Zum Tode von Horst-Eberhard Richter (1923–2011)…
Von Hans-Jürgen Wirth
Vor mehr als 40 Jahren, im Sommer 1970, ich war noch keine 20 Jahre alt, zog mich Horst-Eberhard Richters Patient Familie in einen wahren Leserausch. Neben Sigmund Freuds Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse und Erich Fromms Die Furcht vor der Freiheit bescherte mir dieses Buch eine Leseerfahrung, wie ich sie seit den Tagen meiner Hermann-Hesse-Lektüre nicht mehr erlebt hatte. Es eröffnete sich mir eine neue Welt, und in mir wurde die Neugier geweckt, die psychoanalytische Erkundung der komplexen Zusammenhänge zwischen Psyche und Gesellschaft (den Begriff »psychosozial« hatte Richter damals noch nicht geprägt) zum Zentrum meines weiteren Lebens zu machen. Was ich bei Richter las, wirkte – religiös gesprochen – fast wie eine Offenbarung. Ich erinnere mich tatsächlich noch immer an jenen Lese-Nachmittag, weil plötzlich meine Familie und meine mit ihr verknüpften Ängste und Konflikte so offen vor mir lagen. Seither hat mich die Frage, was die psychosoziale Welt im Innersten zusammenhält, nicht mehr losgelassen.
Biografisches
Am 28. April 1923 in Berlin geboren, wächst Horst-Eberhard Richter als Einzelkind auf. Die Mutter schildert er als eine sehr emotionale Frau, die sich stark an ihn geklammert habe. Den Vater, ein erfolgreicher Ingenieur und Abteilungsleiter einer großen Firma, erlebt Richter als »stillen, in sich gekehrten Grübler«. Nach Hitlerjugend und Arbeitsdienst wird Richter 18-jährig zum Militär eingezogen und dient in einem Artillerieregiment an der Front in Russland. Kurz vor der Verlegung seiner Truppe nach Stalingrad erkrankt er lebensgefährlich an Diphtherie. Mit 22 Jahren gerät er in Kriegsgefangenschaft und erfährt erst bei seiner Rückkehr vom Tod seiner Eltern, die zwei Monate nach Kriegsende auf einem Spaziergang in der Nähe ihres Dorfes von zwei betrunkenen Russen ermordet worden waren.
Nach Studium der Medizin, Philosophie und Psychologie in Berlin promoviert Richter 1949 zum Dr. phil. und 1957 zum Dr. med. 1950 beginnt er seine psychoanalytische Ausbildung am Berliner Psychoanalytischen Institut, die er 1954 abschließt. Bereits fünf Jahre später, 1959, wird Richter Leiter dieses Instituts und übt diese Funktion bis 1962 aus. Gerade 41-jährig wird er 1964 zum Vorsitzenden der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) gewählt und engagiert sich in dieser Position bis 1968.
Eltern, Kind und Neurose
Im Jahr 1963, ein Jahr nachdem er auf den zweiten deutschen Lehrstuhl für Psychosomatische Medizin, neben dem von Alexander Mitscherlich in Heidelberg, berufen worden ist, publiziert Horst-Eberhard Richter sein Buch Eltern, Kind und Neurose. Zur Psychoanalyse der kindlichen Rolle in der Familie, das kurioserweise als Habilitationsschrift abgelehnt worden war. Richter wird ohne Habilitation Professor und für drei Jahrzehnte Geschäftsführender Direktor des Zentrums für Psychosomatische Medizin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Sein Buch wird in den folgenden Jahren zum einflussreichen Grundlagenwerk für die neue psychoanalytische Behandlungsmethode der Familientherapie, die er im deutschsprachigen Raum als Erster entwickelt. Auf der Grundlage seiner Erfahrungen als leitender Arzt (1952 bis 1962) der »Beratungs- und Forschungsstelle für seelische Störungen im Kindesalter« am Berliner Kinderkrankenhaus im Bezirk Wedding hat er seine psychoanalytische Theorie formuliert, die es erlaubt, das Fehlverhalten von Kindern als symptomatischen Ausdruck unbewusster Konflikte zu verstehen, an denen die Eltern bzw. die ganze Familie leiden. »Die Rolle des Kindes«, schreibt Richter (1963, S. 73), »bestimmt sich also aus der Bedeutung, die ihm im Rahmen des elterlichen Versuches zufällt, ihren eigenen Konflikt zu bewältigen.« Der Konflikt des Kindes wird hervorgerufen durch die »Narzißtischen Projektionen der Eltern auf das Kind« (Richter 1960) – so der Titel seines Aufsatzes im Jahrbuch der Psychoanalyse, zu dessen Herausgeberkreis er bis zu seinem Tod gehört.
Diese Gedanken sind uns heute so vertraut, dass man sich kaum noch vorstellen kann, wie revolutionär – und damit sowohl anziehend als auch irritierend – sie damals sowohl auf die psychoanalytische Fachwelt als auch auf das interessierte Laienpublikum gewirkt haben müssen. Vergleicht man die psychoanalytische Paar- und Familientherapie mit anderen Formen der angewandten Psychoanalyse, wie beispielsweise der Gruppentherapie oder der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie, so findet die Paar- und Familientherapie noch immer nicht die Anerkennung durch die psychoanalytischen Fachgesellschaften, die ihr eigentlich zukommen müsste. Man kann die paar- und familientherapeutischen Konzepte durchaus als frühe Vorläufer der heute maßgeblichen psychoanalytischen Schulrichtung ansehen, die unter der Bezeichnung »relationale Psychoanalyse« bekannt ist. Der theoretische Vordenker der relationalen Psychoanalyse, der amerikanische Psychoanalytiker Stephen Mitchell, nimmt zwar in seinen Büchern immer wieder auf die grundlegende Bedeutung der Paardynamik Bezug, allerdings ohne den naheliegenden Schritt zum paartherapeutischen Setting zu gehen.
Als Richter 1970 sein zweites grundlegendes Buch zur psychoanalytischen Familientherapie Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie veröffentlicht, ist er bereits ein bekannter Autor und die psychoanalytische Familientherapie, als deren Nestor er in Deutschland gelten kann, befindet sich auf dem besten Wege, ein einflussreiches psychotherapeutisches Konzept zu werden. Während Richter mit seinem theoretischen Hauptwerk Eltern, Kind und Neurose wissenschaftliches Neuland betritt, entfaltet er in Patient Familie seine Meisterschaft als sprachgewandter Autor, der mit psychoanalytischer Einfühlung seelisches Leid zu beschreiben und in seine beziehungsdynamischen und gesellschaftlichen Zusammenhänge einzuordnen weiß.
Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien
Persönlich lernte ich Horst-Eberhard Richter 1970 zu Beginn meines Psychologiestudiums im Rahmen einer studentischen Initiativgruppe kennen, die in der Gießener Obdachlosensiedlung »Eulenkopf« sozialpolitisch und sozialpädagogisch tätig ist. Wie viele meiner sich im Aufbruch befindlichen Generation fühle ich mich durch Richters Gedanken angezogen, und seine in den 70er Jahren publizierten Bücher Die Gruppe (1972), Lernziel Solidarität (1974), Flüchten oder Standhalten (1976) und Engagierte Analysen (1978) begleiteten mich in diesen Jahren. Die Gruppe hat den Untertitel Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen. Dieses Buch ist Ausdruck des geistig-kulturellen Klimas der frühen 70er Jahre und bietet zugleich Interpretationen und Reflexionen an, um die mit dem Jahr 1968 angebrochene Zeitenwende und die damit einhergehende psychosoziale Neuorientierung besser verstehen und für die Gestaltung des eigenen Lebens nutzen zu können. Richter ist kein Anhänger der antiautoritären Studentenbewegung der Jahre 68/69, sondern ein Sympathisant der sanfteren Initiativ-, Alternativ- und Ökologiebewegung der 70er Jahre und der Friedensbewegung der 80er Jahre. Er greift die Aufbruchstimmung der 70er Jahre auf, reflektiert aber auch die inneren Brüche, die überzogenen Ansprüche, die wir an uns selbst und an andere stellen, und hilft auf diese Weise dabei mit, dass wir zu realistischeren politischen Konzepten kommen. Dies macht die damalige Bedeutung seines Buches aus.
Richter hat – anders als die meisten Autoren der damaligen Zeit, die sich mit dem Phänomen der Gruppe beschäftigten – sowohl deren politische als auch ihre psychologische und psychotherapeutische Bedeutung erkannt. Er hat deutlich gemacht, dass es sich hierbei tatsächlich um eine soziale Neuerfindung handelt: Der Typus der spontanen, hierarchiefreien und mit den Mitteln der Selbstreflexion sich organisierenden Gruppe stellt in der Tat ein gesellschaftliches Novum dar, das vom emanzipatorischen Teil der Jugend- und Studentenbewegung kreiert worden ist.
Für Richter ist die Psychoanalyse nicht nur eine tiefenpsychologische Behandlungsmethode, sondern, und vielleicht zuallererst, ein Instrument der Aufklärung einer sich sozialanalytisch begreifenden Wissenschaft von Mensch und Gesellschaft. Allein in den Jahren 1972 bis 1981 schreibt er die fünf Bücher, die diese neue Ära eines ganzheitlichen Konzepts von Psychoanalyse einleiten und quasi zur Pflichtlektüre für eine breite Schicht politisch aufgeklärter Bürger werden.
Psychiatrie-Reform
Von den sozialpolitischen Experimenten der 70er Jahre und den neuen Arbeitsansätzen der Initiativ-, Spontan- und Selbsthilfegruppen, von denen Richter inspiriert wird und die er seinerseits anregt, gehen weitreichende Innovationen im Bereich der psychosozialen Beratung und Therapie aus. Die Besinnung auf die psychischen und sozialen Voraussetzungen von Krankheit und Therapie und die Entwicklung eines auf das Psychosoziale bezogenen Gesundheits- und Krankheitsbegriffs sind ohne die kritischen Impulse aus der Initiativgruppen-Bewegung kaum vorstellbar. Es sind Anfang der 70er Jahre fast ausschließlich kritische Studenten, die sich den benachteiligten Gruppen der Gesellschaft, den Heimzöglingen, Obdachlosen, Psychiatriepatienten usw. zuwenden, das Gewissen der Gesellschaft wecken und sowohl die Öffentlichkeit als auch die Fachdisziplinen zwingen, sich mit diesen verdrängten Problembereichen auseinanderzusetzen. Maßgeblich beteiligt ist Richter an der Reform der deutschen Psychiatrie und Sozialpsychiatrie, wofür er 1980 den Theodor-Heuss-Preis erhält. Die in der Psychiatrie-Enquête als Modell der regionalen Selbstorganisation der psychosozialen Versorgungsdienste empfohlene »Psychosoziale Arbeitsgemeinschaft« wird beispielsweise auf Richters Vorschlag hin dort aufgenommen und ganz nach dem Modell der Initiativgruppe konzipiert. Richters Fähigkeit, jeweils von allen seinen Partnern etwas zu lernen und die in einem Feld gewonnenen Erkenntnisse auf andere Zusammenhänge zu übertragen, stellt eine seiner großen Stärken dar. Nachdem Richter in der Initiativgruppe einiges über die Kreativität von hierarchiearmen Spontangruppen erfahren hat, versucht er sofort, etwas von dem freien Geist, der diese Initiativgruppen prägt, in die institutionelle Struktur seines Psychosomatischen Zentrums und auch der »Psychosozialen Arbeitsgemeinschaft« in Gießen zu integrieren.
»psychosozial«: Von der Zeitschrift zum Verlag
Durch seine zahllosen Bücher, Artikel, Vorträge und Interviews trägt Richter maßgeblich dazu bei, dass diese zukunftsweisenden Experimente keine Einzelerscheinungen bleiben. Dank seiner Funktion als Vermittler, Botschafter, Interpret und kritischer Begleiter der »Neuen Sozialen Bewegungen« – zu denen die Frauen-, die Ökologie- und die Friedensbewegung gehören – werden sie zu Vorläufern einer Bewusstseinsveränderung, die unsere Gesellschaft erheblich geprägt hat.
Zu seinen publizistischen Aktivitäten gehört auch die Gründung der Zeitschrift psychosozial, in deren Herausgeberkreis Richter mich früh holt. Aus psychosozial geht später der von mir gegründete Psychosozial-Verlag hervor, den Richter nachhaltig unterstützt, indem er uns seine Erfolgsbücher zur Zweitverwertung überlässt. Danach kommen als Erstausgaben Die Krise der Männlichkeit in der unerwachsenen Gesellschaft (2006) und Die seelische Krankheit Friedlosigkeit ist heilbar (2008) heraus. Richter ist insofern Namensgeber des Psychosozial-Verlages, der sich der von ihm vertretenen Auffassung von Psychoanalyse verpflichtet weiß.
Psychoanalyse und empirische Forschung
Eine Vorreiterrolle hat Richter auch in Bezug auf die Kooperation von Psychoanalyse und empirischer Psychologie: Zusammen mit Dieter Beckmann entwickelt er bereits Anfang der 70er Jahre einen Persönlichkeitstest, bei dessen Konzeption psychoanalytisch relevante Kategorien besonderes Gewicht haben.
Dieses psychologische Testverfahren bekommt den Namen Gießen-Test (Beckmann/Richter 1972). Er wird in zahlreichen Untersuchungen verwendet, z. B. auch in der für die psychosomatische Medizin wegweisenden Studie über die »Herzneurose« (Richter, Beckmann 1969). Der Gießen-Test ist im deutschsprachigen Raum auch heute noch einer der am häufigsten verwandten Fragebögen zur Psychodiagnostik. Zusammen mit Elmar Brähler führt Richter periodisch Befragungen durch, mit denen die Befindlichkeit und die Einstellungen in der Bevölkerung erhoben werden. In weit über 1.000 Publikationen wird der Gießen-Test bislang zitiert. Er ist in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Mithilfe dieses Tests wird der Name Gießens buchstäblich in die weite Welt getragen – zumindest in die psychologische Fachwelt.
Die Existenz eines psychoanalytisch fundierten Tests, der auch bei den Methodikern der empirischen Psychologie Anerkennung findet, erlaubt ganzen Generationen von psychoanalytisch orientierten Forscherinnen und Forschern, sich in der empirischen Psychologie wissenschaftlich zu qualifizieren, ohne ihre psychoanalytische Orientierung aufgeben zu müssen. Viele psychoanalytische Kolleginnen und Kollegen verdanken ihre wissenschaftliche Karriere nicht zuletzt dem Gießen-Test und damit Richters frühzeitiger Öffnung der Psychoanalyse für die empirische Forschung. Auch in der Psychotherapie-Forschung wird der Gießen-Test häufig angewandt. Unter Richters Leitung betreiben wir schon in den 70er Jahren Psychotherapie-Verlaufsforschungen und katamnestische Studien, in denen wir die Wirksamkeit von Psychotherapie, beispielsweise die der Paar-Kurztherapie (vgl. Richter/Wirth 1978), untersuchen. Inzwischen sieht sich die Psychoanalyse unter dem Druck der Gesundheitsreform und in der stärker gewordenen Konkurrenz mit anderen psychotherapeutischen Verfahren genötigt, sich der Psychotherapie-Erfolgsforschung zu stellen.
Friedensbewegung und IPPNW
Bereits ab 1980 engagiert sich Richter in der Friedensbewegung und ist 1981 einer der maßgeblichen Gründer der westdeutschen Sektion der Ärzte gegen den Atomkrieg (IPPNW). Er beeinflusst die politische und inhaltliche Orientierung der bundesdeutschen IPPNW von Anfang an in Richtung Basisdemokratie und eines kollegialen Miteinanders. Das Engagement in der Friedensbewegung gewinnt immer größeres Gewicht in Richters Leben. Er verfasst die berühmte »Frankfurter Erklärung«, in der jeder Unterzeichner sich mit seiner Unterschrift dazu bekennt, sich jeglicher kriegsmedizinischen Schulung und Fortbildung zu verweigern. In etwas abgewandelter Form, als »New Physicians’ Oath«, wird diese Erklärung, nachdem Richter sie auf dem 2. IPPNW-Weltkongress in Cambridge eingebracht hat, von der Weltföderation übernommen. Im Jahr 1985, als das atomare Wettrüsten seinen Höhepunkt erreicht, erhalten die Internationalen Ärzte zur Verhütung des Atomkrieges – und mit ihnen Horst-Eberhard Richter – den Friedensnobelpreis. Der Friedensnobelpreis dürfte die wohl höchste Ehrung sein, die man erhalten kann. Dennoch sind nicht alle begeistert von der Verleihung. Besonders in der damaligen deutschen Regierung unter Helmut Kohl ist die Empörung groß, dass eine Organisation, die man als »Moskau-gesteuert« bezeichnet, so geehrt wird. Richter grenzt sich immer gegen eine Vereinnahmung durch falsche Freunde ab, lässt sich aber umgekehrt durch Verdächtigungen auch nicht von seinem eigenen Weg abbringen.
Sein friedenspolitisches Engagement auf internationaler Ebene bringt Richter 1987 auch in Kontakt mit einer Arbeitsgruppe unter der Schirmherrschaft von Michail Gorbatschow. Zu dieser Vereinigung, die sich »für eine atomwaffenfreie Welt und für das Überleben der Menschheit« einsetzt, gehören unter anderem der russische Atomwissenschaftler und Menschenrechtler Andrej Sacharow, Ex-US-Verteidigungsminister und Weltbank-Chef Robert McNamara und der Gründer von Greenpeace, David McTaggart. Von den Projekten, die diese Gruppe ins Leben ruft, holt Richter eines an seine Klinik: Es geht um eine psychologische Untersuchung, in der 1.400 Studierende der Justus-Liebig-Universität Gießen und 1.000 Moskauer Studierende zu ihren Einstellungen, politischen Meinungen, Wünsche und Ängste befragt werden. Natürlich kommt auch der Gießen-Test zum Einsatz. Das zentrale Ergebnis dieser Untersuchung – die noch vor dem Ende des Kalten Krieges, noch vor der Maueröffnung stattfindet – gibt an, dass junge Russen und Deutsche sich psychologisch viel näher sind und viel weniger Vorurteile über den jeweils anderen haben, als die offizielle Politik vermuten lässt. Die Ergebnisse publiziert Richter 1990 in dem Buch Russen und Deutsche. Alte Feindbilder weichen neuen Hoffnungen. Wieder taucht das Wort Hoffnung in einem seiner Buchtitel auf.
Als die Friedensbewegung nach dem NATO-Krieg gegen Jugoslawien 1999 von den Medien für tot erklärt wird, organisiert Richter als Antwort darauf zusammen mit der IPPNW den Kongress »Kultur des Friedens« (Richter 1999): Die große Teilnehmerzahl demonstriert, dass die Friedensbewegung in Deutschland sich gewandelt hat, aber keineswegs gestorben ist.
»Erinnern hilft vorbeugen«
Die erinnernde Bearbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit stellt das zentrale Motiv für Richters politisches Engagement dar. Schon mit Eltern, Kind und Neurose hatte Richter ein theoretisches Konzept formuliert, mit dem die unbewussten Verstrickungen der Generationen, die transgenerationale Weitergabe von Traumata und von unbewussten Konflikten, psychoanalytisch verstanden werden konnte. Der Begriff der transgenerationale Weitergabe von Traumata sollte erst viele Jahre später von der Holocaustforschung geprägt werden, aber die zugrundeliegende Psycho- und Beziehungsdynamik wird von Richter bereits Anfang der 60er Jahre konzeptuell begriffen. Er selbst und andere Autoren haben diese Koinzidenz rückblickend auch so gesehen. Bemerkenswert ist allerdings, dass auch Richter seinerzeit die übergreifende historisch-politische Bedeutung seines Eltern-Kind-Konzepts nicht klar war. Der Holocaust und die anderen Verbrechen des Nationalsozialismus waren noch so abgespalten vom allgemeinen Bewusstsein, dass sie nicht thematisierbar waren. In »Patient Familie« drängt sich die latente Bedrohung durch das verleugnete Thema Nationalsozialismus noch eindringlicher auf, ohne dass es zu einer bewussten Thematisierung gekommen wäre. Die massenhafte Verbreitung angstneurotischer Familienstrukturen, die Richter für die fünfziger und sechziger Jahre konstatiert, lässt sich nach Überlegungen von Tilman Moser (1995) auf die »Schweigegebote« über die »Schrecken der Vergangenheit« zurückführen. Um sich nicht mit der nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontieren zu müssen, klammerten sich viele Familien »mit Hilfe von Vermeidungs- und Verleugnungstaktiken an die Illusion einer friedlichen, guten, geordneten Welt« (Richter 1970) und organisierten ihr familiäres Zusammenleben nach dem Vorbild eines harmonischen und konfliktfreien Sanatoriums. Für das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern hatte dies zur Folge, dass diese ängstlich überbehütet und phobisch gebunden wurden. Die Jugend- und Protestbewegung der sechziger Jahre kann unter anderem auch als ein Aufstand gegen diese überfürsorgliche und als einengend empfundene Bevormundung sowie als erste emotional bedeutsame Thematisierung der verleugneten deutschen Vergangenheit verstanden werden.
Erst im Zusammenhang mit der Nachrüstungsdebatte und dem erneuten Wettrüsten zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt Anfang der 80er Jahre kommen Richter die Erinnerungen an die Grausamkeiten des zweiten Weltkrieges, seine eigenen Kriegserlebnisse und die Unmenschlichkeit des Nationalsozialismus zu vollem Bewusstsein. Richter prägt das Motto »erinnern hilft vorbeugen«, unter das die bundesdeutsche Sektion der »Internationalen Ärzte für die Verhütung eines Atomkrieges« (IPPNW) ihre Kampagne von 1985 stellt, mit der sie die öffentliche Diskussion und Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu einem zentralen Anliegen ihres Kampfes für die Beendigung des Wettrüstens macht. Dem liegt der Gedanke zugrunde, die Beschäftigung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus könne unsere Wahrnehmung für die psychischen und sozialen Umstände sensibilisieren, die die »psychische Krankheit Friedlosigkeit« (eine Formulierung, die Richter von Carl Friedrich von Weizsäcker [1967] übernimmt) bedingen. Unsere Friedensfähigkeit heute – so lautet Richters Überlegung – hänge entscheidend von der Bereitschaft ab, zu erinnern und im Gedächtnis zu bewahren, welche Verbrechen von den Deutschen an den Juden und an den Nachbarvölkern begangen wurden, so wie umgekehrt das aktive Eintreten für die Überwindung der Konfrontation zwischen den Militärblöcken und die Beschäftigung mit den psychischen und gesellschaftlichen Bedingungen des paranoiden Freund-Feind-Denkens nahezu zwangsläufig dazu führe, dass man sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen beginne. Insofern knüpft Richter an die berühmte Zeitdiagnose Alexander und Margarete Mitscherlichs von der Unfähigkeit zu trauern (1967) an, wendet diese aber in ein sozialtherapeutisches Konzept, das originär psychoanalytischen Erfahrungen folgt: die erinnernde Bearbeitung der traumatischen Vergangenheit befreit auch auf der kollektiven Ebene von dem Zwang, die alten Traumata zu wiederholen und eröffnet neue Denk- und Handlungsräume.
Die RAF verstehen?
Es gehört zur zentralen Aufgabe des Psychoanalytikers, sich mit den dunklen, den verdrängten, ja auch den bösen und destruktiven Seiten des menschlichen Lebens zu beschäftigen. Da ein tieferes psychologisches Verständnis nur möglich ist, wenn man sich einfühlend und emotional nachvollziehend auf den anderen einlässt, entsteht für den Außenstehenden oft das Missverständnis, Verstehen sei mit Rechtfertigung, gar mit Parteinahme gleichzusetzen. Als Richter die Ex-Terroristin Birgit Hogefeld im Gefängnis betreut, wird ihm genau dieser Vorwurf gemacht, er sei ein »RAF-Versteher« und rechtfertige damit – zumindest indirekt – deren terroristische Taten. Tatsächlich geht es Richter jedoch darum, über das mitfühlende Verständnis der ehemaligen Terroristin die Rückkehr in die Gesellschaft zu ermöglichen.
Psychoanalyse als Sozialphilosophie
Richter hat nicht nur seine theoretischen Interessen, sondern ebenso seine praktischen Forschungsstrategien und schließlich auch seine Versuche der praktisch-therapeutisch-politischen Beeinflussung vom Individuum auf die Zweierbeziehung, von dort auf die Familie, von der Familie auf die Gruppe, von der Gruppe auf den Stadtteil und die regionalen psychosozialen Versorgungssysteme ausgeweitet, um bei sozialen Bewegungen, politischen Entscheidungsträgern (Die hohe Kunst der Korruption), der Interaktion zwischen Völkern (Russen und Deutsche) und schließlich bei philosophischen Betrachtungen (Der Gotteskomplex) anzukommen. Der Gotteskomplex (1979) wird sein psychoanalytisch-sozialphilosophisches Hauptwerk, in dem er, auf Eltern, Kind und Neurose aufbauend, an Sigmund Freuds Begriff des »Prothesengottes« aus dem Unbehagen in der Kultur (1933) anknüpfend, sein Verständnis des Grundproblems des modernen Menschen entwickelt. Richters weit ausholende These setzt beim Übergang aus der religiösen Geborgenheit des Mittelalters in die aufgeklärte Neuzeit an. Nach dem Verlust der mittelalterlichen Gotteskindschaft floh der Mensch in die Identifizierung mit göttlicher Allmacht und Allwissenheit. Der Glaube an Gott wurde durch den Glauben an die Allmacht des Menschen ersetzt. »Die grandiose Selbstgewissheit des Ich ist an die Stelle der Geborgenheit in der großen idealisierten Elternfigur getreten. Das individuelle Ich wird zum Abbild Gottes.« Der Versuch, die Schattenseiten des Lebens – Alter, Krankheit, Gebrechlichkeit, Schwäche, Ohnmacht und schließlich der Tod – durch die übertriebene Betonung der entgegengesetzten Eigenschaften – Jugendlichkeit, Gesundheit, Fitness, Stärke, Macht und Todesverachtung – zu verleugnen, bezeichnet Richter als »Krankheit, nicht leiden zu können«. Wer aber nicht leiden will, der muss hassen und sucht sich dafür Sündenböcke, auf die er die eigenen verleugneten schwachen Seiten projizieren kann, so lautet seine psychoanalytisch fundierte Schlussfolgerung.
Botschafter der Psychoanalyse
Es bedarf eines großen Mutes und einer starken Selbstgewissheit, um mit der sozialen Isolationsdrohung und Ächtung fertig zu werden, die Richter aus der Professoren-Kollegenschaft der Ärzte, teilweise aber auch von seinen Psychoanalytiker-Kollegen nicht selten entgegenschlagen. Indem er sich beharrlich der Auseinandersetzung mit dieser Kollegenschaft stellt, gewinnt er die Kraft, sich von den Zwängen und Denkverboten, die die verschiedenen Rollen mit sich bringen, zu distanzieren. Ich schätze an Richter besonders, dass er ein Neuerer des psychoanalytischen Denkens ist, der den Kontakt zur Psychoanalyse nicht abgebrochen hat, der keine eigene, mehr oder weniger sektiererische Schule gegründet hat, wie es in der Geschichte der Psychoanalyse so häufig passiert ist. Vielmehr hat er seine Gedanken in den Strom der psychoanalytischen Diskussion einfließen lassen. Bezeichnenderweise ist er es, der nach seiner Emeritierung in Gießen von 1992 bis 2002 die Leitung des unmittelbar von der Schließung bedrohten Sigmund-Freud-Instituts in Frankfurt übernimmt und dieses in eine gesicherte Zukunft führt.
Richter wirkt in der Öffentlichkeit als ein Botschafter der Psychoanalyse, der in Deutschland neben Alexander und Margarete Mitscherlich wie kein anderer dazu beigetragen hat, dass psychoanalytische Argumente in der Öffentlichkeit Gehör finden. Mit seinen Publikationen, die sich an eine breite Leserschaft richten, betreibt er eine Art »psychoanalytischer Volksaufklärung«, wie sie in den Anfängen der psychoanalytischen Bewegung zum Selbstverständnis vieler Psychoanalytiker gehörte. Sowohl die Psychoanalyse in Deutschland als auch die Öffentlichkeit haben dem »psychoanalytischen Publizisten« Richter viel zu verdanken: Unzählige Menschen sind durch ihn darauf aufmerksam gemacht worden, dass es so etwas wie Psychoanalyse und psychotherapeutische Hilfe für ihre seelischen Probleme überhaupt gibt. Auf der anderen Seite wäre auch die psychoanalytische Gemeinschaft ohne den »politischen Psychoanalytiker« Richter ärmer: Seine Bücher und Ideen haben unsere Sensibilität für die Bedeutung sozialer und politischer Probleme bei der Bewältigung unserer unbewussten Konflikte geschärft und deutlich gemacht, dass die Psychoanalyse nicht in einem gesellschaftsfreien Raum existiert. Zugleich ermutigt und motiviert sein konstruktives politisches Engagement viele Menschen – außerhalb und innerhalb der Psychoanalyse –, eigene Initiativen zu ergreifen, um sich in gesellschaftliche Konflikte einzumischen.
Horst-Eberhard Richter als Charismatiker
Doch wie gelang es Horst-Eberhard Richter, über einen Zeitraum von fast 50 Jahren, so beständig und einflussreich in der öffentlichen Diskussion präsent zu bleiben, und das mit so belastenden Themen wie Randgruppen, Vorurteilen und Krieg? Dies hängt mit einer Eigenschaft zusammen, die der Soziologe Max Weber als Charisma bezeichnet. Die charismatische Persönlichkeit wird von einer besonderen Aura umgeben, die auf andere motivierend und faszinierend wirkt. Charismatische Persönlichkeiten haben die Vision einer besseren Zukunft, sie verfügen über Selbstvertrauen, Entschlossenheit und Ausdauer, sie besitzen eine außergewöhnliche Bereitschaft zum Risiko und scheuen keine persönlichen Wagnisse, sie leben ihre Vision vor, fungieren als Sprachrohr der Gemeinschaft und sind anregende Kommunikatoren, die ihre Botschaften einfallsreich und emotional ansprechend vermitteln. Richter verkörpert wie kaum ein Zweiter den Glauben und die Hoffnung auf eine bessere, friedlichere und gerechtere Welt, auch wenn er diese Utopie häufig in eine Frage kleidet: Sind wir zum Frieden fähig? (1980) oder: Ist eine andere Welt möglich? (2003). Richter ist deshalb häufig als »Gutmensch« belächelt worden. Das hat ihn zwar geärgert und gekränkt, aber er hat diese Bezeichnung auch als Auszeichnung verstanden und sich in der Rolle des »Mahners«, des »Gutmenschen«, des »Gewissens der Nation«, gar des »Psychotherapeuten der Nation« (Johannes Rau) wohlgefühlt.
Horst-Eberhard Richter war nicht nur der Mahner, der gesellschaftliche Missstände anprangert, sondern auch der Verkünder des Prinzips Hoffnung, der konkrete Modelle entwirft, wie etwas zum Besseren gewendet werden kann. Es ist diese besondere Kombination von mahnender Kritik und hoffnungsvollem Optimismus, die seinen Botschaften bei so vielen Menschen so große Resonanz beschert hat.
Der Jüdische Nationalfonds hat ihm zu Ehren als Auszeichnung für sein Lebenswerk im Jahr 2000 übrigens zehn Bäume gepflanzt. Das Bundesverdienstkreuz hingegen, welches H.-E. Richter gleich drei mal verliehen werden sollte, hat er jeweils abgelehnt, weil dieses „zu viele Altnazis“ erhalten hätten.Â
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