Die politische Psychoanalyse und ihr verdrängter Exponent Wilhelm Reich

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Nach dem Erscheinen meines Buches im August 2013 hatte ich mehrfach Gelegenheit, dessen Inhalt bei öffentlichen Veranstaltungen vorzustellen. Anschließend wurde ich jedes Mal gebeten, das Mitgeteilte auch zu veröffentlichen. Ich habe diese Vorträge nun deshalb zum vorliegenden Text zusammengestellt. Ich hoffe, er gibt nicht nur einen guten Überblick über wesentliche Ergebnisse meiner Recherchen, sondern weckt ebenfalls Interesse, sich mit dem Buch selbst zu befassen. Dort finden sich auch die Quellen zu den hier angegebenen Zitaten und Funden sowie ein 50-seitiger Anhang, in dem mehrere der erwähnten Dokumente abgebildet sind…

Von Andreas Peglau

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Mein Interesse an der Psychoanalyse besteht seit mittlerweile 35 Jahren. Es ist aber eigentlich zu ungenau, wenn ich sage an »der« Psychoanalyse: Ich habe mich noch nie für eine bloße Thera­piemethode namens »Psychoanalyse« interessiert. Die Freud’sche Lehre ist meiner Ansicht nach allerdings ohnehin viel mehr als das – nicht zuletzt eine im Kern sozialkritische Theorie und Pra­xis. Wer so denkt, stößt wohl unweigerlich früher oder später auf Wilhelm Reich.

Schon zu Beginn der 1990er Jahre hätte ich gern gewusst, was Reich insbesondere in meiner Heimatstadt Berlin getan hat – wo er zwischen 1930 und 1933 lebte. Aber gerade da klaffte eine große Forschungslücke. Erst 2007, in dem Jahr also, in dem Reich seinen 110. Geburts- und 50. Todestag hatte, habe ich mich dann daran gemacht, diese Lücke zu verkleinern. Der Anlass war, dass ich während einer Gedenktafeleinweihung an Reichs Berliner Wohnhaus Lore Rubin Reich kennenlernte, die jüngere Tochter Reichs. Wir kamen in einen sehr lebendigen Austausch und ich zeigte ihr den Platz gegenüber der Humboldt-Universität, wo auch die Bücher ihres Vaters am 10. Mai 1933 verbrannt wurden.

Das intensivierte meinen bereits vorhandenen Wunsch, zu erfahren, wie denn überhaupt im NS-Staat mit psychoanalytischen Schriften umgegangen wurde. Da dazu aber erstaunlicherweise keine ausführlichen Ausarbeitungen existierten, entschloss ich mich, selbst zu recherchieren.

Es schien mir klar zu sein, dass analytische Literatur und Analyse radikal unterdrückt worden sein mussten – was ja auch vielfach in psychoanalysehistorischen Schriften behauptet wird. So schrieben die französische Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco und ihr Ko-Autor Michel Plon 2004 im Wörterbuch der Psychoanalyse, der Nationalsozialismus sah »die radikale Vernich­tung« der analytischen »Begriffe, Werke, Institutionen, Bewegung und Therapeuten« vor, er habe ein »Vernichtungsprogramm der Psychoanalyse« durchgeführt.

Die Bilanz, die ich nach siebenjähriger Arbeit diesbezüglich zu ziehen habe, ist eine ganz an­dere.

Die Psychoanalyse in ihrer Gesamtheit wurde keinesfalls vom Nationalsozialismus verfolgt. Wenn Psychoanalytiker zu Opfern des NS-Systems wurden, dann niemals, weil sie Psychoanaly­tiker waren, sondern ausschließlich wegen ihrer jüdischen Herkunft oder widerständigen, insbe­sondere politisch »linken« Äußerungen oder Aktivitäten.

Der einzige Psychoanalytiker, der wegen seines politischen Engagements 1933 aus Preußen, 1934 offenbar auch aus Deutschland ausgewiesen und 1939, nach dem »Österreich-Anschluss«, zudem ausgebürgert wurde, war Wilhelm Reich. Weder Sigmund noch Anna Freud wurden aus­gebürgert.

Konsequent unterdrückt wurde nur ein sehr kleiner Teil der Psychoanalyse, nämlich deren offen gesellschaftskritische, vor allem »linke« Ausrichtung – deren Hauptvertreter wiederum Reich war. Wesentliche Teile insbesondere des therapeutischen analytischen Wissens wurden dage­gen von NS-Verantwortlichen toleriert und pragmatisch genutzt. Wie schon Geoffrey Cocks entdeckte, nahm das 1936 gegründete Deutsche Institut für psychologische Forschung und Psy­chotherapie – oft als Göring-Institut bezeichnet – auch Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse in die Materialsammlung zur psychologischen Kriegsführung auf.

Von einem pauschalen Verbot oder gar einer »Ausrottung« kann also weder bezüglich der Psychoanalyse noch ihres Vokabulars oder ihrer Schriften die Rede sein.

In den ersten Monaten des Dritten Reiches hatte sich die Situation allerdings noch anders darge­stellt. Offenbar gab es Bemühungen, gegen die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft vorzu­gehen. Auch in die Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 war die Psychoanalyse einbezogen. Der dabei ausgerufene »Feuerspruch« wird in der einschlägigen Literatur meist so kolportiert: »Ich übergebe dem Feuer die Schriften des Sigmund Freud!«

Wie sich anhand eines erhalten gebliebenen Tondokumentes feststellen ließ, wurde jedoch -deutschlandweit übertragen im Radio – tatsächlich ausgerufen: »Ich übergebe dem Feuer die Schriften der Schule [!] Sigmund Freuds!« Das Verbrennungsritual war also eindeutig gegen die analytische Lehre und die analytischen Schriften in ihrer Gesamtheit gerichtet.

Trotz der Pauschalität dieser Attacke wurden allerdings – soweit nachgewiesen – zusätzlich zu Sigmund Freud nur Schriften drei weiterer Analytiker verbrannt: Anna Freud, Siegfried Bernfeld – und Wilhelm Reich. Ich denke, der Grund dafür ist: In dem hochgradig ritualisierten Verbrennungsprozedere genügte es, einige wenige Autoren auszuwählen, die die Gesamt­heit der Aspekte symbolisierten, die vielen Nationalsozialisten besonders hassenswert erschie­nen.

Doch bereits zwei Monate später, im Juli 1933, wurden für die Verbote analytischer Schriften Kriterien herangezogen, die man – für NS-Verhältnisse – nur als erstaunlich tolerant bezeichnen kann. Das lässt sich anhand eines Dokumentes aus dem Archiv der Deutschen Nationalbiblio­thek Leipzig belegen, in dem die zuständige Kommission ihre Grundsätze erläutert:

»1. unangetastet bleiben soll dasjenige Schrifttum, in welchem die Psychoanalyse und die In-dividualpsychologie von ihren Begründern und denen, die sie wissenschaftlich weiterbildeten, dargestellt wird. Von dem geistigen Bilde dieser Art des Denkens und Forschens soll kein ir­gend wesentlicher Zug getilgt werden.

2. auszumerzen ist dasjenige Schrifttum, das – ohne von dem Grundsatz 1 betroffen zu wer­den – mit Sinn und Geist der Nationalsozialistischen Bewegung in einem nicht verträglichen Widerspruche steht.«

Psychoanalyse und Individualpsychologie galten hier nun also prinzipiell als erhaltenswert – auch für den Nationalsozialismus. Man billigte ihnen wissenschaftlichen Charakter zu und verzichtete auf Diffamierungen. Jedoch wollte man offenbar nicht leugnen, dass aus ihnen auch Schriften hervorgegangen waren, die mit dem NS-Regime nicht kompatibel waren. Entsprachen sie aber der in Punkt 1 geforderten grundlegenden Bedeutung, sollten sie dennoch erhalten bleiben. Nur was dem Nationalsozialismus zuwiderlief und keine wissenschaftliche Bedeutung hatte, oder was – so wurde später ergänzt – in zu krassem Widerspruch mit NS-Normen stand, sollte »ausge­merzt« werden.

Für 64 Schriften von 41 psychoanalytischen bzw. der Analyse nahestehenden Autorinnen und Autoren wurde dann ein Verbot beantragt – das war weit weniger als die Hälfte analytischer Publikationen. Allein die Gesamtzahl von Sigmund Freuds Veröffentlichungen (Vor- und Ge­denkworte nicht mitgerechnet) betrug zu diesem Zeitpunkt mehr als 130. Bei Freud wurde je­doch nur seine Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung als nicht erhaltenswert an­gesehen sowie die Einzelausgabe der Traumdeutung. Deren Ausgabe in den Gesammelten Werken sowie auch die Gesammelten Werke selbst und alle anderen Freud-Schriften sollten unangetastet bleiben. Von Adlers etwa 70 Schriften hielt man nur Individualpsychologie in der Schule für indi-zierungsbedürftig. Hier waren also definitiv keine Zensoren am Werk, die die Psychoanalyse und Individualpsychologie so tief wie möglich treffen wollten – oder sollten.

Der einzige Psychoanalytiker, bei dem bereits 1933 ein Gesamtverbot für erforderlich gehal­ten wurde, war Wilhelm Reich. Während der gesamten NS-Zeit betrafen ihn die bei Weitem umfangreichsten Maßnahmen, die gegen einen analytischen Autor ergriffen wurden.

Erst 1935 wurde dann auch für Sigmund und Anna Freud eine Komplettindizierung für not­wendig befunden. Bei Adler ist dergleichen nie erfolgt. Wie andere analytische und individual-psychologische Autoren war er dann allerdings davon betroffen, dass am 15. April 1940 alle »voll- und halbjüdischen« Autoren pauschal unter ein Totalverbot gestellt wurden. Entscheidend für den Umgang mit Büchern blieb jedoch die »Liste des schädlichen und unerwünschten Schrift­tums«, auf die bis 1943 weiterhin einzelne Autoren und Werke gesetzt wurden. Hier wurden aber nach 1933 nur noch ganze fünf analytische und ein einziger individualpsychologischer Autor ergänzt, zwei individualpsychologische Autoren und ein analytisches Buch verschwanden sogar wieder von der Liste. Ein Komplettverbot psychoanalytischer oder individualpsychologischer Literatur war nie geplant und ist auch nie erfolgt.

Es trifft auch nicht zu, dass Freuds Name, seine Erkenntnisse und die von ihm kreierten Begriffe ab 1933 in Deutschland grundsätzlich nur noch in abwertender Weise erwähnt werden durften. Klare Diffamierungen, die über das hinausgingen, was der Analyse schon vor 1933 zur Last ge­legt wurde, Attacken, die sich als »typisch nationalsozialistisch« einordnen ließen, waren in den deutschen Fachblättern eine ausgesprochene Seltenheit und lassen sich auch außerhalb der Fach­literatur nur in relativ wenigen Fällen nachweisen.

Die aggressivste Herabwürdigung im Zentralblatt für Psychotherapie – dem wichtigsten deut­schen Psychotherapeutenblatt – stammt aus dem Jahr 1934 und von C.G. Jung:

»Meines Erachtens ist es ein schwerer Fehler der bisherigen medizinischen Psychologie gewe­sen, dass sie jüdische Kategorien […] unbesehen auf den christlichen Germanen oder Slawen verwandte […]. Freud […] kannte die germanische Seele nicht, so wenig wie alle seine germa­nischen Nachbeter sie kannten. Hat sie die gewaltige Erscheinung des Nationalsozialismus […] eines Besseren belehrt? Wo war die unerhörte Spannung und Wucht, als es noch keinen Nationalsozialismus gab? Sie lag verborgen in der germanischen Seele, in jenem tiefen Grunde, der alles andere ist als der Kehrichtkübel unerfüllbarer Kinderwünsche und unerledigter Fami­lienressentiments.«

Sowohl im Zentralblatt für Psychotherapie als auch im Zentralblatt für die gesamte Neurologie und Psychiatrie wurde dagegen häufig, offen und oft eindeutig positiv zu Aspekten von Freuds Lehre Stellung genommen und Freud’sche Terminologie verwendet – von Psychoanalytikern wie von Nichtpsychoanalytikern; und das, bis diese Zeitschriften 1943 bzw. 1944 kriegsbedingt einge­stellt wurden. Ein Beispiel von vielen: 1 935 schrieb der niederländische Psychoanalytiker van der Hoop im Zentralblatt für Psychotherapie: »Ich sehe in der Psychoanalyse die objektivste Psychotherapie, die wir jetzt besitzen und be­mühe mich, diese so gut wie möglich auszuüben. Ich bewundere an Freud nicht nur die Genia­lität seiner Methode und seiner Einsichten und die meisterhafte Genauigkeit, mit der er und seine Schüler dieses ungeheure neue Gebiet durchforschen, sondern vor allem seinen morali­schen Mut zur Wahrheit, um den mancher Forscher ihn beneiden kann.«

Die vielfachen Erwähnungen der Psychoanalyse in den Zentralblättern geschahen nicht zuletzt per Rezension. Was da rezensiert wurde, befand sich in der Regel auch auf dem deutschen Buchmarkt oder war zumindest legal erhältlich. Und nicht nur das: Es wurden sogar zahlreiche, durch das NS-Propagandaministerium – in einem jedoch geheimen Verfahren – verbotene analyti­sche Schriften in diesen Artikeln gewürdigt, durch diese Rezensionen, bis 1936 auch durch ent­sprechende Anzeigenwerbung im Börsenblatt des deutschen Buchhandels, beworben. Noch im De­zember 1 934 gab es, so stellte Lydia Marinelli fest, im Börsenblatt eine ganzseitige Anzeige für den aktuellen Almanach der Psychoanalyse.

Am 1 4. Mai 1 939 stand, wie Karen Brecht und andere dokumentierten, das vorsichtige Lob einer allerdings als »arisch« umgedeuteten Psychoanalyse sogar im Völkischen Beobachter. Das war nicht nur mit knapp einer Million Exemplaren die auflagenstärkste deutsche Tageszeitung, son­dern auch das führende Organ der NSDAP, »gleichsam staats- wie parteioffiziell«, herausgege­ben vom NS-»Chefideologen« Alfred Rosenberg.

Auch auf Fachtagungen und in den dazugehörigen, der Öffentlichkeit zugänglichen Tagungs­bänden wurde psychoanalytisches Gedankengut deutlich und wertschätzend einbezogen; auch hier mit dem Versuch verbunden, dafür angebliche »arische« Wurzeln kenntlich zu machen. Der Begriff des Unbewussten – zwar nicht von Freud stammend, aber erst durch ihn mit psychothe­rapeutischem Inhalt gefüllt – wurde zum zentralen Bezugspunkt der sogenannten »neuen deut­schen Seelenheilkunde«. Diese definierte sich selbst vielfach ganz unverblümt als »Tiefenpsycho­logie«: ein Begriff, den auch Freud seit 1913 verwendete, um seine Therapierichtung zu charak­terisieren.

Für die Integration analytischer Inhalte in die NS-Psychotherapie möchte ich zwei Belege an­führen.

1940 fand in Wien die dritte Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie statt. Matthias Heinrich Göring, der »Reichsführer« der deutschen Therapeuten und Vetter von Reichsmarschall Hermann Göring, hielt die Eröffnungsansprache. Darin betonte er, man wolle sich mit der »Tiefenpsychologie im allgemeinen« befassen und zeigen, dass »die Tiefenpsychologie in das ganze menschliche Leben hineingreift«. Zur menschlichen Ganzheit gehöre

»auch das Unbewußte im Menschen. Unsere [ärztliche] Gesellschaft sieht es als eine ihrer vornehmsten Aufgaben an, den Ärzten, den Pädagogen, überhaupt allen Volksgenossen, die sich mit Menschenführung befassen, nicht zuletzt auch in der Wehrmacht und in der Wirt­schaft, zuzurufen: Vergeßt das Unbewußte nicht! Glaubt doch nicht den Menschen als Gan­zes zu erfassen, wenn ihr vor dem Unbewußten die Augen schließt!«

Zwei Jahre zuvor hatte die zweite Tagung der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie stattgefunden. Zu deren Beginn hatte man Adolf Hitler ein Dank- und Grußte­legramm gesandt, auf das dieser wie folgt antwortete:

»Der Deutschen Allgemeinen Ärztlichen Gesellschaft für Psychotherapie danke ich für ihr Treuegelöbnis und für die Meldung von der Errichtung eines Deutschen Institutes für Psy­chologische Forschung und Psychotherapie. Ich wünsche Ihrer Arbeit guten Erfolg.«

Das ist umso bemerkenswerter, als die Arbeit dieses Instituts im Wesentlichen auf tiefenpsycho­logischer Therapie basierte – und tiefenpsychologische Therapie im Wesentlichen auf Freud.

Auf eben jener zweiten Tagung traf dann der Nicht-Analytiker Fritz Mohr folgende Feststel­lungen:

»Die moderne Psychotherapie geht aus von der Tatsache, daß unbewußte, in der persönlichen Kindheit oder in der Urzeit der Menschheit liegende, dem Triebleben angehörende Erinnerun­gen, Einübungen oder Bilder auch im Leben des erwachsenen Kulturmenschen eine ausschlag­gebende Rolle spielen, [.] daß aber auch innere Konflikte [.] uns mehr zerspalten, als wir wissen. [.]

Man hat an dem Begriff Verdrängung Anstoß genommen. Aber kann irgend ein Mensch leugnen, daß wir tausendfach im Leben Dinge vergessen oder beiseite schieben, die uns unan­genehm sind? [.]

Daß überall da, wo Menschen Zusammenhänge, die ihnen peinlich sind, erkennen sollen, sich innere Widerstände erheben, bejahen alle psychotherapeutischen Schulen. [.]

Die Bedeutung der Träume als eines Mittels zur Erkennung unbewußter Wünsche und Re­gungen wird von allen zugegeben [.].

Das, was man analytisch den Wiederholungszwang genannt hat [.], entspringt ebenfalls einer allgemein menschlichen Tendenz [.].

Auch die Tatsache der Uebertragung der Affekte auf den behandelnden Arzt wird ernsthaft von keiner Schule bestritten und findet ihre Analogie im sonstigen Leben in allen zwischen­menschlichen Beziehungen [.].

Man sieht aus allem Bisherigen[…]: Die gemeinsamen Grundlagen und Berührungspunkte aller seelischen Behandlungsmethoden sind so groß, daß demgegenüber die Unterschiede für die Wirkung nur sehr wenig in Betracht kommen.«

1914 hatte Freud definiert, jede Forschungsrichtung, die Übertragung und Widerstand aner­kennt, dürfe sich Psychoanalyse nennen. Dementsprechend wäre also auch die »neue deutsche Seelenheilkunde«: Psychoanalyse. In jedem Fall konnte die »neue deutsche Seelenheilkunde« nie­mals grundsätzlich konträr zum Inhalt der Psychoanalyse stehen oder diese pauschal bekämpfen: Sie hätte in erheblichem Maß gegen sich selbst gekämpft.

Auf diesem Hintergrund wundert es wohl nicht mehr, dass nichtjüdische Psychoanalytiker ihre Praxen offiziell in NS-Deutschland weiterführen durften. Die staatlichen Krankenkassen, die »Deutsche Arbeitsfront« und damit die hinter Letzterer stehende NSDAP stellten sogar Geld für die Behandlungstätigkeit des Göring-Instituts zur Verfügung, förderten damit also auch die dort keinesfalls durchweg unter »Tarnbezeichnungen« durchgeführten psychoanalytischen Behand­lungen.

Wie schon Regine Lockot berichtet, ging Reichsmarschall Hermann Göring 1944 »zum Ana­lytiker«, das heißt, er ließ sich heimlich von Harald Schultz-Hencke behandeln. Aber auch ande­re NS-Funktionäre verschiedener Führungsebenen hatten eine zumindest ambivalente Haltung zur Psychoanalyse.

Dass all dies möglich war, lag nicht zuletzt an der weitreichenden Anpassung der in Deutschland verbliebenen Analytiker, die diverse Zuarbeiten zum NS-System leisteten, die zwangsläufig zu schuldhafter Verstrickung führten. Analytiker waren integriert in Forschungen zur psychologi­schen Kriegsführung, behandelten Soldaten, die an Massenexekutionen teilgenommen hatten, traten als Gutachter in Wehrmachtsprozessen auf und arbeiteten der Aburteilung homosexueller Soldaten als angebliche Wehrkraftzersetzer zu.

Felix Boehm, Werner Kemper, Carl Müller-Braunschweig, Harald Schultz-Hencke und John Rittmeister waren zudem beteiligt an der – offenbar auf Eigeninitiative der Therapeuten des

Göring-Institutes zustande gekommenen – Ausarbeitung eines Diagnose-Schemas, das zehn bis 15 Prozent der eigenen Patienten mit einer Stigmatisierung versah, die unter den im Institut bes­tens bekannten Rahmenbedingungen zu Sterilisation und Euthanasie führen konnte.

Die internationale Analytikerorganisation flankierte diese Anpassung der nichtjüdischen deut­schen Analytiker an das NS-System mit jahrelangem weitgehenden Beschweigen des Faschismus und nahezu völligem Ausblenden faschistischer Verbrechen in ihren Berichten und in den Publi­kationen ihrer Mitglieder: Ich habe ein halbes Jahr lang so gut wie vergeblich nach offen faschis­muskritischen Artikeln in den internationalen psychoanalytischen Zeitschriften oder in sonstigen Publikationen von IPV-Mitgliedern zwischen 1932 und 1941 gesucht.

Aber auch das belegt kein »unpolitisches« Vorgehen der IPV – ganz im Gegenteil. Sich an ein politisches System anzupassen, Terror zu verschweigen, ist politisches Handeln. Ohnehin dürfte nach meinen bisherigen Ausführungen bereits klar sein: Auch nach 1933 wurde die Psychoanaly­se in keiner Weise »unpolitisch«.

Psychoanalytiker brachten ihr Fachwissen nun in politisch brisanten Zusammenhängen nicht nur für den Faschismus ein, sondern zeitgleich in den USA gegen den Faschismus. Wie Knuth Müller in seiner Dissertation herausgearbeitet hat, war die Hälfte der Mitglieder der US-ameri­kanischen Analytikerorganisation 1941 Mitarbeiter von US-Geheimdiensten; die APA erklärte zudem auch als Gesamtorganisation ihre Bereitschaft zu dieser Zusammenarbeit. Nach 1945 kooperierten Analytiker in ähnlicher Weise weiter, beteiligten sich dabei auch an inhumanen Menschenversuchen: Jetzt ging es gegen den Kommunismus.

Auch Psychoanalytiker hatten – und haben – nur die Wahl, welche Art von Politik sie unter­stützen oder auch selbst vertreten wollen.

Und natürlich stand auch hinter dem 1933/34 erfolgten Ausschluss Wilhelm Reichs nicht zuletzt eine offenkundig politische Absicht: die Integration der Psychoanalyse in das NS-System zu er­leichtern. Anders gesagt: Diese Integration war – und hier sind die beiden Schwerpunkte meiner Arbeit untrennbar verbunden – nur möglich, nachdem sich DPG und IPV 1933/34 des einzigen Kollegen entledigt hatten, der schon zuvor als Kommunist und Antifaschist in Erscheinung getre­ten war und nun auch öffentlich gegen den NS-Staat auftrat und publizierte: Wilhelm Reich.

Ich meine sogar: Die Geschichte der Psychoanalyse während der NS-Zeit lässt sich nur voll­ständig und nachvollziehbar erzählen, wenn Reich dabei eine herausragende Rolle zugestanden wird.

(2)

1897 in Galizien als Sohn jüdischer Eltern geboren, kam Wilhelm Reich 1918 nach Wien, stu­dierte hier Medizin, traf 1919 Freud, begann im selben Jahr – also im Alter von nur 22 Jahren -psychoanalytisch zu behandeln. 1920 wurde Reich in die Wiener Psychoanalytische Vereinigung aufgenommen, 1922 Doktor der Medizin und Sekundararzt am WPV-Ambulatorium, 1 924 Lei­ter des ausbildungstechnischen Seminars der WPV, sodass ihm »mitzuverdanken« ist, »daß die therapeutische Technik der Psychoanalyse zu einer systematischen lehr- und lernbaren Methode wurde«.

1925 wurde er Lehranalytiker und veröffentlichte sein erstes Buch: Der triebhafte Charakter, das Freud als »wichtigen Fortschritt in der Erkenntnis der Krankheitsformen« bezeichnete. Wei­tere Bücher und diverse Artikel sollten bis 1 930 folgen.

1927 wurde Reich in den WPV-Vorstand aufgenommen. Im selben Jahr schrieb ihm Freud:

»Ich habe die volle Schätzung für Ihren Enthusiasmus, Ihre Energie u[nd] Ihre Arbeit [.]. Auch dass Sie ein >Neuerer< sind oder sein wollen, kann Ihnen in meinen Augen nicht scha­den [.]. Sie sind mit der Aufgabe betraut, die analytischen Kindlein in der Ausübung der Analyse zu unterrichten. Das allgemeine Urteil dazu lautet niemand in Wien kann es besser machen.«

Halten wir also bis dahin fest: Reich war in den 1920er Jahren einer von Freuds wichtigsten und kreativsten Mitstreitern.

Allerdings, so Freud weiter im selben Brief, konzentriere sich Reich zu sehr auf seine eigenen Auslegungen, sodass Freud mahnte, »dass Sie Ihre persönliche Arbeit und Ihren Unterricht aus­einanderhalten und den Jungen das geben, was bereits Gemeingut ist, u[nd] sie noch nicht für Ihre Neuigkeiten engagieren«.

Bekanntermaßen sollten sich die Spannungen zwischen Reich und Freud zuspitzen, nicht zu­letzt, weil Reich dieser Mahnung Freuds nicht folgte, außerdem die Todestrieb-These und deren Folgerungen vehement ablehnte und sich seit 1 927 auch öffentlich politisch engagierte – zu­nächst bei der SPÖ, dann innerhalb der KPÖ. 1930 ließ er sich sogar als KPÖ-Kandidat für die Nationalratswahl aufstellen.

Einen Höhepunkt der Kontroversen zwischen Freud und Reich will ich hervorheben, weil er ebenfalls ein interessantes Schlaglicht auf Reichs Bedeutung als Analytiker wirft.

Im Dezember 1 929 referierte Reich in der WPV zum Thema Vorbeugung seelischer Störun­gen. Dabei ging er von den gleichen Erkenntnissen aus, die Freud 1909/10 so formuliert hatte: »Aus der therapeutischen Ohnmacht muß Prophylaxe der Neurosen hervorgehen«. Die »Aufklä­rung der Masse« ist die »gründlichste Prophylaxe der neurotischen Erkrankungen«, Analytiker sollten, so Freud weiter, durch ihre Therapie daran mitwirken.

1929 konkretisierte nun Reich, der beste Schutz vor Neurosen und der sich aus ihnen erge­benden gesellschaftlichen Pathologie sei es, die sozialen Verhältnisse so zu verändern, dass der Sexualunterdrückung dauerhaft der Nährboden entzogen würde. Er wertete diesbezüglich den in der Sowjetunion gemachten Versuch, Kinder in Gruppen und getrennt von den Eltern zu erzie­hen, als Chance, das Entstehen des Ödipuskomplexes und der sich aus ihm ergebenden Neuro­sen zu vermeiden.

In der Diskussion karikierte Freud diesen Vorschlag Reichs als Versuch, Verdauungsbe­schwerden zu therapieren, indem man »dem Patienten das Essen verbietet und einen Stöpsel in den Anus steckt«. Die Familie, so Freud, sei nun einmal »biologisch begründet«. Reichs Erwar­tung, dass »die Massenneurose« radikal geändert werden könne, sei zudem »völlig unpsycholo­gisch«. Nur ein »Dr. Eisenbart« – also ein »prahlerischer Quacksalber« – könne nach Ansicht Freuds in Angriff nehmen, »die Neurose radikal [zu] beseitigen«.

Der sachliche Kern dessen, was Reich hier von Freud entgegen gehalten wurde, deckte sich mit Argumentationslinien, wie sie Freud in dem, im selben Jahr verfassten Buch Das Unbehagen in der Kultur verwendete. Diese Schrift, die ja bald zu einer von Freuds populärsten werden sollte, sei, so schreibt Reich, »zur Abwehr meiner aufblühenden Arbeit und der von ihr ausgehenden >Gefahr<« entstanden.

Eine bloße Anti-Reich-Schrift war das Unbehagen zwar sicher nicht – dazu war der inhaltliche Bogen, den Freud spannte, viel zu weit. Doch auch wenn Freud, der Namensnennungen ohnehin oftmals unter den Tisch fallen ließ, Reich hier nicht namentlich erwähnte: Die Auseinanderset­zung mit ihm war in der Tat eines der zentralen Themen der Schrift.

Kein anderer von Freuds Kollegen vertrat so explizit wie Reich Auffassungen, wie sie Freud hier wiederholt kritisierte: den Glauben an die Möglichkeit anhaltender Bedürfnisbefriedigung, das In-den-Mittelpunkt-Stellen sexuellen Lustgewinns, die Ansicht, auf unterdrückende Erzie­hung, Über-Ich-Erzeugung, Sublimierung verzichten, die sozialen Institutionen grundlegend ver­bessern zu können sowie die Überzeugung von der Nichtexistenz des Todestriebes. Auch wenn sich Freud kritisch dazu äußerte, dass aus Entdeckungsreisen zu »primitiven Völkern und Stäm­men« geschlossen werde, diese würden »ein einfaches, bedürfnisarmes, glückliches Leben […] führen, wie es den kulturell überlegenen Besuchern unerreichbar« sei, dürfte das auf Reich und den von ihm hoch geschätzten und vielfach zitierten Ethnologen Bronislaw Malinowski abzielen. Wenn Freud »die Kommunisten« dafür rügte, dass sie naiverweise glaubten, in der These »[d]er Mensch ist eindeutig gut«, »den Weg zur Erlösung vom Übel gefunden zu haben«, muss er seinen jüngeren Kontrahenten ebenfalls mit im Sinn gehabt haben.

Am Ende des Buches finden sich zwei weitere Sätze, die auf Reich gemünzt zu sein scheinen:

»[W]as hülfe die zutreffendste Analyse der sozialen Neurose, da niemand die Autorität be­sitzt, der Masse die Therapie aufzudrängen? Trotz aller dieser Erschwerungen darf man erwar­ten, daß jemand eines Tages das Wagnis einer solchen Pathologie der kulturellen Gemein­schaften unternehmen wird.«

Anscheinend ließen letztere Formulierungen bei Reich das Gefühl aufkommen, dass Freud seine Intentionen – bald sollte er sich in der Massenpsychologie des Faschismus tatsächlich der Patholo­gie einer kulturellen Gemeinschaft widmen – doch nicht rundweg ablehnte.

Das im Sommer 1932 von Freud beendete Manuskript der Neuen Vorlesungen enthielt dann jedoch bereits den Satz, die psychoanalytischen »Abfallbewegungen« hätten sich jeweils »eines Stücks aus dem Motivenreichtum der Psychoanalyse bemächtigt und sich aufgrund dieser Besitz­ergreifung selbständig gemacht, etwa des Machttriebs, des ethischen Konflikts, der Mutter, der Genitalität usw.«. Mit der »Genitalität« konnte nur Reich gemeint gewesen sein, der hier also von Freud in eine Reihe mit Adler, Jung und Rank gestellt und so eingeordnet wurde, als gehöre er schon nicht mehr dazu. Doch auch das belegt: Freud fand Reich wichtig genug, um sich öf­fentlich und teils ausführlich mit dessen Thesen auseinanderzusetzen.

Völlig »erledigt« war Reich für Freud übrigens zeitlebens nicht. Der von Freud dominierte Internationale Psychoanalytische Verlag gab zwar nicht seinen Namen für Reichs 1933 erschienenes Buch Charakteranalyse – übernahm aber sämtliche Herstellungs-, Vertriebs-, Werbungs- und Abrechnungsaufgaben. Und das über den Beginn der Verlagsliquidierung 1938 hinaus. Freud nahm auch neun von 14 Schriften Reichs, die er in seine Bibliothek aufgenommen hatte, mit in sein Londoner Exil, darunter die Charakteranalyse und die Massenpsychologie des Faschismus. Von einer Feindschaft Freuds gegenüber Reich kann nach meiner Überzeugung daher nicht die Rede sein. Umgekehrt ohnehin nicht.

Noch einmal zurück ins Jahr 1930. Im November übersiedelte Reich nach weiteren Kontrover­sen mit Freud und anderen Analytikern nach Berlin. Hier wurde er nicht nur Mitglied der Deut­schen Psychoanalytischen Gesellschaft und Lehranalytiker – er erwarb sich auch in kurzer Zeit eine für einen Analytiker ungewöhnliche Popularität.

Bereits seit 1929 hatte es um Reichs Schrift Sexualerregung und Sexualbefriedigung in Deutsch­land öffentliche Diskussionen gegeben. Dies war zugleich die einzige analytische Publikation, die während der Weimarer Republik auf den sexualfeindlichen Schund-und-Schmutz-Index gelangte.

Unverzüglich nach seiner Ankunft in Berlin wurde Reich Mitglied der Kommunistischen Par­tei Deutschlands. Alsbald konnte er deren schlagkräftigen Agitations- und Propagandaapparat nutzen, zu dem diverse Verlage, Zeitungen, Zeitschriften, Bibliotheken sowie ein »in der damali­gen politischen Landschaft einzigartig[es]« Schulungssystem gehörten. Das ermöglichte, Literatur in immensen Auflagenhöhen herzustellen und zu verteilen. Dies trug – ebenso wie Reichs Enga­gement im Kampf gegen den Abtreibungsparagrafen 218, seine Dozententätigkeit an der weithin bekannten Marxistischen Arbeiterschule und seine Leitungstätigkeit in einer KP-nahen, sexualre­formerischen Massenorganisation – maßgeblich dazu bei, dass Reich offenbar – nach Freud – der erfolgreichste psychoanalytische Autor im deutschen Sprachraum zwischen 1 930 und 33 wurde und seine Auffassungen zigtausendfach verbreiten konnte.

Noch 1935 sollte die Gestapo dem Auswärtigen Amt mitteilen, Reich habe »im Kampf für den Kommunismus Deutschland mit einer Menge von Schmutzliteratur überschwemmt«. Der DPG-Vorsitzende Felix Boehm berichtete, im Frühjahr 1 933 seien »in öffentlichen Anlagen und Straßen Zehntausende von Zetteln verteilt und angeklebt worden mit dem Inhalt: >Schützt unsere Jugend vor der Reichschen Kulturschande!<« »In unzähligen Flugschriften«, so Boehm an anderer Stelle weiter über seine Bemühungen, die Psychoanalyse den NS-Verantwortlichen anzudienen, »war in Berlin vor Reich gewarnt worden. Gegen dieses Vorurteil hatte ich zu kämpfen«. Auch die der Reich-Überhöhung ebenfalls unverdächtige Anna Freud sprach davon, dass Reichs Auf­fassungen 1 932 »in maßloser propagandistischer Weise in vielen Zehntausenden von Broschüren, Schriften etc.« verbreitet wurden.

Wie bekannt, äußerte Sigmund Freud im Frühjahr 1933 zudem gegenüber seiner Tochter: »Wenn die Psychoanalyse verboten wird, soll sie als [Psychoanalyse] verboten werden, aber nicht als das Gemisch von Analyse und Politik, das Reich vertritt«. Auch diese Formulierung ergab nur Sinn, wenn Freud eine reale Gefahr sah, die Nationalsozialisten könnten die Psycho­analyse mit Reichs Auffassungen gleichsetzen. Bei einem nur mäßig bekannten Analytiker wären solche Befürchtungen gegenstandslos gewesen.

Reich war also ganz offensichtlich bis 1933 ein weit bekannterer und einflussreicherer Psy­choanalytiker als heute meist angenommen wird.

Er blieb auch nach 1933 eine effektiv in die Öffentlichkeit hinein wirkende Ausnahmeerschei­nung innerhalb der Analyse. Nicht zuletzt, weil er sich bis 1941 als einziger Psychoanalytiker weltweit öffentlich sowohl gegen den Nationalsozialismus wie auch gegen den Stalinismus stellte und mit der Massenpsychologie des Faschismus zugleich eine tiefgründige Untersuchung der »rech­ten« Bewegungen vorlegte, die bis heute unter analytischen Publikationen ihres Gleichen sucht. Mit diesem Buch ging Reich zugleich deutlich über Freuds Ausführungen zum Thema Massen­psychologie hinaus. Erst 1941 widmete sich mit Erich Fromm ein weiterer Psychoanalytiker ausführlicher den psychosozialen Grundlagen des Faschismus. Die Qualität von Reichs Darle­gungen zu diesem Thema wurde aber meines Erachtens von keinem späteren Analytiker wieder erreicht.

Mit all dem war Reich nicht nur der entscheidende »Gegenentwurf«, der zeigt, was für die Psychoanalyse möglich gewesen wäre anstelle der Anpassung an die faschistischen Systeme. Sein für einen Psychoanalytiker immenser Einfluss gerade in Deutschland macht erst richtig verständ­lich, wie aggressiv das NS-System zunächst auf die Freud’sche Lehre reagierte – und warum diese in so hohem Maße tolerierte wurde, nachdem DPG und IPV Reich 1933/34 auf persönlichen Wunsch Freuds ausgeschlossen hatten.

Ausgegrenzt wurde damit gleichzeitig das von Reich ausgearbeitete Konzept einer Psychoanalyse ohne pessimistisch-individualistisches Menschenbild, ohne angeblich angeborenen Sadismus und Masochismus, ohne Aggressions- oder gar Todestrieb, ohne unvermeidlichen Ödipuskomplex und schicksalhaften Wiederholungszwang, ohne Straf-»Bedürfnis«, ohne angeblich notwendige Triebunterdrückung und vermeintlich wünschenswerte Fremdsteuerung durch Über-Ich-Implan-tierung, dafür aber mit einer Vorstellung von leib-seelischer Gesundung und Gesundheit, stärke­rer Einbeziehung von Gefühl und Körper in die Behandlung sowie Beschreibungen komplexer Wechselwirkungen zwischen Individuum und Gesellschaft.

Auch dies wäre natürlich keine »perfekte« Psychoanalyse gewesen, schon weil Reich Freuds Überbetonung des Sexuellen beibehielt und 1934 – wie andere Analytiker auch – noch nicht jegli­che Idealisierung des Sowjetkommunismus abgelegt hatte. Aber Reichs Konzept hätte meiner An­sicht nach einen wesentlich konstruktiveren Ansatzpunkt für dringend notwendige Weiterentwick­lungen abgegeben als das, was nach seinem Ausschluss noch als Psychoanalyse-Leitbild übrig war.

(3)

Horst-Eberhard Richter urteilt über die Verbannung Reichs aus der IPV:

»Gewiß war Reich ein komplizierter, streitbarer Charakter. […] Daß er insbesondere durch die >Massenpsychologie des Faschismus< die neuen Machthaber in Deutschland reizte und das Berliner Psychoanalytische Institut in noch größere Schwierigkeiten als die schon bestehen­den bringen konnte, lag auf der Hand. Aber Tatsache war, daß Reich […] die Wahrheit ver­trat […]. Man warf den Mann hinaus, der offen und unmißverständlich klarmachte, daß die Leitvorstellung einer durch Autoritätsgehorsam gleichgeschalteten >Volks- und Rassegemein-schaft< dem Menschenbild der Psychoanalyse unversöhnlich gegenüberstand. […]

Rückblickend kann man wohl sagen, daß der Präzendenzfall Reich einen Wendepunkt in der offiziellen Grundhaltung der Psychoanalyse darstellte. Aus der Selbstschutzmaßnahme in der Verfolgungssituation wurde eine grundsätzliche Marginalisierung der gesellschaftskriti­schen Psychoanalyse.«

Fiel durch diese Marginalisierung nur irgendeines von vielen analytischen Spezialgebieten weg? Der selbst vom NS-Terror betroffene Psychoanalytiker Hans Keilson schreibt:

»Wenn die Psychoanalyse aufhört, zu demaskieren, das Ungeheure zu entlarven und sich mit der Arroganz und dem Machtmißbrauch unkontrollierbarer Herrschaftsstrukturen wider­spruchslos zu arrangieren versucht, hört sie auf, >skandalös< zu sein, was sie von Anfang an gewesen ist, sie denaturiert ihren eigenen Anspruch und reduziert sich selbst zu irgendeiner Therapieform, die selbst noch in Zeitläuften tiefster Unfreiheit zu gebrauchen ist.«

Die Psychoanalyse als irgendeine Therapieform, die noch in Zeiten tiefster Unfreiheit zu gebrau­chen ist – und auch gebraucht wurde: Dorthin waren 1934 auf dem 13. IPV-Kongress in Luzern nicht zuletzt durch die Ausgrenzung von Reich die Weichen gestellt worden. Zugleich hatte die Analyse ihre eigene »Medizinalisierung« vorangetrieben.

Noch 1926 hatte Freud an Paul Federn geschrieben: »Solange ich lebe, werde ich mich dage­gen sträuben, daß die Psychoanalyse von der Medizin verschluckt wird.« Doch genau das geschah bald darauf – und Freud hatte durch seine Verdikte gegen die »linke« Psychoanalyse erheblichen Anteil daran.

1933 hatte man von Freud noch in den Neuen Vorlesungen erfahren, die Psychoanalyse habe zwar als Therapie begonnen. Aber, so setzte er fort,

»nicht als Therapie wollte ich sie Ihrem Interesse empfehlen, sondern wegen ihres Wahrheits­gehaltes, wegen der Aufschlüsse, die sie uns gibt über das, was dem Menschen am nächsten geht, sein eigenes Wesen, und wegen der Zusammenhänge, die sie zwischen den verschieden­sten seiner Betätigungen aufdeckt. Als Therapie ist sie eine unter vielen«.

Doch schon kurz nachdem Freud dies veröffentlichte, bestand die »Betätigung« vieler Deutscher (und nicht weniger Österreicher) darin, Adolf Hitlers »Machtergreifung« zu bejubeln; bald dar­auf betätigten sich viele von ihnen als Mitläufer, Mitwisser, Mörder.

Die Psychoanalyse jedoch schreckte nun davor zurück, die Motive dieses massenhaften Ver­haltens einzelner Individuen aufzudecken. Später schwieg die IPV nicht nur zu den Verbrechen weiterer Diktaturen, sondern auch – Zitat Johannes Cremerius – »zum Vietnam-Krieg und ande­ren Kriegen, zur Unterdrückung von Minoritäten (Negern und Homosexuellen), zum Verbot der Interruptio, zum Kinderelend (Gewalt an Kindern und sexuellem Mißbrauch von Kindern) und zum Jugendelend durch Arbeitslosigkeit«. Psychoanalytiker unterstützten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zudem ebenso die Folter-Praktiken der brasilianischen Militärdiktatur wie inhumane Menschenversuche der US-Geheimdienste.

Wenn die Psychoanalyse heute – nach einem vorübergehenden, der 1968er Studentenbewegung geschuldeten Popularitätszuwachs – kaum noch gesellschaftlich relevant ist, dann lässt sich das meiner Meinung nach also nicht in erster Linie mit dem fast 70 Jahre zurückliegenden national­sozialistischen Terror, mit Zweitem Weltkrieg, Emigration und Vertreibung begründen.

Natürlich war durch all dies die europäische Analytikerorganisation geschwächt worden. Doch es hätte nicht zwangsläufig dazu führen müssen, dass sich in der weltweiten Psychoanalyse dau­erhaft die Tendenz durchsetzte, sich auf Medizinisch-Therapeutisches zu konzentrieren.

Das Entstehen und Erstarken autoritärer Regimes hätte die aufklärerischen Züge der Psycho­analyse auch bestärken können, lag darin doch eine Chance, wenn nicht gar Notwendigkeit zu genauerer Gesellschaftsanalyse – wie Wilhelm Reichs Schriften belegen.

Auch fand die verstärkte »Medizinalisierung« der Psychoanalyse keineswegs nur in NS-Deutschland statt, sondern zeitgleich nicht zuletzt in den nun zum »analytischen Hauptland« aufsteigenden USA.

Mittlerweile ist der vorübergehenden Schwächung der analytischen Organisation auch längst eine gewaltige Ausdehnung gefolgt: die Zahl der IPV-Mitglieder stieg von 560 im Jahr 1938 auf gegenwärtig über 12.000. Dennoch unternahmen auch in den Jahrzehnten seit dem Zusammen­bruch des Faschismus offenbar weder die US-amerikanischen Analytiker noch die IPV Anstren­gungen, um das aufklärerische Potenzial der Freud’schen Lehre zu mobilisieren.

Die gegenwärtige Bedeutungsarmut der Psychoanalyse hat daher meiner Ansicht nach maß­geblich mit dem durch Analytiker selbst hergestellten und beibehaltenen »entpolitisierten« Image der Analyse zu tun, mit der weitgehenden Verweigerung ihrer offiziellen Organisationen und der meisten ihrer Mitglieder, sich als Psychoanalytiker öffentlich an gesellschaftskritischen Diskus­sionen und Veränderungsprozessen zu beteiligen, sowie mit der Reduktion der Psychoanalyse auf Psychotherapie.

Damit haben die Analytiker auch ihren Gegnern in die Hand gearbeitet, die nun fragen können: Eine Therapie unter vielen, die aber viel langwieriger und kostenaufwendiger ist als andere, kann man die nicht einfach weglassen? Als ein Beispiel von vielen aus Deutschland will ich hier nur auf die Intentionen hinweisen, »den aktuellen Bedarf an Psychotherapie durch Einsparungen bei den […] Langzeittherapien gegenfinanzieren zu wollen«.

Auch im Psychologie-Studium an den meisten deutschen Hochschulen spielt die Psychoana­lyse kaum noch eine wesentliche Rolle. Während sich z.B. im populären Lehrbuch Klinische Psy­chologie und Psychotherapie von Wittchen und Hoyer die Verhaltenstherapie, deren Vokabular und Techniken durch das gesamte Buch ziehen, wird in diesem knapp 1000-seitigen Band die Psychoanalyse auf ganzen fünf Seiten kurz erwähnt. Eine 2012 gegründete Initiative von deut­schen Psychologiestudenten beklagt daher ganz zu Recht, »dass im Studiengang Psychologie zwar ausführlich über die Verhaltenstherapie, nicht aber über analytische Psychotherapie hinrei­chend informiert wird« und engagiert sich dafür, die Psychoanalyse wenigstens wieder gleichbe­rechtigt abzuhandeln. Selbst in meinem Studium der Klinischen Psychologie an der Ost(!)-Berliner Humboldt-Universität von 1976 bis 1981 wurde der Psychoanalyse weit mehr Aufmerk­samkeit zuteil.

An dieser Misere wird sich meiner Meinung nach nur etwas ändern, wenn sich die Psychoanalyse – und das heißt natürlich auch: die Psychoanalytiker

  1. noch genauer als bisher mit der Rolle ihrer Lehre im Nationalsozialismus befassen,
  2. wenn sie sich – erstmals – intensiv mit Wilhelm Reich, inklusive dessen Erkenntnissen psychosozialer Zusammenhänge – auseinandersetzen.

Wie beschrieben sind beide Themen untrennbar verbunden.

Würde sich die Psychoanalyse diesen Auseinandersetzungen stellen, würde sie zugleich wie­der in stärkerem Maße an das anknüpfen, was sie in ihrer Anfangszeit in erheblichem Maße auch war: Gesellschafts- und Sozialkritik. Dafür finden wir bei Freud ja reichlich Ansatzpunkte. So schrieb er 1910: »Die Gesellschaft muß sich im Widerstand gegen uns befinden, denn wir verhalten uns kritisch gegen sie; wir weisen ihr nach, daß sie an der Verursachung der Neuro­sen selbst einen großen Anteil hat.«

Eine sich darauf besinnende Analyse könnte zum einen wieder gesellschaftlich bedeutsam wer­den. Ich bin jedenfalls davon überzeugt, dass die deutsche Gesellschaft, aber auch unser globales Sozialsystem einer fundierten psychoanalytischen Kritik dringend bedarf. Ich möchte sogar be­haupten: Ohne die Anwendung des psychoanalytischen Wissensschatzes sind die sozialen Her­ausforderungen des 21. Jahrhunderts gar nicht zu bewältigen.

Zum zweiten wäre eine gesellschaftskritische Psychoanalyse weit besser davor geschützt, erneut in verbrecherische Aktivitäten und Systeme verstrickt zu werden. Denn auch autoritäre Regime und Organisationen benötigen zwar effektive Methoden zur Linderung bestimmter neurotischer Symptome oder zur Manipulation seelischer Zustände – aber nie und nimmer können sie zulas­sen, dass ihre destruktive psychosoziale Basis aufgedeckt wird.

Anders formuliert: Wenn wir – wie Freud 1914 – Psychoanalyse als das definieren, was die Existenz von Übertragung und Widerstand anerkennt, gab es faschistische Psychoanalyse. Auch je mehr man meint, die Analyse als vorwiegend abstrakt-wissenschaftlich, »unpolitisch«, medizi­nisch-therapeutisch, als »Technik« ansehen zu wollen, desto mehr müsste man zugeben, dass diese Psychoanalyse mit dem Faschismus nachweislich gut vereinbar war – und mit jedem autori­tärem System gut vereinbar ist.

Je mehr wir Psychoanalyse jedoch als auch gesellschaftskritisches, gestörte Sozialstrukturen aufdeckendes Verfahren verstehen, umso unvereinbarer mit destruktiven, unterdrückenden Sys­temen ist sie tatsächlich. Wer eine solche Unvereinbarkeit ernsthaft will, müsste konsequenter­weise schon deshalb eine gesellschaftskritische Psychoanalyse fordern.

Zum dritten würde eine solche Psychoanalyse notwendigerweise auch eine andere – wie ich mei­ne: erfolgreichere – analytische Behandlung ermöglichen. Denn natürlich muss es die Wirksamkeit einer Psychotherapie erheblich einschränken, wenn entscheidende, neuroseverursachende und -unterhaltende Faktoren in der Gesellschaft ignoriert oder unterbewertet werden. Viertens und letztens würde eine wieder sozialkritischere Psychoanalyse auch aufhören, nur das zu sein, wozu sie weitgehend geschrumpft ist: Psychotherapie. Als Therapie jedoch, schrieb Freud, ist sie »eine unter vielen« – freilich, so fügte er hinzu: die Erste unter Gleichen. Aber wie erwähnt: Selbst davon kann heute – zumindest in Deutschland – nicht mehr die Rede sein.

Ich meine also, es ist – aus mehreren Gründen – höchste Zeit für Veränderungen.

Andreas Peglau: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Mit einem Vorwort von Helmut Dahmer, 635 S., Gebunden, Psychosozial-Verlag 2013, Euro 44,90, Bestellen?
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