„Staatsfeindliche Tätigkeit durch Erziehung von Kindern in jüdisch-marxistischem Sinne…“

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Eine Wiederentdeckung vergessener Berliner Psychoanalytikerinnen

Von Roland Kaufhold

Jede Disziplin und Berufsgruppe hat ihre eigene Geschichte. Die Geschichte der Psychoanalyse, die man zuerst einmal mit Sigmund Freud assoziiert, wurde vor allem durch das Exil, die Vertreibung der jüdischen Psychoanalytiker „unterbrochen“, wenn nicht sogar ausgelöscht (Kaufhold 2001, 2003, Kaufhold & Hristeva 2021). Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis deutsche Psychoanalytiker nach der Shoah wieder internationale Kontakte zur internationalen psychoanalytischen Gemeinschaft zu knüpfen vermochten. Jüdische Emigranten wie etwa Hans Keilson (1909 – 2011), der 1936 noch rechtzeitig von Berlin nach den Niederlanden geflohen und dort im Untergrund sowohl pädagogisch-therapeutisch tätig als auch in der Widerstandsbewegung engagiert war (Kaufhold 2008), blieb immer skeptisch-vorsichtig, was seine Beziehung zu Deutschland und insbesondere zu älteren deutschen psychoanalytischen Kollegen betraf.

Die Psychoanalytikerin Christiane Ludwig-Körner hat die Biografien von 16 Frauen recherchiert, die für die Geschichte der Psychoanalyse Berlins von Bedeutung sind. Hierbei wurde von ihr bewusst auf enge Zugehörigkeiten zu psychotherapeutischen „Schulen“ oder Richtungen verzichtet. Die meisten der im Buch Wiederentdeckt. Psychoanalytikerinnen in Berlin Portraitierten sind nur Fachkreisen bekannt. Die Mehrzahl von ihnen wirkte schon vor der Nazizeit bzw. erlebte während der Nazizeit die Anfänge ihrer psychoanalytischen Ausbildung. Dies wird im Buch nicht als eigenständige, bildungsmäßige bzw. weltanschaulich prägende Kategorie aufgegriffen – also die Frage, was es für die professionelle Identität bedeutete, wenn man, nach dem Ausschluss bzw. dem Rauswurf der jüdischen Kollegen aus den freiwillig „gleichgeschalteten“ psychoanalytischen Institutionen (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021) wie dem in Berlin ansässigen „Deutschen Institut für Psychologische Forschung und Psychotherapie“, im „Göring-Institut“ ausgebildet wurde. Dies wäre Gegenstand einer eigenständigen Forschungsarbeit, wie sie Andreas Peglau (2013) vorgezeichnet und am Beispiel von Matthias Heinrich Göring, 1935 Mitbegründer besagten „Deutschen Instituts“, vorgenommen hat. 

Viele der im Buch portraitierten – bzw. „wiederentdeckten“ – Frauen waren nicht über das Studium der Medizin zur Psychoanalyse gekommen, sondern hatten zuvor in pädagogischen bzw. sozialen Berufen gearbeitet – waren also „Laienanalytiker“, bis sie sich der Psychoanalyse als Hauptberuf zuwendeten. Dieser Aspekt wird in dem den 16 Biografien vorangestellten Beitrag „Zur Geschichte der „Laienanalyse“ in Berlin“ (S. 13-28) in knapper Form dargestellt.

Viele der portraitierten Psychoanalytikerinnen leiteten Berliner Erziehungsberatungsstellen, wie etwa Hildegard Ahlgrimm (1921-2009), die an der Zehlendorfer Beratungsstelle „ganze Generationen von Familien“ betreute (S. 29).

Fanny du Bois-Reymond (1891-1990) wird als eine vielfach entwertete Frau beschrieben. Sie machte an besagtem „Deutschen Institut“ ihre Ausbildung, wurde jedoch, da sie dem „Erfordernis einer rein arischen Abstammung nicht erfüllte“ (S. 44), nicht als Lehranalytiker zugelassen. Auch ihre literarischen Bemühungen als Lyrikerin werden im Buch vorgestellt. Immer wieder suchte sie schon geradezu verzweifelt Zugang, Anerkennung durch den „Arier“ C. G. Jung (vgl. Kaufhold & Wirth 2006). Diesen hatte sie bereits 1933 in Berlin kennengelernt hatte; ihre Beziehungsangebote wurden von Jung jedoch brüsk zurück gewiesen.

Besondere Wertschätzung und Beachtung verdient der detailreiche, erinnernde Beitrag über die aus Ungarn gebürtige Psychoanalytikerin Edit Ludowyk Gyömröi (1896 – 1987). Ihre jüdische Biografie und ihre antifaschistische Grundhaltung, ihre vielfältigen Fähigkeiten und ihr außergewöhnliches Charisma brachten sie von Budapest über Berlin, Prag und Budapest 1938 nach Ceylon und 1956 zurück nach Europa, nach England. Ihre Zugehörigkeit zu linksintellektuellen Künstlerkreisen sowie ihre mutiges Engagement in Otto  Fenichels – bei dem sie ab 1929 ihre Lehranalyse machte – linken psychoanalytischen Oppositionskreisen werden im Buch auf 30 Seiten detailgenau beschrieben. Diese faszinierende Biografie, die durch schwerste Verluste und imponierende Überlebensversuche geprägt ist, habe ich mit ausgeprägter Anteilnahme gelesen. Edit Ludowyk Gyömröis Biografie bildet ein unverzichtbares Element in der Geschichte und Theorieentwicklung der Psychoanalyse wie auch zur Erinnerung an Exilerfahrungen, ans Neubeginnen sowie an jüdischen Verfolgungserfahrungen – „mein Sohn kam in ein Arbeitslager. Und so habe ich ihn nie wiedergesehen.“ (S. 133)

Zumindest in Fachkreisen bekannt sind die Schwestern Berta (1899-1971) sowie Steff Bornstein (1893-1939) (vgl. Kaufhold 2003). Beide, aus Krakau gebürtig, hatten in Berlin ihre psychoanalytische Ausbildung gemacht und gehörten dort sowie in Wien zu dem kleinen Kreis der psychoanalytischen Linken aus dem Umfeld von Otto Fenichel und Wilhelm Reich. Sie gehörten auch beide zu dem inoffiziellen „Kinderseminar“ Otto Fenichels, das sich ab 1924 außerhalb des psychoanalytischen Instituts traf und aus dem sich die linksorientierte Gruppe formte, die sich zu privaten Zusammenkünften mit Fenichel trafen (Edith Jacobson, Annie Reich, Edit Gyömröi, Erich Fromm, Wilhelm Reich und Georg Gerö) (S. 81) (vgl. Kaufhold 2001, Peglau 2013).

Die Bornsteins gehörten auch zu den Empfängern der „Geheimen Rundbriefe“ Otto Fenichels, die an die weltweit verstreut im Exil lebenden linken Analytiker gingen. Das psychoanalytische und theoretische Wirken Berta Bornsteins, auch nach ihrer Emigration in die USA, wird nachgezeichnet und in identifizierender Weise hervorgehoben: „Berta Bornstein muß eine begnadete Analytikerin gewesen sein, die sich mit hoher Sensibilität in Menschen hineinversetzen konnte, nicht nur in Patienten, sondern auch in Ausbildungskandidaten.“ (S. 74)

Steff Bornstein war als bekanntere „Linke“ und als Kinderanalytikerin noch die Flucht nach Prag gelungen – wo sie Otto Fenichel wiedertraf. Gemeinsam gründeten sie die Prager psychoanalytische Arbeitsgemeinschaft unter Vorsitz von Frances Deri. Die Bornsteins waren auch die ersten Dozenten der Prager Gruppe. Im Juli 1939 verstarb sie erst 46-jährig an einem Herzinfarkt; die Emigration in die USA gelang nicht mehr. Inwieweit dieser Herzinfarkt auch verfolgungsbedingt war ist heute nicht mehr klärbar.

Es folgen im Buch u.a. Portraits von Käthe Dühsler, Adelheid Fuchs-Kamp, Gerda Leverkus und Ada Müller-Braunschweig.

Das berührende Portrait von Annemarie Wolff (S. 249-267), 1900 in Breslau geboren und 1945 im KZ Jasenovac in Jugoslawien „verstorben“, ist in die Geschichte der Shoah (vgl. Kaufhold & Hristeva 2021) eingebunden: Annemarie Wolff, die sich als ein katholisch gläubiger Mensch verstand, machte in Breslau ihr Abitur und begann dann ein Medizinstudium in Berlin, das sie wieder abbrach. Sie fand Anschluss an einen Kreis der Alfred Adler Schüler Fritz und Ruth Künkel, die 1924 in Berlin eine individualpsychologische Beratungsstelle eröffnet hatten. 1926 gründete sie selbst in Berlin-Hermsdorf ein kleines Heim für schwererziehbare Kinder, in dem auch Kinder von kommunistischen, sozialistischen und jüdischen Eltern unterrichtet wurden. Sie pflegte auch Kontakte zu Wilhelm Reich und Edit Gyömröi. Als die meisten Individualpsychologen ab 1933 emigrierten begann sie bei Therese Benedek eine Lehranalyse. 1936 wurde sie, die – wie sie in einem Brief schrieb, „hellwach das politische Geschehen“ verfolge (S. 259) – erstmals verhaftet. Als Grund nannte die Gestapo ihre „staatsfeindliche Tätigkeit durch Erziehung von Kindern in jüdisch-marxistischem Sinne.“ (S. 259) Die Kinder ihres Kinderheimes seien ihr „von staatsfeindlich gesonnenen Elementen, mit denen sie in ständiger Verbindung stand“ (ebd.) zugewiesen worden. Ein Antrag auf „Unterbringung in ein Konzentrationslager –Schulungslager“, hieß es in der Gestapoakte, werde „noch gestellt“. (ebd.)

1937 vermochte sie, zwölf der noch verbliebenen Kinder nach Prag zu bringen. Sie selbst floh auf Skiern über die Berge in die CSSR. Auch ihre siebenjährige Tochter konnte nach Prag gerettet werden. Ihrem jüdischen  Lebensgefährten Erwin Süßmann gelang 1935 die Flucht nach Zagreb. Sein Plan war die Übersiedlung nach Palästina, um dort einen Kibbuz zu gründen. Auch in Zagreb studierte Annemarie Wolff weiter die Werke Freuds und baute dort erneut ein Kinderheim auf. Der Anschluss an die Partisanen wurde aus Sorge um ihre Kinder immer wieder verschoben. Ihr Überlebenskampf wird detailreich beschrieben. Im Juli 1944 wurde sie erneut verhaftet, in das Konzentrationslager Jasenovac bei Zagreb verschleppt. Mindestens 80.000 Menschen wurden dort vom Ustacha-Regime ermordet, auch Annemarie Wolf verlor dort ihr Leben. Über das Lager werden im Buch zahlreiche Details dargeboten.

Ihre Tochter Ursula Wolff, spätere Heuss, überlebte. 2020 erschien von Marina Sindram das Erinnerungsbuch „Mit dem Kinderheim auf der Flucht – Annemarie Wolff-Richter (1900–1945), Heilpädagogin im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Biografie“, das auch Interviews mit Ursula Heuss-Wolff enthält.

Den Abschluss des lesenswerten Buches bildet ein Portrait der Pionierin der Kinderanalyse Nelly Wolffheim (1879-1965). In Berlin aufgewachsen und zeitlebens von schweren Krankheiten belastet – was sie in ihrer Autobiografie „Die Rätselhaftigkeit menschlichen Lebens“ im Kontext ihrer theoretischen Ausführungen entfaltete – begann sie 1921 am Berliner psychoanalytischen Institut sowie bei Karl Abraham ihre Ausbildung. 1934 gründete und leitete sie in Berlin ein  jüdisches Kindergärtnerinnenseminar (S. 273)[i]. Eine psychoanalytische Behandlung bei Schultz-Hencke – der als eine der kontroversesten Figuren der Psychoanalyse gilt und den viele als mitverantwortlich für die „Anpassung“ der Psychoanalyse an den Nationalsozialismus sehen –  brach sie nach kurzer Zeit „aus politischen Gründen“ ab, wie sie selbst schrieb (S. 273). Nach der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten schränkte sie ihre Kontakte zum Berliner psychoanalytischen Institut ein und brach diese ein Jahr später nach Gründung ihres jüdischen Kindergärtnerinnenseminars ganz ab, um ihre Arbeit dort nicht zu gefährden. (S. 273)

Ihre Tätigkeit verstand sie als einen verzweifelten Versuch, das Jüdischsein in Nazideutschland in ihrer kleinen Parallelwelt bewusst zu fördern und die lebensrettende Emigration der Kinder und deren pädagogischen Betreuerinnen nach Palästina doch noch zu ermöglichen. 1939 gelang ihr die Emigration nach England. Bis zu ihrem Tod beschäftigte sich Nelly Wolffheim mit dem Schicksal ihrer ehemaligen Schülerinnen. „Nur von einigen hörte sie nach dem Ende des Krieges wieder etwas.“ (S. 274)1963 schrieb sie eine Studie über „Eltern und junge Kinder im Kibbuz“. Gerd Biermann hatte 1997 ein Werk mit Studien Wolffheims und Begleitmaterialien erstellt, mit dem ihr Beitrag auch zur Psychoanalytischen Pädagogik zusammenfassend erschlossen werden konnte. 

Ein lesenswertes Buch!

Christiane Ludwig-Körner: Wiederentdeckt. Psychoanalytikerinnen in Berlin: Gießen: Psychosozial Verlag, 288 S., 19,90 Euro, Bestellen?

 

Literatur:

Biermann, G. (1997): Nelly Wolffheim und die Psychoanalytische Pädagogik. Gießen: Psychosozial-Verlag. 288 S., 19,90 Euro

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn. Impulse für die psychoanalytisch-pädagogischer Bewegung. Mit einem Vorwort von Ernst Federn. Gießen: Psychosozial Verlag.

Kaufhold, R. (2003): „Wo wäre die Psychoanalyse in Wien heut“? Spurensuche zur Geschichte der in die USA emigrierten Wiener Psychoanalytischen Pädagogen, in: „Zur Geschichte der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung I, 1938-1949“, Hg. Thomas Aichhorn, Luzifer-Amor (Heft 31, 16. Jg., S. 37-69); sowie in überarbeiteter Version auf haGalil 9/2020: https://www.hagalil.com/2020/09/psychoanalyse-2/

Kaufhold, R. & H. J. Wirth (2006):  Der Weg ins Exil: Vor 70 Jahren emigrierte Sigmund Freud nach London. In: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, 44. Jahrgang, Nr. 177 (Heft 1/2006), S. 158-171. https://www.hagalil.com/archiv/2008/11/freud.htm

Kaufhold, R. (2008): „Das Leben geht weiter“. Hans Keilson, ein jüdischer Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pädagoge und Musiker, in: Zeitschrift für psychoanalytische Theorie und Praxis (ZPTP), Heft 1/2-2008, S. 142-167. Internet: haGalil, Mai 2021: https://www.hagalil.com/2021/05/keilson-3/

Kaufhold, R. & G. Hristeva (2021): »Das Leben ist aus. Abrechnung halten!« Eine Erinnerung an vertriebene Psychoanalytiker unter besonderer Berücksichtigung von Wilhelm Reichs epochemachenden Faschismus-Analysen. In. Psychoanalyse im Widerspruch, H. 66/2021 (Gießen: Psychosozial Verlag), S. 7 – 66.

Peglau, A. (2013): Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen, Psychosozial Verlag.

 

[i] Vgl. Nelly Wolffheim: Ein jüdisches Kindergärtnerinnenseminar als Notstandseinrichtung. Ein Dokument aus der Nazizeit April 1934 bis März 1939, in: Biermann, G. (1998): Nelly Wolffheim und die psychoanalytische Pädagogik. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 79-122. Siehe auch meine Besprechung des Werkes in der Zeitschrift Kinderanalyse 2/1998, 6. Jg., S. 195-197, auch auf haGalil 3/2011: https://buecher.hagalil.com/2011/03/wolffheim/