Psychoanalyse der Politik

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Hans-Jürgen Wirths Studie zu Narzissmus und Macht…

Von Roland Kaufhold

Es hat verschiedentlich Versuche gegeben, aus psychoanalytischer bzw. sozialpsychologischer Perspektive seelische Prozesse unmittelbar auf gesellschaftliche Strukturen anzuwenden ­ was in den wenigsten Fällen wirklich gelang. Eine Ausnahme bildeten hierbei die Studien des Schweizer Psychoanalytikers und Schriftstellers Paul Parin. In Subjekt in Widerspruch, kürzlich wieder neu aufgelegt, hatte er Grundzüge einer politischen Psychologie entworfen.

Hans-Jürgen Wirth, Gießener Psychoanalytiker, hat den wagemutigen Versuch unternommen, den Nutzen der Psychoanalyse für die Politik, für eine Analyse politischer Machthaber zu verdeutlichen,­ was ihm in vielfältiger Hinsicht wahrlich großartig gelungen ist.

In Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik analysiert er anhand ausgewählter Politikerkarrieren (Uwe Barschel, Helmut Kohl, Slobodan Milosevic) den Einfluss des Narzissmus insbesondere „auf das Irrationale der Politik“. Wirth vermag hierbei naheliegenderweise,­ da sich Politiker nun einmal nicht auf die Couch legen, nicht auf die klassische psychoanalytische Methode zurückzugreifen, sondern fügt Selbstaussagen der Beteiligten, öffentlich zugängliche Materialien und Bilddokumente vor dem Hintergrund profunder psychoanalytischer, historischer, sozialpsychologischer und kultureller Kenntnisse zu einem eindrucksvollen Porträt zusammen.

Angereichert werden seine Reflexionen durch ein Vielzahl von anschaulichen Fotographien und Porträts aus der Kunstgeschichte. Seine lebendige, überzeugende Sprache hebt sich hierbei in wohltuender Weise von einer verengten Fachsprache ab, ohne hierbei zugleich ihre analytische Schärfe zu verlieren. Wirth befindet sich hierbei in der Tradition seines Gießener Lehrers Horst-Eberhard Richter, welcher bereits in den 60er Jahren die Verknüpfung zwischen kindlicher Entwicklung sowie der diese formenden familiären und gesellschaftlichen Sphäre herausgearbeitet hatte,­ was ihn hin zu seinem Engagement für die Friedensbewegung führte.

Nach einer dichten Einführung über das Verhältnis der „siamesischen Zwillinge“ Narzissmus und Macht folgen die drei ausführlichen biografischen Analysen, wobei insbesondere die Porträts von Barschel sowie Kohl überzeugen. In dem Kapitel Der Bilanzselbstmord resümiert er: „Die Verurteilung Barschels erfolgte nicht nur durch die ,linke Kampfpresse’ und seine politischen Gegner, sondern auch durch seine Parteifreunde. Gerade dies hat den eigentlichen Verlust seines Selbstwertgefühls ausgelöst … Sein Selbstmord ist eine pathologische Kompromissbildung zwischen seiner Selbstverachtung einerseits und seinen narzisstischen Größenphantasien andererseits. Er machte seinem Leben ein Ende, wahrscheinlich weniger, weil er Schuldgefühle hatte aufgrund der ihm vorgehaltenen Schandtaten, sondern eher, weil er sich dafür schämte, erfolglos und so ungeschickt gewesen zu sein, dass er sich erwischen ließ. Doch verhalf ihm sein Selbstmord auch dazu, sein grandioses Selbstbild aufrechtzuerhalten.“

In zwei weiteren Kapiteln wird am Beispiel der Entwicklung Joschka Fischers sowie einzelner RAF-Terroristen die Entwicklung der 68er-Generation,­ der sich Wirth selbst zurechnet,­ vor allem vor dem Hintergrund der Verdrängten und Verleugneten nationalsozialistischen Verbrechen analysiert.

Den Abschluss bilden Analysen zum Fanatismus-Syndrom sowie zum 11. September 2001 als kollektives Trauma, welcher sowohl gesellschaftlich als auch individuell in einer pathologischen Form zu einer kulturellen Entscheidungsschlacht zwischen „dem Guten“ und „dem Bösen“ verarbeitet zu werden droht,­ wovor der Autor nachdrücklich warnt. Ich hatte einführend auf das Werk Paul Parins verwiesen. Dieser bemerkte nach der Lektüre von Hans-Jürgen Wirths Buch: „… Keinem jedoch ist es gelungen, die Analyse politischer Machthaber zu einer Methode psychoanalytischer Politologie zu entwickeln. Ich dachte, das würde nie geschehen, es sei vielleicht unmöglich. Darum hat mich das vorliegende Buch so sehr überrascht. Hans-Jürgen Wirth hat das reale politische Leben von Politikern unserer Zeit so analysiert, dass eine psychoanalytische Politologie entstehen kann; mit anderen Worten: Er hat die Plattform erreicht, auf der eine allgemeine Psychoanalyse der Politik errichtet werden kann. Der Schritt war unerlässlich.“

Hans-Jürgen Wirth, Narzissmus und Macht. Zur Psychoanalyse seelischer Störungen in der Politik. Psychosozial-Verlag 2002, Bestellen?

Veröffentlicht in LISTEN. Die Zeitschrift für Bücher Nr. 68 (Frühjahr 2003), S. 15.