien aus den 1920er und 1930er Jahren, liegen. 

Sharaf zeichnet Reichs familiären Wiener Anfänge nach, die durch den Suizid seiner Mutter und den frühen Tod seines Vaters überlagert sind. Diese frühen Traumata dürften viele der späteren Kämpfe und Spaltungen, die Reich erlebte und an denen er nicht unbeteiligt war, mit beeinflusst haben. Auch dies wird bei der Lektüre deutlich.

Auch seine Ehen und zahlreichen, fragilen Freundschaften, u.a. mit Annie Reich (geb. Pink), Elsa Lindenberg sowie Ilse Ollendorf  – diese hat neben ihren eigenen Lebenserinnerungen an Reich (Ollendorf-Reich 1975) auch ein Zeitzeugeninterview hinterlassen – werden in der Biografie aufgearbeitet.

Nach detailreichen Rekonstruktionen von Reichs imposantem Wirken in Wien, Berlin sowie im skandinavischen Exil zeichnet Sharaf auf 150 Seiten das Drama von Wilhelm Reichs letzten Lebensjahren nach, die in seinem Tod im Jahr 1957 in einem amerikanischen Gefängnis mündeten. Die „rechten“ Verfolgungsmaßnahmen im Amerika ab den späten 1940er Jahren gegen Rech werden gut lesbar aufgearbeitet und hinterlassen ein Gefühl der Bestürzung. Reich wiederum reagierte auf diese Angriffe mit einer ihn kennzeichnenden Kompromisslosigkeit. Und er schrieb auch im amerikanischen Exil, nun auf Englisch, immer neue Bücher, verabschiedete sich hierbei vom Marxismus seine Wiener Jahre

Auch Reichs – durchaus umstrittenen – Orgon-Experimente in den USA zeichnet Sharaf detailreich nach. Reich war überzeugt davon, hierdurch u.a. auch Krebs heilen zu können. Er kreierte Begriffe wie Cloudbuster („Wolkenbrecher“). Die Musikerin Kate Bush war nach der Lektüre der Erinnerungen von Reichs Sohn Peter (Peter Reich 1975) – dieser war beim Tode seines Vater 13 Jahre alt – so berührt, dass sie diesem 1985 das aufwendig produzierte Musikvideo Cloudbusting widmete.

Auch Reichs Unterstützertätigkeit für die mutige Berliner Psychoanalytikerin und Widerstandskämpferin Edith Jacobson, die eine 2 1/2jährige Gestapo-Untersuchungshaft überlebte und dann in die USA floh (vgl. Kessler 2015, Kessler & Kaufhold, 2015), wird kenntnisreich nachgezeichnet.

Der vielleicht wichtigste Briefpartner Reichs, ab 1936 bis zu Reichs Tod, war der englische Reformpädagoge Alexander S. Neill. Deren Briefwechsel erscheint dieser Tage in einer Neuauflage (Reich & Neill 2023), als sinnvolle Ergänzung zu Myron Sharafs monumentaler Biografie.

Auch die Ambivalenz, die Reich gegenüber seiner jüdischen Identität empfand – er wollte „nicht als Jude kategorisiert“ werden (S. 560) – , wird nachgezeichnet. Seinem Sohn Peter sagte er, als dieser ihn kurz vor seinem Tod im Gefängnis besuchte, er solle bei seinem Tode nicht nur weinen sondern auch beten. Wilhelm Reich verstarb 60-jährig, Ende 1957, in einem amerikanischen Gefängnis.

Myron Sharaf (2022): Wilhelm Reich – Erforscher des Lebendigen. Eine Biografie. Gießen: Psychosozial Verlag, 629 S., 59,90 Euro, Bestellen?
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe

In der Zeitschrift psychosozial wird 2023 oder 2024 eine umfangreiche Besprechung des Werkes, verfasst von Roland Kaufhold, erscheinen.

Bild oben: Wilhelm Reich, fotografiert von L. Gutmann, Wien

Literatur

Kaufhold, R. (2020): Einer gegen alle. Wilhelm Reichs „Massenpsychologie des Faschismus“ aus dem Jahr 1933 ist wieder zugänglich, Jüdische Allgemeine; längere Version auf haGalil, 2.7.2020. https://www.hagalil.com/2020/07/wilhelm-reich-3/

Kaufhold, R. & G. Hristeva (2019): „Erinnerungen an eine chaotische Welt“. Die Lebenserinnerungen von Lore Reich Rubin, Wilhelm und Annie Reichs Tochter, haGalil, 29.12.2020: https://www.hagalil.com/2020/12/lore-reich-rubin/

Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): „Das Leben ist aus. Abrechnung halten!“ Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In: Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021, S. 7 – 66. https://www.psychosozial-verlag.de/8357 Eine Kurzversion: https://www.hagalil.com/2022/03/vertriebene-juedische-psychoanalytiker/

Kessler, J. (2015): Das schwarze Heft. Wie ich ein Vierteljahrhundert auf Edith Jacobsons Gefängnisnotizen saß, in: Kessler & Kaufhold, 2015, S. 11-44.

Kessler, J. & R. Kaufhold (Hg., 2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial Verlag.

Ollendorff-Reich, I. (1975): Wilhelm Reich. Das Leben des großen Psychoanalytikers und Forschers, aufgezeichnet von seiner Frau und Mitarbeiterin. München: Kindler.

Peglau, A. (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Reich, P. (1975): Der Traumvater. Meine Erinnerungen an Wilhelm Reich. München/Gütersloh/Wien: Bertelsmann.

Reich Rubin, L. (2019): Erinnerungen an eine chaotische Welt. Mein Leben als Tochter von Annie Reich und Wilhelm Reich. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Reich, W. (2020): Massenpsychologie des Faschismus, Hg. Andreas Peglau. Gießen: Psychosozial Verlag.

Reich, W. & A. S. Neill (2023): Zeugnisse einer Freundschaft. Der Briefwechsel 1936-1957. Gießen: Psychosozial Verlag.