Ein unermüdlicher Mahner und Menschenfreund

0
212

Eine Erinnerung an Horst-Eberhard Richter (18.4.1923 – 19.12.2011) anlässlich seines 5. Todestages…

Von Roland Kaufhold

„Soziale Destruktivität kommt nicht erst von fremden Mächten, schlimmen Politikern oder falschen Ideologien, sondern noch zuvor aus uns selbst. Also steckt sie auch in denen, die sie untersuchen. Destruktivität lässt sich nicht wegschaffen, nur besserer Kontrolle unterwerfen. Sie kann um so weniger Unheil anrichten, je wachsamer man ihr nachspürt und sich mit ihr zuallererst in den eigenen sozialen Zusammenhängen kritisch auseinandersetzt.“

„Was mich selbst von Mitscherlich trennte, war damals vor allem der Abstand zu seinem gewaltigen Mut, sich nahezu pausenlos mit großen Teilen der Ärztezunft und den konservativen Medien anzulegen. Es sah manchmal so aus, als bereiteten ihm die vielen Schlachten mit seinen Widersachern so etwas wie Genugtuung. Dass ich je bereit sein würde, mir ähnliche Feindschaften zuzuziehen, erschien mir vor dreißig Jahren noch absolut unvorstellbar.“

Horst-Eberhard Richter (in: Psychoanalyse und Politik, 2003, S. 17, S. 125)

Er galt als die Stimme der Friedensbewegung. Er war unermüdlich, aber auch hartnäckig, seine Lebensenergie hätte für drei Leben gereicht. Und er hat viel bewegt, als Psychoanalytiker, als Mahner gegen Gewalt und Krieg, als kritischer Gesellschaftsbeobachter. Von Vielen wurde er wegen seines fünf Jahrzehnte umspannenden öffentlichen Engagements und seiner Duldsamkeit verehrt, andere spöttelten gerade deshalb über ihn. Die Rede ist vom 1923 geborenen Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter; kurz vor Weihnachten 2011 war Horst-Eberhard Richter im Alter von 88 Jahren verstorben.

H.- E. Richter, Verfasser von 32 Büchern, hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten. In den Jahren von 1970 bis 2010 waren es zumindest 13: 1980 erhielt er den Theodor-Heuss-Preis für seine Beiträge zur Reform der deutschen Psychiatrie, 1985 wurde „seine“ Deutsche Sektion der Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW), deren Ehrenvorsitzender und prominentestes Gesicht er war, mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Die gesellschaftliche Relevanz seiner psychoanalytisch-gesellschaftskritischen Studien mag in dem Umstand zum Ausdruck kommen, dass einzelne Kapitel seiner 1981 erschienenen Satire „Alle redeten vom Frieden“ 1981 in zwei Spiegelausgaben nachgedruckt und durch ein umfangreiches Spiegel-Interview mit Richter ergänzt wurden.[i]

2002 erhielt Richter die Goethe-Plakette, 2007 wurde er – nach einem jahrelangen parteipolitischen Hickhack, in deutschen Stadträten neigt man zum Provinzialismus – Ehrenbürger seiner Heimatstadt Gießen. In Israel pflanzte der Jüdische Nationalfonds JNF-KKL im Jahr 2000 für Richters Lebenswerk zehn Bäume. Das Bundesverdienstkreuz lehnte Horst-Eberhard Richter hingegen gleich dreimal ab, weil „zu viele Altnazis“ es erhalten hätten.

Richter wurde als psychologischer Berater auch von einflussreichen Politikern aus unterschiedlichen politischen „Lagern“ berufen. Er war Freund und Berater von Willy Brandt – den er verehrte – wie auch von Michail Gorbatschow; auch Helmut Schmidt band ihn in Beratungen ein.

Lebensstationen – der Krieg

Einige Lebensstationen: In Berlin als Einzelkind aufgewachsen, sein Vater war ein erfolgreicher Ingenieur, erlebt er ihn als einen „stillen, in sich gekehrten Grübler“. 1941 wird er 18-jährig zur Wehrmacht einberufen. Der Krieg prägt ihn. Er erlebt Gewalt und muss Gewalt ausüben, er erfährt an sich selbst und an anderen die seelische Abstumpfung gegen das Unrecht, das Töten.

Eine verstörende Erinnerung, aus einem fünf Jahre zurück liegenden taz-Interview: „Ich kam im Spätwinter 1942 nach Russland. Ich weiß noch genau, wie wir bei der Frühjahrsoffensive an eine grüne, herrliche Wiese kamen. Wunderschöner Sonnenschein. Und da lag vor mir ein blonder, deutscher Soldat. Bäuchlings in dem grünen Gras. Er sah völlig intakt aus. Die Uniform, sein wallendes, blondes Haar. Ich dachte erst, er sei ohnmächtig. Ich drehte ihn um – sein Gesicht war vollkommen weggeschossen. Das war am ersten Tag unseres großen Angriffs. Das Bild bin ich nie mehr losgeworden.“

Und in einem Interview mit Spiegel online erinnert Richter sich 2008 so an den 65 Jahre zurückliegenden Krieg:

„An der Front wird man entmenschlicht. Man wird kalt, der Mensch wird zum Gefühlsroboter. Psychisch macht man eine Regression durch (…). Man funktioniert wie ein Werkzeug. (…) Ich lernte, den vielfachen Anblick von Verstümmelten und Toten ohne panisches Erschrecken zu ertragen. Ich konnte sogar essen, wenn um mich herum Leichen lagen. So etwas wie Schuld oder Scham gab es nur in wenigen Momenten.“

Richter erkrankt lebensgefährlich an Diphterie, 1945 desertiert der 22-Jährige, gerät für einige Monate in Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Heimkehr nach Deutschland erfährt er, dass seine Eltern zwei Monate nach Kriegsende von betrunkenen sowjetischen Soldaten bei einem Spaziergang ermordet worden sind: „Mein Vater hatte meine Mutter beschützen wollen. Da wurden beide erstochen. Zwei Aufrechte, die sich nicht von den Nazis korrumpieren lassen hatten“ (Spiegel online, 2008) – eine Erfahrung, die ihn prägte, lebenslang.

Studium und berufliche Anfänge

Horst-Eberhard Richter studiert Medizin, Psychologie und Philosophie, promoviert 1949 zum Dr. phil., 1957 zum Dr. med. und macht von 1950 bis 1954 eine psychoanalytische Ausbildung. Von 1952 – 1962 leitet er in Berlin eine Beratungsstelle für seelisch kranke Kinder und Jugendliche, wird bereits 1959 Leiter dieses Instituts – die Basis seines wenig später folgenden wissenschaftlichen Engagements. Als er 1963 seine Studie Eltern, Kind und Neurose publiziert, in der er das enge Wechselgeflecht zwischen kindlicher Entwicklung und Erwartungen und Phantasien der Eltern analysiert, handelt er sich zuerst einmal Feindseligkeiten seiner eigenen Standeszunft ein. Richter hatte den bequemen analytischen Stuhl verlassen und sich unmittelbar in die gesellschaftliche Wirklichkeit begeben – dies gefiel nicht jedem. Eine überraschende, seine sanfte Hartnäckigkeit prägende Erfahrung: Sein Buch wird, trotz aller standespolitischen Anfeindungen, ein Klassiker und erlebt bis heute, 50 Jahre später, Neuauflagen. Er verstand das auffällige Verhalten von Kindern als symptomatischen Ausdruck unbewusster Konflikte, an denen die Eltern bzw. die gesamte Familie leidet. In der 1967 verfassten Einleitung formuliert dieser Pionier der Familienberatung: „Die Rolle des Kindes in der Familie, bestimmt durch die affektiven Bedürfnisse der Eltern, ist das Hauptthema dieses Buches. Je mehr Eltern unter dem Druck eigener ungelöster Konflikte leiden, um so eher pflegen sie – wenn auch unbewusst – danach zu streben, dem Kind eine Rolle vorzuschreiben, die vorzugsweise ihrer eigenen Konfliktentlastung dient. Ohne sich darüber recht klar zu sein, belasten sie das Kind mit den unbewältigten Problemen ihres Lebens und hoffen, sich mit seiner Hilfe ihr Los zu erleichtern“ (1974, S. 16). Insbesondere für die Orientierung suchenden Elterngenerationen der 70er und 80er Jahre, die erstmals kritische Nachfragen an die Beteiligung ihrer Elterngeneration an den nationalsozialistischen Verbrechen stellten, die sich von der autoritären Erziehungstradition verabschieden wollten, stürzten sich auf sein Werk. Der Friedensaktivist und Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter betonte immer wieder nachdrücklich, dass es letztlich keine Neutralität, keine „gesellschaftliche Abstinenz“ geben könne: „Niemand von uns steht der Gesellschaft als neutraler Betrachter gegenüber. Jeder, auch der kritische Sozialwissenschaftler, ist in sie leidend und handelnd verwickelt“ (1986, S. 10).

1963 geht Richter in das kleinstädtische, noch von Kriegsschäden geprägte Gießen, wird dort Inhaber des Lehrstuhls für Psychosomatik; bereits ein Jahr später ist er für vier Jahre Vorsitzender der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung. Die Universitätsstadt Gießen gefällt ihm: Sie erinnert ihn in ihrer Mischung zwischen Zerstörtem, neu Aufgebautem und Erhaltenem an die Schäden, die unsere Geschichte, die nationalsozialistischen Verbrechen mit sich gebracht haben. Er baut seinen Gießener Lehrstuhl zu einem international renommierten psychosomatischen Forschungs- und Behandlungszentrum aus.

Bestseller – und Willy Brandt

Er folgen weitere publizistische Klassiker, die jeweils Auflagen von mehreren 100.000 erlangen und über Jahre die Bestsellerlisten anführen: In Patient Familie, 1970 erschienen, zeigt Richter sich als meisterlicher Stilist; Die Gruppe (1972), Lernziel Solidarität“ (1974) und Flüchten oder Standhalten (1976) standen in den meisten Regalen von Studenten und jungen Eltern. Die Titel prägten sich rasch als gern verwendete Losungen auch im öffentlichen politischen Diskurs der damaligen Zeit ein.

1978 erscheinen seine Engagierten Analysen; der Untertitel „Über den Umgang des Menschen mit dem Menschen“ sprach die Orientierung suchende junge Generation unmittelbar an. Die bestehende, noch vom Nazigeist geprägte Ordnung musste hinweg, dies galt in studentischen Kreisen seinerzeit als eine Selbstverständlichkeit – aber durch welche Konzepte, durch welche pädagogischen und sozialen Prozesse sollte diese alte Ordnung ersetzt werden? Richters Kapitelüberschriften dieses Werkes gaben Orientierungen, stellten aber auch die eigenen Gewissheiten in Frage: „Beide Geschlechter können sich nur gemeinsam befreien“, „Ist Psychosomatische Medizin überhaupt zu verwirklichen?“ oder: „Von der Mitverantwortung der Therapeuten für die psychosozialen Krankheiten, die sie heilen sollen“. Für die schlichten, unverwandt doktrinär gebliebenen Ausläufer der Studentenbewegung, die sich in K-Gruppen, in ideologische Gewissheiten flüchteten, die ihr Seelenheil in vertrauten Ländern wie Nord-Korea, der Sowjetunion, Albanien oder der liberalen, weltoffenen DDR fanden, wird H. – E. Richter bereits seinerzeit zum Objekt der Herabsetzung, des ausagierten Größenwahns. Im letzten Oberkapitel dieses lesenswerten Werkes Engagierte Analysen schreibt der politische Psychoanalytiker Richter über „Dialog statt Überreden. Politische Öffentlichkeitsarbeit in Gruppen“; über „Solidarität als Lebensform“, „Zur Psychologie des deutschen Rechtsradikalismus“ (eine Analyse, die im Dezember 1968 im Spiegel publiziert wurde); aber auch über „Freiheit oder Sozialismus“ und über „Willy Brandt und die SPD“ –  eine Analyse zur Gruppendynamik, die Willy Brandt ins Kanzleramt gebracht hatte, wie auch über dessen jähen Sturz nach Wehners Spott („Der Herr badet gerne lau“); H.-E. Richters Analyse erscheint im Mai 1974 im Spiegel.

Seine Identifikation mit Willy Brandt kommt auch in dieser Einschätzung zum Ausdruck: „Mit seinem Kniefall am Ghetto-Denkmal in Warschau hat Willy Brandt das Leiden an Schuld offen eingestanden. Damit hat er eine Brücke zu den Überlebenden des Holocaust und den anderen Opfern des Nazi-Vernichtungskrieges geschlagen. Nur wer leiden kann, kann auch mitfühlen. Brandts Friedenspolitik war deshalb so glaubwürdig, weil die Welt spürte, dass er so fühlte.“[ii]

Brandt zuliebe erwägt Richter Mitte der 70er Jahre sogar einen Eintritt in die SPD, was ihm dieser jedoch ausredet: „Wir fuhren in seinem Wahlkampfzug, da sagte Willy mir: `Mach das nicht. Wir brauchen Leute, die uns mit Sympathie begleiten, die sich aber die Freiheit bewahren, nicht die Klappe zu halten, wenn wir Mist bauen´“, erinnerte er sich 2008 im Spiegel (ebd.).

Am Ende des Buches geht Richter auch auf die politischen Angriffe gegen seine eigene Person ein, in Folge seines Engagements für Minderheiten. Er hebt abschließend hervor: „Aber was einmal in der Öffentlichkeit gesagt worden ist, erzielt seine Wirkung. (…) Der Angegriffene kommt immerhin ins Gerede. Das kann ich in meiner Position tragen. Ich kann mich auch leicht öffentlich wehren. Wie viele andere kritisch engagierte Menschen und Gruppen mag es indessen unter dem fatalen Einfluss des Radikalenerlasses geben, die ebenso leichtfertig und unberechtigt des `Sympathisantentums´ verdächtigt und darüber unmittelbar in ihrer sozialen Existenz gefährdet werden?“ (1978, S. 317)

Richter wird in diesen Jahren zu einem der erfolgreichsten Unterstützer der Psychiatrie-Reform, setzt sich maßgeblich und erfolgreich für deren Finanzierung ein. Das Modell der „Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft“ wurde beispielsweise in das staatliche Versorgungskonzept aufgenommen.

Horst-Eberhard Richter gelingt es immer wieder, mit seiner gleichermaßen wissenschaftlichen wie gut lesbaren Diktion die Leser in ihrer unmittelbaren Lebenswirklichkeit, in ihrer „Betroffenheit“ anzusprechen. Der Gestus der Hoffnung, der Appell an die eigene Verantwortung, aber auch das Vertrauen auf die eigene Fähigkeit zur Veränderung der konkreten Lebenswirklichkeit spricht aus all seinen Werken. Richter war gleichermaßen teilnehmender Beobachter wie Aktivist, er mischte sich immer wieder in den öffentlichen Diskurs ein, betont die Verantwortung des Individuums für eine friedlichere Welt. Und, vielleicht noch bedeutsamer: Über viele Jahre hinweg unterstützt er Projekte, in denen, ganz in der Tradition der Mitscherlichs, die tiefe Verstrickung der deutschen Medizin in nationalsozialistische Tötungsprogramme aufgedeckt wurde – was die große Mehrheit seiner psychoanalytischen Standesgenossen anfangs mit deutlicher Missbilligung verfolgte.

Eine Leitfigur der Friedensbewegung – und die Beschäftigung mit dem Tod

In den 1980er Jahren wird Richter zur prominentesten Leitfigur der bundesdeutschen Friedensbewegung. In seiner 1979 erschienenen Studie Der Gotteskomplex – ein Ausschnitt hieraus war 1981 Thema  meiner Abiturarbeit bei meiner Deutschlehrerin Saskia Zierold – wendet er sich gegen die eigene Verwundbarkeit und Sterblichkeit verleugnende Allmachtsphantasien. Seine Satire Alle redeten vom Frieden (1981) machte ihn zu einer Leitfigur der Friedensbewegung, es folgen Zur Psychologie des Friedens (1984) und seine sehr persönlich gehaltene Autobiografie Die Chance des Gewissens. Erinnerungen und Assoziationen (1986). In dem Kapitel „Keine Selbstheilung ohne Erinnerung“ formuliert der 63-Jährige: „Dass ich mit zunehmendem Alter die Idee des Todes so zu fassen lerne, wie ich es möchte, glaube ich als Teilmotiv meiner langjährigen therapeutischen Arbeit mit Familien chronisch Schwerkranker und Behinderter zu erkennen, die ich noch immer mit Spannung fortsetze, aber zugleich auch meiner theoretischen Überlegungen zur Todesverdrängung. Wie können wir einst einen `eigenen Tod´ sterben, wie ihn Rainer Maria Rilke im `Stundenbuch´ gemeint hat? (…) In den Therapien erfahre ich manche Hilfe für mich selber. Eine ihrer Wirkungen ist vielleicht die Freude, auch im Älterwerden das Leben sehr intensiv zu spüren“ (1986, S. 260).

Und Richter fügt, ganz in der Tradition der Freudschen kulturkritischen Schriften, hinzu: „Zugleich lässt mich das zentrale Thema meiner Generation nicht los: Tod als Gewalt; Tötung des `Bösen´ aus abgewehrtem Selbsthass und aus Allmachts- und Größenwahn. Vernichtung von Leben aus der Illusion, die Rasse oder gar die Gattung durch die Eliminierung von `Unwerten´ schützen oder erhöhen zu müssen. Es ist die variantenreiche faschistische Krankheit, die zwar immer wieder in der Projektion auf einzelne Exponenten wie Hitler, Himmler, Heydrich, Eichmann, Mengele als besiegt gefeiert wird, nichtsdestoweniger fortbesteht. Weil ich mit dem Thema zu tun habe, muss ich daran weiterarbeiten“ (1986, S. 260f.).

Psychotherapeutisch orientierte Gespräche mit hohen Politikern

Kurz nach der Wiedervereinigung ruft Richter, unter strikter Geheimhaltung, für zehn Jahre eine regelmäßig tagende Gruppe von Persönlichkeiten aus unterschiedlichen politischen Lagern, Vertreter aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Literatur und Kirche, aus West- und Ostdeutschland, zusammen.

In einem Interview mit Spiegel-online berichtete er 2008 erstmals hierüber: „Wir hatten striktes Stillschweigen vereinbart. In der Presse ist bisher nichts dazu aufgetaucht. Richard von Weizsäcker war ja damals noch Bundespräsident. Ansonsten wären vertrauensvolle Ost-West-Gespräche gar nicht zustande gekommen. Die Schweigepflicht dürfte jetzt nach so langer Zeit nicht mehr ganz so strikt sein. Auch Dieter Klein, der Chefideologe der SED, war dabei, außerdem der Philosoph Jens Reich, die Schriftstellerin Christa Wolf, die CDU-Parlamentspräsidentin Rita Süßmuth, die SPD-Politiker Egon Bahr, Oskar Lafontaine und viele weitere. Wir hatten einen Pool von 30 Leuten. Rund 15 kamen bis zu zweimal im Jahr für ein Wochenende zusammen.“

Verschiedentlich traf Horst-Eberhard Richter auch Bundeskanzler Helmut Schmidt. Dieser war über das Erstarken der Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre und über das Entstehen der Grünen – die sich seinerzeit noch als Vertreter der Friedensbewegung verstanden – beunruhigt und vermochte diese veränderte gesellschaftliche Atmosphäre nicht zu verstehen. Mit Amüsement erinnere ich mich einer Fernseh-Szene, als der sehr betagte, aber immer noch beeindruckend präsente Helmut Schmidt von seiner Interviewpartnerin Sandra Maischberger auf diese Treffen angesprochen wird. Dies ist ihm erkennbar unangenehm. Wirsch versucht „der Macher“ Schmidt das Thema abzubrechen und entgegnet, dass er Richter nur ein einziges mal getroffen habe – was ganz gewiss nicht zutreffend ist…

1992: Leitung des Sigmund-Freud Instituts – und einige persönliche Erinnerungen

In einem Alter, in dem andere sich zur Ruhe setzen, beginnt Richter ein neues Engagement: 1992 übernimmt der fast 70-Jährige die Leitung des seinerzeit schwer kriselnden Frankfurter Sigmund Freud-Instituts. Er wolle für den Übergang sorgen – und blieb doch zehn Jahre lang dessen Leiter. Er verwandelt es in ein Forschungsinstitut, welches den Ansprüchen seines Gründers, Alexander Mitscherlich, entsprach: Psychoanalyse sollte wieder eine öffentliche Angelegenheit werden, kritische Analysen zu drängenden gesellschaftlichen Krisen liefern. Richter publizierte auch im hohen Alter noch weiter, so erscheint 2008 sein Werk Die seelische Krankheit Friedlosigkeit ist heilbar.

Ich selbst habe Horst-Eberhard verschiedentlich getroffen. Ihm lag daran, was mich sehr verwunderte. Er wusste von meinen Studien über emigrierte jüdische Psychoanalytiker – die er in einem seiner Bücher zitierte – sowie von meiner Freundschaft mit dem Psychoanalytiker und Shoah-Überlebenden Ernst Federn, was ihn interessierte. So bat er den seinerzeit bereits 82-Jährigen Ernst Federn, auf der Nürnberger IPPNW-Tagung (25.-27.10.1996) „Medizin und Gewissen“, anlässlich des 50. Jahrestages des Nürnberger Ärzteprozesses, die auch in der abendlichen Tagesschau erwähnte Abschlussresolution vor dem riesigen Auditorium von etwa 1500 Ärzten zu verlesen. Und als Ernst Federn 1997 von der Gesamthochschule Kassel eine Ehrenpromotion verliehen bekam hielt er eine Laudatio. Einmal hatten wir ein Gespräch über sein Engagement in der Friedensbewegung. Ich deutete ihm an, dass ich als „Freund Israels“ da doch gewisse Schwierigkeiten habe und die Motive vieler Mitglieder der „Friedensbewegung“ durchaus skeptisch betrachte. Ich beließ es jedoch bei dieser Andeutung. Richter schaute mich überrascht an und meinte: „Oh, da haben wir wohl eine erhebliche Differenz.“ Wir haben diese Thematik nicht wieder aufgegriffen. Heute würde ich diese Differenz als noch ausgeprägter bezeichnen.

Aber indirekt ist er doch noch einmal hierauf zu sprechen gekommen: Einmal erzählte mir Horst-Eberhard Richter – seine Ehefrau Bergrun nahm an diesem Gespräch teil – von einer SFB-Talkshow, bei der er (vermutlich Ende der 80er Jahre oder 1991) auf  Henryk M. Broder stieß, zu Zeiten des „ersten Golf-Krieges“. Sie stellten ihre Differenzen dar, ansonsten blieb es wohl relativ „friedlich“. Im Anschluss an die Talkshow saß man noch kurz, wie es so üblich war, zusammen. Daraufhin attackierte Broder Horst-Eberhard Richter und insbesondere dessen Ehefrau so scharf, dass diese schließlich zu weinen anfing. Broder hatte wohl sein Vergnügen. Richter meinte im Rückblick lakonisch, dass er Broder für unfähig zum Trauern halte.

Broder, der zu den Menschen gehört, die wirklich nicht vergessen können und mehr als nachtragend sind, wenn es um „die Sache“ – also um ihre Person – geht, trat 20 Jahre später, 2007, in seinem dem organisierten medialen Rechtspopulismus nicht fernstehenden Blog noch einmal gegen den seinerzeit 84-Jährigen nach. Es war ihm ein Bedürfnis. „Horst-Eberhard, die Friedfertigen, die Friedlosen und ich“ hat er sein Stück überschrieben. Hierin bescheinigt er Richter eine „Psychoanalyse auf Al-Kaida-Niveau“ und fügt erinnernd hinzu: „So plauderten wir hin und her, bis ich bemerkte, den Europäern wäre es nur recht, wenn Saddam den Job vollenden würde, den die Nazis nicht zu Ende bringen konnten, die nächste Endlösung der Judenfrage würde im Nahen Osten stattfinden.“[iii] Was immer man auch von diesem Geplänkel halten möchte: Mir erscheint es als ein weiteres Indiz dafür, wie sehr Richters Interventionen auch in den politischen Diskurs eingedrungen sind.

Der bundesrepublikanische Terrorismus: Eine Kontroverse mit Jan Philipp Reemtsma

2004 entfachte der Philologe und Publizist Jan Philipp Reemtsma, offenkundig vor dem Hintergrund seiner eigenen traumatischen Erfahrungen als Opfer einer 33 Tage andauernden kriminellen Entführung im März 1996, die Reemtsma ein Jahr später in seinem Buch „Im Keller“ „aufgearbeitet“ hat, eine heftige Kontroverse mit H.-E. Richter über die Motive der deutschen RAF-Terroristen. Diese Kontroverse wurde in der tageszeitung (taz) ausgefochten. Reemtsma betrachtete die Terroristen als ausschließlich schwer Kriminelle und sprach ihnen jegliche politische Motivation ab. Richter hingegen hatte viele Jahre lang die verurteilte Terroristin Birgit Hogefeld im Gefängnis besucht und einen Dialog mit ihr gesucht. Dieser Dialog mündete in dem Buch „Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen: das Beispiel Birgit Hogefeld“, an dem auch Carlchristian von Braunmühl (der Bruder des 1986 ermordeten Diplomaten Gerold von Braunmühl), H.-E. Richter und Birgit Hogefeld mit eigenen Beiträgen beteiligt waren (Wirth 1996, 2001).

In einem taz-Interview (2004) warf Reemtsma Richter „Selbstidealisierungen“ vor: Richter verleugne das Fasziniertsein der Linken durch die Mechanismen der Macht und der Gewalt. Die Täter hätten ihre Taten genossen: „In diesem Versuch der empathischen Eingemeindung der RAF in die Grundintentionen der pazifistischen Linken wird auf eine unerhört rohe Weise über die Mordtaten gesprochen – nicht nur von Hogefeld, auch von Richter.“[iv]

Richter hingegen – dessen taz-Beitrag mit „Was bedeutet es, die RAF zu verstehen?“ überschrieben ist – , interpretiert den RAF-Terrorismus als „Teil eines Familienromans, in dem die Kinder unbewusst Aufträge der Eltern ausführten“. Die Entstehung des RAF-Terrorismus Ende der 1960er Jahre sei zeitgeschichtlich eingebunden in die Phase, als große Teile der „jungen Generation“ das Schweigen der Generation der Nazi-Eltern durchbrachen. Die geschlossene Welt des terroristischen Wahns beschreibt Richter psychoanalytisch so:

„Wer sich indessen im Untergrund der RAF verschrieben hatte, den erreichte keine kritische Aufklärung mehr. Dessen absoluten Gehorsam bestimmte, psychoanalytisch formuliert, eine totale Übereignung des persönlichen Überichs. Dafür belohnte ihn die Gruppe mit der Verleihung einer fiktiven Selbstüberhöhung, abgestützt durch aggressive Abwehr enormer Ängste. Es war ein Klima, das ausweglos in eine psychotische Pathologie hineinführte: Realitätsverlust, Grandiositäts- und Allmachtswahn, absolute Unkorrigierbarkeit des verrückten Denkens, das nur noch im Raum des wahnhaften Verfolgungssystems funktionierte.“ (Richter 2004)

Richter hebt, auf Hogefeld bezogen – die sich zu diesem Zeitpunkt vom Terrorismus glaubwürdig  distanziert hatte – hervor: „Als ich Birgit Hogefeld in ihrem Prozess beobachtet hatte, war mir als Psychiater klar, dass ihr eine Gesundung nach Abschirmung von der terroristischen Gruppe möglich sein würde und dass sie durch Unterstützung in sich den Menschen wieder finden könnte, der sie zuvor gewesen war: eine empfindsame Frau, die einst hatte Orgelbauerin werden wollen. Seit sechs Jahren sehe ich sie jetzt als amtlich zugelassener psychotherapeutischer Betreuer im Gefängnis und stelle fest, dass ich mich nicht getäuscht habe.“ (ebd.) Nachfolgend zeichnet er ihren familiären Hintergrund nach. Reemtsma habe Recht, wenn er ihm eine „empathische Verbindung“ zu Hogefeld nachsage. „Aber er kann oder will nicht verstehen, dass diese Einfühlung nicht die Spur von Billigung der Mordtaten der Gruppe enthält.“

Am 19. Dezember 2011 ist Horst-Eberhardt Richter, dieser „Psychotherapeut der Nation“ – so sein Schüler Hans-Jürgen Wirth in seinem Nachruf – nach einer kurzen schweren Krankheit verstorben. Er wurde 88 Jahre alt.

Erst mit größerem zeitlichen Abstand dürfte die Tiefe dieses Verlustes spürbar werden.

Literatur

Richter, H.-E. (1976): Eltern, Kind, Neurosen.

Richter, H.-E. (1978): Engagierte Analysen. Über den Umgang des Menschen mit dem Menschen. Gießen: Psychosozial Verlag.

Richter, H.-E. (1986): Erinnerungen und Assoziationen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Richter, H.-E. (2003): Psychoanalyse und Politik. Zur Geschichte der politischen Psychoanalyse. Gießen: Psychosozial Verlag.

Richter, H.-E. (2004): Was bedeutet es, die RAF zu verstehen? taz, 27.10.2004.

Wirth, H-J. (Hg.) (1996): Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen : das Beispiel Birgit Hogefeld. Gießen: Psychosozial-Verlag (Um mehrere Studien erweiterte Neuauflage: Wirth, H.-J. (Hg.) (2001): Hitlers Enkel oder Kinder der Demokratie? Die 68er, die RAF und die Fischer-Debatte. Gießen: Psychosozial-Verlag).

Wirth, H.-J. (2012): Horst-Eberhard Richter: Psychotherapeut der Nation. Zum Tode von Horst-Eberhard Richter (1923–2011). haGalil, 4.1.2012.

Dieser Nachruf ist zuvor erschienen in der Kinderanalyse, 20. Jg., April 2012 (H. 2/2012), S. 136-142. Der Nachruf wurde vom Autor um einige Aspekte erweitert. Wir danken der Kinderanalyse und dem Verlag Klett-Cotta herzlich für die Nachdruckgenehmigung.

Bild oben: (c) Psychosozial-Verlag

[i] Spiegel, 26.10.1981: „Wir leben im kollektiven Verfolgungswahn“.
Professor Horst-Eberhard Richter über Ziele und Chancen der Friedensbewegung. Internet:  http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-14340779.html

[ii] Der Spiegel, 28.4.2008: http://www.spiegel.de/einestages/leitfigur-der-friedensbewegung-a-946910.html

[iii] Broder, H.-M. (2007): Horst-Eberhard, die Friedfertigen, die Friedlosen und ich,  Achgut, 3.7.2007: http://www.achgut.com/artikel/horst_eberhard/

[iv] „Es gibt zu viel Kitsch beim Reden über die RAF“, Interview von Stefan Reinecke und Jan Feddersen mit Reemtsma, taz, 16.10.2004: http://www.taz.de/!687034/. Es sei darauf hingewiesen, dass dieser Vorwurf von Reemtsma in gleicher Weise den damaligen FDP-Bundesinnenminister Gerhard Baum hätte treffen müssen. Auch Gerhard Baum hatte als Innenminister mehrfach im Liberalen Zentrum Köln öffentliche Diskussionen mit verurteilten RAF-Terroristen wie Klaus Jünschke, um einen Dialog mit dem sozialen Umfeld des Terrorismus sowie dialogbereiten Terroristen aufrecht zu erhalten. Baum wollte – wie auch Richter – verhindern, dass immer neue Generationen von jungen Deutschen den Weg in den Wahn der Destruktion betreten, welcher sich Terrorismus nannte. Auch für Baum war der Terrorismus primär ein politisches Phänomen, welches nicht entpolitisiert und enthistorisiert werden dürfe. Internet: https://www.youtube.com/watch?v=iDDV-iv51uE

Eben dafür wurde Gerhard Baum (wie seinerzeit auch Heinrich Böll) insbesondere von der konservativen Presse der 1980er Jahre und von Franz-Josef Strauß immer wieder scharf als „Terrorismus-Verharmloser“, als „Terrorismus-Sympathisant“ attackiert.