„Putin ist persönlich verantwortlich für diesen Krieg“

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Hans-Jürgen Wirths psychoanalytische Studie „Gefühle machen Politik“

Von Roland Kaufhold

Vieles verstehen wir erst Jahrzehnte später – bzw. erst Jahrzehnte später wird uns deutlich, was eine scheinbar banale Kindheitsszene über die Zeit und die Gesellschaft aussagt, in der sich diese ereignete.

Der 1951 geborene Psychoanalytiker und Verleger Hans-Jürgen Wirth hat, als Schüler Horst-Eberhard Richters und Paul Parins, zahlreiche Studien zur Psychoanalyse der Macht vorgelegt. Am bedeutsamsten ist wohl sein Buch Narzissmus und Macht (2002). Nun legt er mit der beeindruckend tiefgründigen Studie Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chance der Verletzlichkeit eine Fortsetzung dieser psychoanalytisch-politischen Studien vor.

1965, Wirth war da 14 und entwickelte zeitbedingte Ansätze von „Aufbegehren“, schrieb ein FAZ-Redakteur einen zutiefst empörten Beitrag über die Rolling Stones. Hierin regte er sich, innerlich offenkundig aufgewühlt, über den „Überschuss an Kräften“ und „Betäubung aus Mangel“ auf, den er bei einem Konzert der Stones bei den 6000 Jugendlichen und jungen Leuten wahrzunehmen glaubte, die sich für die Songs der Stones begeisterten. Wirth erinnert sich, 57 Jahre später, mit ungläubigem Staunen, immer noch des Hasses „wildfremder Menschen“ (S. 10), der lange Haare tragenden Jugendlichen entgegen schlug. Einer dieser Jugendlichen war Wirth selbst: „Plötzlich mussten wir uns belehren lassen“, so schrieb der um Anstand und das Vaterland besorgte Journalist, dass „diese heitere Angelegenheit bedrohliche Ausmaße annehmen kann und ernst genommen werden muss.“ (S. 9) Die Stones sowie der Anklang für deren Musik bei der jüngeren Generation verkörperten für diesen Mitte der 1960er Jahre offenkundig eine massive Gefahr.

Über 50 Jahre später wiederholen sich vergleichbare heftige Affekte. Diesmal gelten sie der seinerzeit 13-jährigen schwedischen Schülerin Greta Thunberg, die in einer harmlosen, sehr persönlichen  Weise – durch einen freitäglichen Schulstreik – gegen die unbestreitbar existentielle Gefahr einer Klima-Katastrophe (vgl. Wirth 1989) protestierte.

Die nationalsozialistische Vergangenheit als eine Giftmülldeponie

Prof. Dr. Hans-Jürgen Wirth, der auch auf Spiegel-online regelmäßig politisch-psychoanalytische Kolumnen veröffentlicht, nimmt diese beiden über ein halbes Jahrhundert auseinander liegenden Szenen zum Anlass, um die „sozialpsychologische Verfasstheit der deutschen Gesellschaft“, die sich in diesem halben Jahrhundert doch grundlegend verändert habe, zu analysieren. Die nationalsozialistische Vergangenheit, die Wirth als „eine Art von Giftmülldeponie“ betrachtet, die „noch immer antisemitische und rassistische Ideologien, zersetzende Ressentiments, böswillige Verschwörungserzählungen und heftige Affekte wie giftige Dämpfe absondere“ (S. 15), spiele in Deutschland als Hintergrundmatrix weiterhin eine zentrale Bedeutung.

In seinem themenreichen Grundlagenwerk schlägt Wirth einen weiten Bogen. Seine Grundposition als die eines Psychoanalytikers und kritischen Gesellschaftstheoretikers hält er konsequent ein, auch bei konkreten Beschreibungen wie etwa des AfD-Politikers Gauland (s.u.). In der Tradition Parins und Richters analysiert er am Beispiel zahlreicher tagespolitischer Ereignisse zentrale politische Themenfelder und deren Akteure.

Das Buch ist in acht eigenständige Kapitel unterteilt, in denen zentrale gesellschaftliche und politische Themen behandelt werden. In mehreren Kapiteln analysiert Wirth antidemokratische und von Ressentiments getragene Strömungen wie Pegida, Coronaleugner, die AfD sowie einige von deren Protagonisten. In Deutschland sei die nationalsozialistische Vergangenheit, so bemerkt er im Einleitungskapitel, quasi eine „Giftmülldeponie“ (S. 15); diese sei weiterhin virulent und sondere ihre heftigen Affekte aus. Der rechtsextreme Rand des Rechtspopulismus schöpfe seine Kräfte immer noch hieraus ab, vergifte auch aktuell das „politische und gesellschaftliche Klima“. Alexander Gauland sei ein „Virtuose auf diesem Gebiet“ (S. 15).

Psychoanalytische Sozialpsychologie des Populismus

In dem einführenden Kapitel „Zur psychoanalytischen Sozialpsychologie des Populismus“ erinnert der Autor an die Studien zum Autoritarismus (Adorno & Horkheimer) sowie an die Studien zur „Unfähigkeit, zu vertrauen“ (A. und M. Mitscherlich; Winnicott). Der Autor analysiert detailreich Affekte wie Angst, Hass, Neid, Ekel, Verbitterung und Ressentiment. Es folgt eine Psychoanalyse der Äußerungen des „Brandstifter(s) Alexander Gauland“ (S. 68-78), welcher gleichermaßen Ressentiments, Feindseligkeit wie Biederkeit verkörpere: Der Autor zeichnet Gaulands Auslassungen über den Fußballer Boateng sowie Gaulands „Vogelschissrede“ nach: Unter dem „Deckmantel der Biederkeit“ (S. 69) verbreite der rechte Politprofi Gauland vorsätzlich Ressentiments und Feindseligkeit. Es seien gezielte, routiniert vorgetragene Leugnungsstrategien, um sich weiterhin als bürgerlichen Konservativen zu verkaufen. Diese seien typisch für populistische Führungsfiguren wie etwa Trump, Putin oder Erdogan.

Die gezielten Inszenierungen des Rechtspopulisten Gauland

Gaulands leutselig vorgetragene Behauptung, dass er gar nicht gewusst habe, dass Boateng dunkelhäutig sei, analysiert Wirth in konkreter und überzeugender Weise. In der Nachfolge solcher Behauptungen stelle Gauland sich sogar noch als Opfer von Journalisten dar, die ihn „reingelegt“ hätten (S. 70) – um auf diese Weise das rechte Ressentiment gegen die „Lügenpresse“ zu bedienen. Gauland sei hierbei klug genug, um nach vorsätzlich inszenierten Grenzverletzungen und verbalen Angriffen scheinbar zurückzurudern. Über seine Talkshowauftritte erreiche sein rechter Populismus ihre Adressaten. Die „Show, die Gauland abzieht“ (S. 72) wirke auf seine Anhänger authentisch. Der langjährige CDU-Funktionär, der in der CDU über Jahrzehnte seine Karriere gemacht hatte, bemüht sich also weiterhin, taktisch geschickt, sich als einen „Konservativen Intellektuellen“ zu verkaufen (S. 73).

Mit seiner geschichtsrevisionistischen „Vogelschissrede“ über diese „verdammten zwölf Jahre“, verurteile er vorgeblich den Nationalsozialismus, verleugne hierbei jedoch zugleich die Monstrosität des vorsätzlichen millionenfachen Mordens durch Deutsche und verhöhne zugleich vorsätzlich die Millionen Opfer des deutschen Antisemitismus (S. 75-78).

Fremdenhass und Unfähigkeit zu Trauern

In weiteren Kapiteln, so in Kapitel 2: „Brexit – Ergebnis einer Politik des Machtmissbrauchs und des Ressentiments“ (S. 87-99), analysiert Wirth Fremdenhass und antieuropäische Ressentiments als Kompensation für gekränkten Nationalstolz.

Die Verschwörungstheorien während der Corona-Krise werden in verständlicher Sprache im Kontext tiefliegender Affekte wie „Argwohn, Misstrauen, Verfolgungsängste“ (S. 99-134) interpretiert.

In einem an den von den Mitscherlichs in den 1960er Jahren entwickeltem Theorem von der der „Unfähigkeit zu trauern“ anschließenden Themenschwerpunkt analysiert Wirth  die „Willkommenskultur“ ab dem Jahr 2015. Die „Willkommenskultur“ beinhaltete psychologisch zuerst einmal die Bereitschaft, fürchterliches menschliches Leid nicht zynisch auszublenden, sondern sich im Rahmen des Möglichen hiervon berühren zu lassen. Diese seelische Anteilnahme an dem unermesslichen Leid wurde mit konkretem sozialem und politischem Handeln verbunden und sei eine zentrale politische Größe.

Der Aufstieg der fremdenfeindlichen AfD

Die Gegenbewegung gegen die Einfühlungsbereitschaft waren fremdenfeindliche Proteste und in deren Folge das Entstehen der AfD. Erstmals, wenn man von früheren vereinzelten Wahlerfolgen von rechtsradikalen Parteien wie der NPD absieht, gelang es Rechtsradikalen in der Bundesrepublik, über die AfD bundesweit in Parlamente einzuziehen. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sind deren Erfolge, zumindest in Westdeutschland, bisher noch relativ bescheiden. Ob dies so bleibt erscheint als ungewiss. Große Teile Ostdeutschlands, so scheint es dem Rezensenten, sind für eine demokratische Kultur offenkundig verloren.

Wirth, der zu diesen Themen in den vergangenen Jahrzehnten vielfach geforscht und publiziert hat, schlägt hierbei einen überzeugenden Bogen „zur psychopolitischen Geschichte der Bundesrepublik“ – so lautet auch der Untertitel zu Kapitel 5 (S. 155 – 189). Wirth schließt, als Fortsetzung der Studien von H. E. Richter ab den 1960er Jahren, an Willy Brandts Forderung „Mehr Demokratie wagen“ an (vgl. Richter 1986, 2003). Zugleich erinnert er an die „Stationen der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit“ (S. 168ff) und unternimmt einen Vergleich zwischen den  unterschiedlichen Formen der „Vergangenheitsbewältigung“ in der Bundesrepublik sowie in der DDR (S. 177ff). Der Psychoanalytiker Wirth appelliert abschließend an die Bereitschaft zu einer „besonderen Sensibilität“, die auch, unvermeidlich, mit einer „besonderen Vulnerabilität“ einhergehe und eine „Empfänglichkeit für existentielle Gefährdungen“ einschließe. (S. 189) Dies könne auch einen Beitrag dazu leisten „der Idee einer stärkeren Integration Europas wieder mehr emotionale, moralische und intellektuelle Substanz und Anziehungskraft zu verleihen.“ (ebd.)

AfD und Grüne – ein psychoanalytischer Vergleich

Lesenswert und für politisch Interessierte vielleicht ungewohnt ist Wirths vergleichende Studie über „AfD und Grüne – konträre Welt- und Menschenbilder“ (Kap. 6), in welcher er zugleich seine früheren psychoanalytischen Studien über Helmut Kohl sowie Joschka Fischer (in Wirth 2002 https://www.hagalil.com/2020/07/wirth/) fortführt. Hierbei greift er auf mehrere empirisch-psychoanalytische Studien zurück, wie sie u.a. Oliver Deckers & Elmar Brählers Leipziger Forschungsteam regelmäßig erhebt. Die Wählerschaft der AfD sei überwiegend „autoritär, unterwürfig, konventionell“ (S. 213ff), die der Grünen hingegen „tolerant, autoritätskritisch, unkonventionell“ (S. 220ff). Die Grünen rekurrieren hierbei auf die Tradition der sozialen Bewegungen vor allem in Westdeutschland ab den 1970er Jahren. Wirth rekurriert in seiner tiefgründigen Analyse auf mehrere psychoanalytische Narzissmuskonzepte, die er darstellt; aber auch – was die Geschichte der DDR betrifft – auf die autobiografisch getönten Beschreibungen der (ehemals ostdeutschen) Psychoanalytikerin Annette Simon (2000, 2019) (die Tochter von Christa Wolf; H-M. Broder hat hierüber einmal, in seinen besseren Jahren, geschrieben.)

Wirths psychoanalytisches Resümee: „Das Menschenbild der AfD-Anhängerschaft ist rückwärtsgewandt und von Ressentiments, rassistischen Stereotypien und Menschenfeindlichkeit geprägt. Diese moralisch verwerflichen Auffassungen sind psychologisch verwurzelt in individuellen als auch in kollektiven narzisstischen Kränkungen. Das Menschenbild der Grünen-Anhängerschaft ist zukunftsorientiert und von humanistischen Werten wie Solidarität, Emanzipation und Selbstverwirklichung geprägt.“ (S. 238f) Die Gefahr, dass sich politische Wahlen in den Zeiten tiefgreifender Krisen (Corona, Putins Vernichtungskrieg gegen die Ukraine, Klimakrise) durch narzisstische Verführungen und populistische Vereinfachungen entscheiden lassen, sei sehr groß.

Kapitel 7 greift dies durch eine umfassende psychoanalytische Abhandlung über das „neue Bewusstsein der Verletzlichkeit“ auf: Wirth schreibt über Liebe und Sexualität, die „Verwundbarkeit der nackten Haut“ sowie über „psychische Vulnerabilität“.

Zeitenwende und Selenskyi

Abgeschlossen wird das bemerkenswerte Werk durch das Kapitel „Zeitenwende“. Hierin analysiert der Autor den innergrünen Streit über Pazifismus und Wehrhaftigkeit sowie der Frage, „warum den Grünen Waffenlieferungen leichter fallen als der SPD“ (S. 289ff).

Eine Verleugnung der kollektiven Traumata führe zu ihrer Wiederkehr. Veranlasst durch Putins brutalen, zynischen imperialen Angriffskrieg gegen die Ukraine, in dem Putin gezielt auch Vergewaltigungsdrohungen und kollektive Vergewaltigungen einsetzt, fügt Wirth einen sein Werk abschließenden Essay über „Selenskyi als psychologisches Gegenmodell zu Putin“ (S. 310f) hinzu: „Putin fügt seinem eigenen Volk ein kollektives Trauma zu und bürdet ihm eine kollektive Schuld auf, an dem es noch viele Generationen wird tragen müssen.“ (S. 311) Seine Hoffnung sei, dass sich das ukrainische Volk trotz der ihm gezielt zugefügten familiären und kollektiven Traumatisierungen „in einem sozialpsychologischen Sinn als widerstandsfähiger, resilienter und zukunftsfähiger erweist als das russische, weil es für das eigene Überleben in Selbstbestimmung und nicht für die Vernichtung fremden Lebens kämpft, weil es die Moral auf seiner Seite weiß und weil es von der Hoffnung auf eine positiv besetzte Zukunft getragen wird.“ (S. 311)

Hans-Jürgen Wirth: Gefühle machen Politik. Populismus, Ressentiments und die Chance der Verletzlichkeit. Gießen: Psychosozial-Verlag, 336 S., 39,90 Euro, Bestellen?

Literatur

Kaufhold, R. (2012): Ein unermüdlicher Mahner und Menschenfreund. Zum Tode von Horst-Eberhard Richter (18. 4. 1923–19. 12. 2011), Kinderanalyse 2/2012, S. 136-142; erweiterte Version anlässlich des fünften Todestages von H.-E. Richter auf haGalil, 19.12.2016): https://www.hagalil.com/2016/12/richter-3/
Richter, H.-E. (1986): Erinnerungen und Assoziationen. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Richter, H.-E. (2003): Psychoanalyse und Politik. Zur Geschichte der politischen Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial-Verlag.
Simon, A. (2000): Fremd im eigenen Land? Gießen: Psychosozial-Verlag.
Wirth, H.-J. (Hg., 1989): Nach Tschernobyl: Regiert wieder das Vergessen? Frankfurt/M.: Fischer TB. 
Wirth, H-J. (Hg.) (1996): Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen: das Beispiel Birgit Hogefeld. Gießen: Psychosozial-Verlag (erweiterte Neuauflage von: Wirth, H.-J. (Hg., 2001): Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Die 68er, die RAF und die Fischer-Debatte. Gießen: Psychosozial-Verlag).
Wirth, H.-J. (2002): Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik, Gießen: Psychosozial-Verlag.