„Ich schäme mich schrecklich, alles das zu erleben“

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Das Bergen-Belsen Tagebuch von Hanna Lévy-Hass

Von Roland Kaufhold 

Die Israelin Hanna Lévy-Hass, 1913 in Jugoslawien geborene Jüdin und überzeugte Linke, ist heute weitgehend vergessen. Was heute hierzulande noch greifbar von ihr ist, das ist ihr Tagebuch aus Bergen-Belsen, das sie ab August 1944 acht Monate lang verfasst hatte. Die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte dieser tief berührenden Notizen einer Shoah-Überlebenden wird in dieser Studie ausführlich dargeboten, wie auch wesentliche Inhalte dieser aufrührenden, wahrhaftigen Aufzeichnungen.

Zugleich sind Biografie und die Schrift Hannas[i] eingebunden in die Rezeption der jugoslawischen, der deutschen wie auch der israelischen Linken, was vollständig in Vergessenheit geraten ist: Die Jugoslawin (und spätere Israelin) Hanna war als Jüdin im antifaschistischen Kampf im Umfeld von Titos Partisanen engagiert. Sie führte in Bergen-Belsen einen verzweifelten Überlebenskampf, in dem sie auch innerlich mit und über ihre jüdische Identität rang: War sie vorrangig eine linke Antifaschistin – oder war sie eine Jüdin?

Nach ihrer Befreiung im Frühjahr 1945, hierbei war sie dem Tode näher als dem Leben, und nach ihrer Rückkehr nach Jugoslawien wanderte sie Ende 1948 in den jungen Staat Israel ein. Zusammen mit ihrem Mann, gleichfalls ein überzeugter Linken, engagierte sie sich in Israel sowohl in der Kommunistischen Partei als auch später in feministischen Kreisen Israels.

Eine hiesige Verbindungslinie zu ihr bildet der radikale Linke und „Antideutsche“ Eike Geisel. Gemeinsam mit seinem Freund Wolfgang Pohrt und dem jungen H.-M. Broder prägten sie ab den 1970er Jahren auf unnachahmliche, sprachlich bestechende, kompromisslose Weise ein tiefes Verständnis auch des linken Antisemitismus (vgl. Kaufhold, 2022). Eike Geisel lernte Hanna 1978 kennen und überzeugte sie, ihr Bergen-Belsen-Tagebuch auch auf deutsch zu publizieren. 1979 erschien es beim Rotbuch Verlag, Herausgeber war Eike Geisel.

Die weitere Verbindungslinie zu Hanna ist ihre 1958 in Jerusalem geborene Tochter Amira Hass. Ihrem Bergen-Belsen Tagebuch stellte Hanna eine auf hebräisch und deutsch verfasste Widmung voran: „Für meine Tochter Amira, Israel 1974“ (S. 6).

Amira Hass‘ sehr kritischen Berichte als Journalistin, Buchautorin und Haaretz-Korrespondentin (ab 1989) u.a. über die 1. Intifada sowie ihre Kolumnen aus Gaza und Ramallah machten sie gleichermaßen respektiert wie verhasst in Israel. Für in Israel lebende Linke ist ihr publizistisches Engagement eine Ermutigung. Hierzulande, das sei an dieser Stelle erwähnt, machten sie ihre scharfen Angriffe gegen die israelische Siedlungspolitik beim bundesdeutschen BDS-Spektrum zu einer Ikone der „Israelkritik“. Mehrere ihrer Bücher – Morgen wird alles schlimmer. Berichte aus Palästina und Israel (2006); Bericht aus Ramallah (2004); Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land (2003) – wurden auch auf deutsch publiziert. „Israelkritik“ verkauft sich gut.

2009 – Eike Geisel und Hanna Lévi-Hass lebten da schon nicht mehr – publizierte Amira Hass das Bergen-Belsen Tagebuch neu auf deutsch, erweitert mit eigenen detailreichen Erinnerungen an ihre Eltern. Da diese Buchversion weiterhin greifbar ist, werde ich hierauf nicht weiter eingehen.  

Entstehung und Rezeption ihres Tagebuchs

Hanna hatte in Bergen-Belsen ein kleines Notizheft. Immer wenn sie Zeit und Kraft fand notierte sie – selbstredend war dies verboten – acht Monate lang, vom August 1944 bis April 1945, ihre detailreichen Alltagserlebnisse und Interpretationen des Grauens und der Vernichtung in Bergen-Belsen. Ihrer Aufgabe als Zeitzeugin und Chronistin war sich die ehemalige Lehrerin bewusst, wie auch ihrer sehr besonderen Rolle als überzeugte Linke. Sie notierte alles, um es später, so sie doch überleben sollte, wovon sie nicht unbedingt überzeugt war, zu erweitern. Hierbei erhielt sie Unterstützung durch Mithäftlinge, die sie beim Schreiben schützten und in Gesprächen mit ihr ihre Erfahrungen des Überlebenskampfes mit ihr teilten.

Das persönlich gehaltene Tagebuch blieb lange unveröffentlicht, die Autorin war wohl auch ambivalent, was eine erneute Veröffentlichung betraf. 1979 übersetzte und veröffentlichte Eike Geisel es beim Berliner Rotbuch Verlag unter dem Titel Vielleicht war das alles erst der Anfang. Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen 1944-1945, zusammen mit einem 39 Seiten umfassenden Gespräch mit Hanna. Bis 1979 hatte das Tagebuch fünf Ausgaben in verschiedenen Ländern erlebt.

Zur Vorgeschichte der deutschen Veröffentlichung des Tagebuches

Als Hanna wie Tausende weitere Gefangene von den Deutschen bei Kriegsende in das KZ Theresienstadt transportiert werden sollte – die Deutschen versuchten, obwohl der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, noch die letzten jüdischen Überlebenden und Zeugen ihrer Verbrechen zu vernichten (vgl. Kaufhold 2017, 2020a) – nahm sie, die selbst aufgrund der KZ-Haft körperlich schwer geschädigt und geschwächt war, die Tasche mit dem Tagebuch mit.

Am 15.4.1945 wurde das Konzentrationslager Bergen-Belsen von den Engländern befreit; Bergen-Belsen war das einzige KZ, das durch die britische Armee befreit wurde.

Hanna war da nicht mehr in Bergen-Belsen. Körperlich schwerst geschädigt hoffte sie auf die Befreiung durch die Russen.

Anfang Mai 1945, sie übernachtete, dem Tode nahe, in einem Dorf, kam die russische Armee. Die Russen waren ihre Befreier, aber zugleich sagten diese ihr und ihnen, dass sie ihnen nicht helfen könnten, sie müssten sich „allein orientieren und selber zusehen“, wie sie nach Hause kommen (S. 73). Es gelang. Mitte Mai starteten sie, weitestgehend zu Fuß. Über Dresden kamen sie Ende Juli in Bratislava an.

Hanna kehrte nun nach Jugoslawien zurück. Ihre „Notizen“, Basis ihres späteren Tagebuches, hatte sie, so sagt sie im Buch-Interview mit Eike Geisel, „immer mit anderen Kleinigkeiten in meiner Tasche gehabt“. (S. 62)

Sie bekam eine gute Stelle bei Radio Belgrad, wo sie französischsprachige Sendungen produzierte. Nach „einigen Wochen und Monaten“ (S. 62) schrieb sie das Tagebuch ab. Inwieweit sie es hierbei noch erweiterte wird im Buch nicht mitgeteilt; ich gehe jedoch davon aus, dass dem so ist. 1946 verteilte sie 10 oder 20 Exemplare in Jugoslawien an Freunde. Mehr unternahm sie nicht. Ende 1948 ging sie nach Israel. Ihre Entscheidung für ihre linke jüdische Identität, mit der sie bereits in Bergen-Belsen gerungen hatte (s.u.), war gefallen. Sie wollte Jüdin unter Juden sei, unbehelligt vom Antisemitismus.

Ende 1948: Israel

Ende 1948, 31 Monate nach ihrer Befreiung, wanderte sie nach Israel ein. In dem erst sieben Monate zuvor gegründeten jüdisch-demokratischen Staat, der militärisch um sein Überleben kämpfen musste – die Kämpfe endeten im Januar 1949 parallel zu ihrer Ankunft – bestand Interesse an Hannas Erfahrungen. Sie wurde gefragt, ob sie etwas über Bergen-Belsen berichten könnte. Damit war das Interesse für ihr auf serbokroatisch verfasstes Tagebuch wieder geweckt. Von 120.000 Juden in Jugoslawien, dies sei ergänzend erwähnt, hatten weniger als 10.000 überlebt. Von den 16.000 serbischen Juden überlebten nur 1500.  

Die Shoah, das jüdische Schicksal, ist auch in Serbien und Kroatien ein Tabu geblieben. Die Mehrzahl der Juden wurden in den KZs in Belgrad ermordet: „Im Juni 1942 erreichte eine Depesche aus Belgrad das Reichssicherheitshauptamt (RSHA) in Berlin. „Serbien ist judenfrei“, meldete stolz der SS-Standartenführer Emanuel Schäfer, Befehlshaber der Sicherheitspolizei in Serbien, seinem direkten Vorgesetzten Heinrich Himmler.

Da Hanna seinerzeit die Einzige in ihrem Umfeld in Israel war, die serbokroatisch beherrschte, übersetzte sie ihr Manuskript ins Französische. Erneut verteilte sie einige Exemplare ihres Tagebuches. Es vergingen zwölf weitere Jahre, in denen ihre traumatischen Überlebenserlebnisse ungeteilt nur in ihr verblieben.

1961, während des Eichmann-Prozesses, traten Vertreter der FIRInternationale Föderation der Widerstandskämpfer – an Hanna heran und interessierten sich für eine Veröffentlichung ihrer Erinnerungen. Der Verlag der Widerstandskämpfer gab es daraufhin in einer Broschüre heraus, offenkundig auf französisch und auf deutsch. Auf englisch erschien es in den Jahren danach unter den Titeln Inside Bergen Belsen sowie Semantics of the self. Preservation and construction of identity in concentration camp diaries. 1963 erschien es auf Hebräisch, herausgegeben von der „Vereinigung der Antinazistischen Kämpfer“, 1972 in Italien beim linken Verlag „la Nuova Italia“ und 1974 in Israel als Printausgabe.

Die Überlebende wurde immer wieder an die Shoah, d.h. auch an ihr eigenes schweres Leid, ihren Überlebenskampf, erinnert. 1963 besuchte Hanna Buchenwald, was die Traumatisierungen wieder wach gerufen haben dürfte. Danach habe sie, so sagte sie im Interview mit Eike Geisel, „kein persönliches Interesse“ mehr an einer weiteren Veröffentlichung gehabt; eine Neuveröffentlichung ihres Buches erschien ihr als unangemessen (S. 63). 1973 trat sie als Zeugin bei einem DDR-Prozess gegen Adenauers sehr umstrittenen, tief in die NS-Verbrechen involvierten Minister Globke auf; der Prozess gegen den früheren NS-Mann erfuhr eine starke internationale Rezeption.

Kindheit in Jugoslawien und als Linke bei Titos Partisanen

Einige kurze Daten zu Hannas Biografie seien genannt: Sie wurde am 18.3.1913 in Bosnien geboren, hatte drei Brüder und vier Schwestern. Sie studierte in Serbien, machte 1936 ihr Diplom, um als Lehrerin zu arbeiten. Sie musste zwei Jahre warten, bis sie eine Stelle als Lehrerin bekam. Vereinzelt erlebte sie Antisemitismus, insbesondere als sich die Besetzung Montenegros durch Mussolini abzeichnete: „Und auf der Straße ist mir auch einmal gesagt worden: „Was gehst du denn nicht nach Palästina? Was hast du denn hier noch zu suchen.“ Mir kam das bloß lächerlich vor.“ (S. 77) Zwei ihrer Brüder verstanden sich als Zionisten, aber sie selbst nahm das anfangs nicht ernst. Hanna verkehrte in fast allen kommunistischen Zirkeln, fühlte sich zugehörig.

Im Interview mit Eike Geisel erinnerte sich Hanna auch an die Jahre vor ihrer Verschleppung nach Bergen-Belsen, an die Jahre des Widerstandes. Eike Geisel, dies sei  angemerkt, war seinerzeit – 1978 – 33 Jahre, Hanna Lévy-Hass war 65. Beide verband in diesen Jahren bei ihren Treffen in Genf, Deutschland und Israel auch eine Liebesbeziehung.

Spätestens seit 1943 war die überzeugte Linke, so erzählte sie es Eike Geisel 1978, bei der jugoslawischen Partisanenbewegung aktiv. Die Zugehörigkeit zu Titos Partisanen war für Hanna eine Selbstverständlichkeit. Sie arbeitete in Danilovgrad als Lehrerin, wurde dort jedoch, so erzählte sie es Eike Geisel, als Jüdin ziemlich schnell aus der Schule hinausgeworfen. Im Auftrag der Kommunistischen Partei bildete sie danach Mädchen in Erster Hilfe aus: „Als dann im Herbst 1943 die Deutschen kamen“, erzählte sie, „da war ich schon darauf vorbereitet, in die Berge zu gehen. Ich hatte schon die Adresse, gute Schuhe und was sonst nötig ist.“ (S. 67) Die Überlegung, sich den Partisanen anzuschließen, war sehr naheliegend. Jedoch verschob sie diesen Plan wegen des nazistischen Systems der Verfolgung immer wieder: Wenn eine Jüdin sich den Partisanen anschloss so kam es von den Deutschen i.d.R. zu einer Sanktionierung der übrigen Familienangehörigen. Aus Rücksicht auf ihre älteren, bedrohten jüdischen Freunde und Verwandte schob sie den Gang in die Berge, zu den Partisanen, immer wieder auf. Auch glaubte sie, dass die Partisanen sie befreien würden, wenn die Deutschen sie festnahmen, „aber das war eine große Illusion. (…) Aber wir haben uns immer diese Hoffnung gemacht. So haben wir gewartet und gewartet, bis der Tag kam, an dem die Deutschen gesagt haben: So, jetzt geht ihr alle mit uns. Die Gestapoleute wußten schon, daß wir auf keinerlei Hilfe hoffen konnten.“ (S. 69).

Im Gespräch mit Eike Geisel: Weitere Erinnerungen an Bergen-Belsen

Im Interview mit Eike Geisel erwähnt sie einige weitere, ihr Bergen-Belsen Tagebuch komplettierenden Erinnerungen.

So beschreibt sie im Tagebuch, dass sie im März 1945, wie auch die meisten ihrer Mithäftlinge, „von typhusartigem Fieber befallen“ war (S. 56) und im Bett blieb. Ihre Baracke wurde „mit einem besonderen Drahtverhau“ umzäunt: „Eine Quarantäne wurde eingerichtet. Ich hatte 15 Tage lang Fieber. (…) Medikamente gibt es nicht. (…) Ich habe phantasiert. Ich fühlte nur, daß ich dem Tode nah war, ganz nah.“ (ebd.) (vgl. Kaufhold 2021).

Als sie von Bergen-Belsen aus von den Deutschen mit den Todestransporten nach Theresienstadt verbracht werden sollte war sie schon nicht mehr klar bei Bewusstsein, „alles war wie in einem Nebel.“ (S. 71) Als sie den Waggon vereinzelt für eine kurze Zeit verlassen durften rupften sie Gras, „das wir dann gekocht und gegessen haben. Das war das Nichts. Wir waren bloß noch Skelette“ (S. 71), erzählte sie Geisel. Hierbei begegnete sie jugoslawischen Kriegsgefangenen, die in einem entschieden besseren gesundheitlichen Zustand waren. Diese waren von ihrem skelettartigen Anblick – „wir waren wie tote Leute, und die waren in ziemlich guter Verfassung“ (S. 71) – so schockiert dass sie ihr kaum zu antworten fähig waren. „Ich hatte Angst, so wie ein Tier.“ (S. 72)

April – Juli 1945: Die „Überlebenswanderung“ zurück nach Jugoslawien

Die „Überlebenswanderung“ dauerte von April bis Ende Juli 1945. Sie kam nach Bratislava, dann ging sie zwei Monate lang zu Fuß bis Dresden. Als sie eine Gruppe italienischer Deportierter, Antifaschisten, traf, die sehr unterstützend mit ihr umgingen, fühlte sie sich erstmal wirklich angenommen, wirklich glücklich, solidarisch: „Mit denen habe ich ein gutes Stück Weg zurückgelegt. Und die waren so gut. Alle richtige Leute aus dem Volk, Handwerker, sehr positive Menschen. (…) Es war wirklich eine gute Gemeinschaft. Ich war wie eine Königin. Man hat mir alles gegeben, immer das Beste für mich, das beste Zimmer. Sie waren sehr gute, wirkliche Genossen, und ich bin ganz gerührt, wenn ich daran denke.“ (S. 76) Nach dieser Phase des Glücks, der körperlichen und seelischen Erholung, trennten sie sich.

Die folgenden zwei Jahre – von September 1945 bis Ende 1948 – lebte Hanna in Jugoslawien, was vorhergehend bereits erwähnt worden ist.

Anfangs wollte sie in Jugoslawien bleiben. Ihre Position bei Radio Belgrad war eigentlich eine Günstige. Aber bis auf eine Schwester und einen Bruder war ihr niemand geblieben. Eine zweite Schwester war nach den USA gegangen.

1948: Israel und politisches Engagement in der Kommunistischen Partei

Am 31.12.1948 kam Hanna nach einer zehntägigen Reise in Israel an. Zuerst lebte sie in einer Barackensiedlung in der Nähe Haifas. Dort nahm sie sogleich Kontakt mit der kommunistischen Partei auf. Im Buch (S. 83-94) zeichnet sie die wechselvolle Entwicklung der Kommunistischen Partei Israels sowie deren Spaltungen nach, geprägt auch durch die ambivalenten Beziehungen der linken arabischen Gruppierungen Israels zum Staat Israel. Auch ihr Ehemann, den sie in Israel kennengelernt hatte, verstand sich, wie auch ihr Bruder, als „orthodoxer“ Kommunist. Die zentrale Kategorie zum Verständnis der Welt und des Lebens in Israel blieb für sie die Klassenfrage. Mit ironischem Unterton spricht sie von ihrer kommunistischen „Karriere“ in Israel, die ihr ein inneres Gleichgewicht gegeben habe. Sie stellt im Gespräch mit Eike Geisel die verschiedenen damaligen kommunistischen Gruppierungen Israels dar (Rakah, Maki, Matzpen, Moked, Mapam), was für ihre Gesprächspartner Eike Geisel von großem Interesse war. Mit ausgeprägter Enttäuschung erlebte sie, dass ein Teil ihrer arabischen Genossen in Israel die Tatsache der Nichtanerkennung Israels durch alle mittelöstlichen Länder schlicht ignorierten.

Schrittweise verstand Hanna Lévy-Hass sich nun eher als Feministin denn als Kommunistin, engagierte sich bei der feministischen Frauenliste Nashim, die 1977 bei der Wahl jedoch kein Mandat in der Knesset zu erreichen vermochte: Sie erhielt nur zwischen 5000 und 6000 Stimmen statt der seinerzeit notwendigen 18.000 Stimmen.

Ab 1977 – da war sie 64 – reiste Hanna regelmäßig nach Europa. 1978 führte Eike Geisel in Genf das Buchinterview mit ihr. Zeitgleich, hieran sei erinnert, war es zu mehreren starken Terrorangriffen von palästinensischen Kommandos gegen israelische Autobusse gekommen. Hierbei starben fast 40 Israelis, was Mitte 1978 zur militärischen Besetzung des Südlibanon durch die israelische Armee führte. Hanna betont im Gespräch mit Eike Geisel, dass sie den Glauben an die Menschheit trotz aller Rückschläge nie verloren habe. Es müsse in Israel eine politische Lösung geben. Eine militärische Lösung schaffe immer neue Probleme und verkompliziere die Situation zusätzlich (S. 99).

Hanna Lévy-Hass´ Bergen-Belsen Tagebuch – „Wir sind verroht. Ein jeder hat sich sein eigenes Elend vergraben“

Am 16.8.1944 begann Hanna mit dem Verfassen ihres Tagebuches über ihr Überleben im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Acht Monaten lang schrieb sie regelmäßig, inmitten der täglichen Not, Todesdrohungen und der permanenten Angst, ihre Eindrücke nieder. Dass sie die Hölle von Bergen-Belsen überleben würde erschien ihr immer wieder als höchst zweifelhaft. Und doch schrieb sie weiter, vor allem auch um die Hoffnung auf ein Weiterleben nicht aufzugeben. Im April 1945 verfasste sie ihre letzte Aufzeichnung, voller Zweifel, ob sie und ihre Leidensgenossen überleben würden. Im Buch umfasst ihr Tagebuch insgesamt 52 Seiten.

Hannas Tagebuch: Auszüge

Am 16.8.verfasste Hanna ihren ersten Eindruck. „Vergessen heißt verraten“ setzt sie ihrem Tagebuch als Motto voraus. Bereits die ersten Zeilen bringen ihre Verzweiflung angesichts der Allgegenwart des Terrors zum Ausdruck: „… Mein Inneres ist wie erstarrt, und ich fühle, wie meine Apathie gegenüber der Außenwelt jeden Tag wächst. Und jeden Tag fühle ich mich weniger fähig für ein Leben, wie ich es jetzt führe“, schreibt sie (S. 7). Die Verschleppung in das KZ ist eine scharfe Zäsur. Ihre sozialistische Grundhaltung versucht sie innerlich aufrecht zu halten; diese gibt ihr die Hoffnung auf ein – kollektives –  Überleben. Ohne diese Hoffnung, so spürt man in nahezu jeder Zeile, würde sie rasch zusammenbrechen und den Tod herbei sehnen. Ihre Situation, ihre „äußerst qualvollen Situationen“ (ebd.), wurde von Außen zugefügt, hierfür trägt sie keine Verantwortung. Dies muss sie sich immer wieder vergegenwärtigen. Der umfassende Terror in Bergen-Belsen wurde von den Nationalsozialisten perfide inszeniert. Die Ausbeutung der Arbeitskraft und die vollständige Zerstörung der Persönlichkeit und der Autonomie der Gefangenen, insbesondere der jüdischen Häftlinge, war das Ziel von Bergen-Belsen. Die Deutschen wollten den Gefangenen das Gefühl vermitteln, selbst für ihre ausweglose Lage verantwortlich zu sein: „Das wird heute sonnenklar, selbst hier in diesem Lager, in der grausamen Sklaverei, die uns vereint“, schreibt sie. Man fühlt sich an Ernst Federns (1946/2014) und Bruno Bettelheims (1979) psychoanalytische Studien zu den deutschen Vernichtungslagern erinnert (vgl. Kaufhold 2001).

„Die unheilbaren Krankheiten seelischer Isolierung“

Sie beschreibt das Chaos, die internen Konflikte zwischen den aus zahlreichen Ländern kommenden Tausenden von Häftlingen, die 25 Sprachen sprachen: „Man kann in dieser Atmosphäre nicht atmen. Es ist noch nicht das Allerschlimmste, daß Menschen aus allen Teilen der Welt hierher verschleppt worden sind (…) Welche Schande. Welch trauriges Schauspiel. Ein gemeinsames Event vereint Wesen, die einander kaum ertragen“ (S. 8). Verschärft werde ihre Lebenssituation durch „die unheilbaren Krankheiten seelischer Isolierung“, notiert sie. Der Platzmangel, die durch die Deutschen systematisch erzeugten verheerenden hygienischen Verhältnisse, die „unaufhörlichen Schikanen“ (S. 9) dienen dazu, die Persönlichkeit der Juden systematisch zu zerstören. Dennoch ist ihr ihre sozialistische Überzeugung eine Hilfe, um am umfassenden Terror nicht zu zerbrechen – eine Erkenntnis, die die KZ-Überlebenden Ernst Federn und Bruno Bettelheim in gleicher Weise hervorgehoben haben (Federn 1946/2014, Bettelheim 1943/1979, Kaufhold 2001).

„Ich bin daraus in meiner Überzeugung gefestigt hervorgegangen, ich kenne den Feind besser und habe gründlicher erkannt, wogegen man künftig kämpfen muss,“ notiert sie am 22.8.1944. Dann immer wieder niederdrückende Beschreibungen ihres seelischen Zerfallprozesses – den sie doch aufzuschreiben vermag. Am 24.8. notiert sie: „Ich bin durchdrungen von äußerster Müdigkeit und völliger Interessenlosigkeit. Was ist dem noch hinzuzufügen?“ (S. 10) Die Beobachtung im Lager, dass Männer „viel schwächer und weniger widerstandsfähiger sind als die Frauen“ (S. 10), verunsichert sie.

Der Sadismus der Deutschen

Immer wieder schreibt sie in direkter Weise über das Misstrauen zwischen den Häftlingen, deren Interesselosigkeit, den Mangel an Solidarität. Jeder versucht verzweifelt zu überleben, mehr von der spärlichen Tagesration, von Brot und Suppe abzubekommen, um zu überleben.

Und sie dokumentiert den allgegenwärtigen Sadismus der Deutschen: Selbst bei der Arbeit werden die Häftlinge, die Männer „bestialisch gequält“: „Die deutschen Bestien halten an ihrer bevorzugten Methode fest: Furchtbare Schläge und grobe hysterische Beschimpfungen. Sie zwingen die Arbeiter in die erniedrigendsten Situationen, veranlassen sie, auf den Knien zu rutschen und im Laufschritt Wagen zu ziehen.“ (S. 14) Auch Ernst Federn hatte dies in seiner wenige Monate nach seiner Befreiung aus Buchenwald, nach sieben Jahren KZ-Haft verfassten Studie zur „Psychologie des Terrors“ (Federn 1946/2014, Kaufhold 2014) beschrieben. Man vermochte nur zu überleben, so schrieb der politische jüdische Häftling Ernst Federn, wenn man das Schicksal des Sklaven übernahm, also die terroristische Lebenssituation im Lager akzeptierte. Erst dann vermochte man genügend seelische Energie freizusetzen, um sich dennoch solidarisch gegen die Deutschen zu wehren (Kaufhold 2001).

Hanna beschreibt immer wieder im Detail die alltäglichen Übergriffe, die Angriffe gegen die eigene Würde in Bergen-Belsen. Die drakonischen Strafen, um die jüdischen Häftlinge erst zu verletzen und dann zu vernichten. Vor allem jedoch dokumentiert sie den Sadismus, den Vernichtungswillen der Deutschen, den sie und ihre Mithäftlinge tagtäglich erlebten: „Die deutschen Offiziere blicken auf all das mit kaltblütiger Grausamkeit und Verachtung und befehlen: „Stillgestanden!“ Und wirklich, tödliches Schweigen herrscht in allen Seelen.“ (S. 15)

Immer wieder sieht Hanna in Bergen-Belsen neu eingelieferte Transportzüge aus anderen Ländern und anderen Konzentrationslagern, mit ungarischen und holländischen jüdischen Häftlingen. Als diese ankommen wird sie Zeugin einer Geburtstagsfeier, die die Holländer für ihre „geliebte Königin“ (S. 18) durchführen. Und sie inszenieren aus diesem Anlass eine Theateraufführung in Bergen-Belsen, extra für die holländischen Kinder.

Und immer wieder Beschreibungen der sadistischen Misshandlungen, der gezielten Zerstörungen der Persönlichkeit der jüdischen Häftlinge durch die Deutschen. Den jüdischen Häftlingen gilt der besondere, der straffreie Hass, der Zerstörungswunsch der Deutschen, als gezielte psychologische Strategie. Die Vernichtung der Juden, dies ist die wichtigste Aufgabe und Wunsch der Deutschen. Dieser steht spätestens im Jahr 1944 noch vor dem Gewinnen des Krieges! Die Vernichtung der Juden ist den Deutschen wichtiger als das Gewinnen des Krieges, dies beschreibt auch Hanna -, was auch in der Literatur vielfältig nachgewiesen worden ist (Kaufhold 2017): „Ein grenzenloses, schändlich zur Schau gestelltes, stinkendes und heulendes Elend. Genau das haben die Nazis gewollt. Genau das. Und bis zu ihrem infamen, tierischen Grade zu demütigen, uns bis zum Wahnsinn zu treiben und in unserem Innern sogar die Erinnerung daran abzutöten, daß wir einmal menschliche Wesen waren“ (S. 19), notierte Hanna am 1.9.1944 klarsichtig.

Die Degradierung der Häftlinge zu einer Nummer

Die Angst ist Hanna nie wieder los geworden, auch nicht im Alter. Vor allem erinnert sie den grenzenlosen allgegenwärtigen Sadismus der Deutschen. Dieser zeigte sich bereits mit Beginn ihrer Verschleppung, während der sogenannten, mustergültig vorbereiteten „Transporte“ der Juden hin zu den Konzentrationslagern. Bereits mit dem Beginn der geplanten Vernichtung der Juden sollte – wie es auch Bettelheim und Federn beschrieben haben – der Wille, die Würde der Gefangenen zerstört werden. Sie sollten zu einer bloßen Nummer degradiert, entwürdigt werden. Hanna erinnert sich an die Transporte: „Die Deutschen lehnten es ab, die Waggons zu öffnen, selbst zur Verrichtung der Notdurft. Nur dreimal während der ganzen Fahrt konnte man zu diesem Zweck den Waggon verlassen. Aber das war so schändlich und demütigend, daß ich jetzt noch rot werde. (…) All das vollzog sich unter Verwünschungen, Verhöhnungen, wilden sadistischen Rufen. (…) Auch habe ich niemals, auch nur bei einem einzigen dieser Soldaten, irgendein Zeichen einer menschlichen Regung, auch nur den leisesten Schatten eines normalen Gefühls, die geringste Spur von Schamgefühl oder Verlegenheit über einen Zwang beobachten können. (…) Nichts! Ihre Gesichter spiegelten nichts Menschenähnliches wider“, konstatiert sie am 8.9.1944 (S. 21).

Das Leben war die Hölle. Immer wieder sah Hanna die Kolonnen der Neuankömmlinge über die Lagerstraßen kommen, viele Tausend. Dass ihr Tod das Ziel der Verschleppung war wusste Hanna. Und sie erlebte an sich selbst und an ihren Mithäftlingen voller Schrecken und Scham die eigene Verwahrlosung, den eigene  Zerfall: „Wir sind verroht. Ein jeder hat sich sein eigenes Elend vergraben“ notiert sie am 20.10.1944.

Und doch erlebte sie, die sich als Sozialistin verstand, Gefühle von Solidarität. In ihrer Frauenbaracke zeigten insbesondere Mütter die Entschlossenheit, sich gegen Ungerechtigkeiten innerhalb des Lagers, gegen ungerechte Verteilung von Lebensmitteln, gegen Privilegien innerhalb der Häftlingshierarchie zu wehren. Nun fühlte sie die Kraft, sich „dennoch“ gegen die „Verschlagenheit und Bösartigkeit“ der Feinde, der Deutschen, der Häftlingswärter zu wehren. Nun fühlte sie plötzlich „in mir eine außerordentliche Kraft, überraschende Sicherheit und Entschlossenheit“ (S. 30f.). Selbst im Lager war Widerstand jederzeit möglich, innerer und dann auch konkret äußerlicher Widerstand. Sie erkannte, dass Widerstand in dieser objektiv ausweglosen Lage von der Fähigkeit zur Selbstwahrnehmung, der Reflektion, von der eigenen Vorsicht und Geduld abhängig war. Nur so konnte dieser gelingen. Jede Nachricht über militärische Niederlagen der Deutschen, die sie auch in Bergen-Belsen erreichten und die sie in ihrem Tagebuch erwähnt, stärkte ihre Entschlossenheit, den Überlebenskampf nicht aufzugeben.

„Nach den hier umlaufenden Gerüchten soll das Lager Auschwitz schon ganz oder fast ganz liquidiert sein“

Ab Ende 1944 verschlimmerte sich die Lebenssituation in Bergen-Belsen noch einmal auf dramatische Weise. Immer neue, große Gruppen von KZ-Häftlingen wurden von anderen Konzentrationslagern nach Bergen-Belsen transportiert, die Vernichtung aller Juden war nun die wichtigste Vernichtungsstrategie der Deutschen. Die Gerüchte hierüber, und über das Weltgeschehen, erreichen auch die Häftlinge in Bergen-Belsen. Dass ihre eigene Vernichtung kurz bevor stand war Hanna bewusst. Am 6.11.1944 schreibt sie: „Es sind 1700 Frauen verschiedener Nationalitäten, die meisten jüdischer Abstammung. Man hat sie aus Auschwitz hierhergebracht. Nach den hier umlaufenden Gerüchten soll das Lager Auschwitz schon ganz oder fast ganz liquidiert sein. Die soeben angekommenen Frauen gehören zu den wenigen Überlebenden.“ (S. 35f.) Der Gesundheitszustand der neuen Häftlinge und die Lebensumstände im Lager werden immer verheerender. Hanna hat die Kraft zur literarischen Beschreibung des Grauens, der Vernichtung, noch nicht verloren: „Sie sehen schrecklich aus, krank, grau, von schwärenden Wunden bedeckt“, notiert sie (S. 36).

Über Seiten beschreibt sie ihren eigenen und den gemeinsamen Todeskampf, in immer neuer, eindrücklicher Weise: „Wir sind nicht tot, aber wir sind Tote. Man hat es fertigbekommen, in uns nicht nur das Recht auf das gegenwärtige Leben abzutöten … bei vielen von uns sicher auch das auf das künftige Leben.“ (S. 37)

Die Lebensalltag, die umfassenden Entwertungen durch die Deutschen, werden immer furchtbarer: „Gestern dauerte der Appell den ganzen Tag, bis spät in die Nacht. (…) Jetzt ist unser Essen schon mehr als einen Monat lang auf eine Schale Suppe am Tag vermindert. (…) Das sichere Ende rückt näher. Aber die deutschen Soldaten und Offiziere haben sich nicht verändert. Dieselbe Arroganz, dieselbe Brutalität, dieselbe Grausamkeit“, notiert sie am 22.11.1944 (S. 40).

Am 2. Dezember 1944 wird der alte Lagerleiter von Bergen-Belsen, Adolf Haas, abgesetzt, der gefürchtete Josef Kramer[ii], „früher Kommandant des berüchtigten Lagers Auschwitz“ (S. 43), wird sein Nachfolger. Einen Teil seines Personals hatte Kramer von Auschwitz mitgenommen. Dieser schaffte u.a. die sog. Jüdische „Häftlingsselbstverwaltung“ im „Sternlager“ ab. Jeden Tag wird die Situation schlimmer, man möchte aus dem Tagebuch gar nicht mehr zitieren, so bestialisch ist die Lebensrealität nun: „Das neue Regime lastet auf uns wie ein Alp. Die „Kapos“ sind wie Tiere, unnatürlich, berauscht, verrückt, blutdurstig. Keine Nachrichten, nichts, was uns das Leben wiedergeben könnte. Tödliches Schweigen. Unter dem schrecklichen Terror sind alle verstummt. Und man sieht kein Ende“, schreibt Hanna im Januar 1945 (S. 45). Es gäbe keine Worte mehr, um das zu beschreiben, was sie durchgemacht haben, berichten ihr Frauen des Transportes von Auschwitz, mit denen sie sprechen konnte. Von 70.000 griechischen Juden seien nur noch 300 Frauen am Leben. Hunger werde als methodische Form der Vernichtung der Juden eingesetzt. Kramer verfolge das gleiche Ziel wie das „schnelle, zynische Vorgehen, Massenmord durch Gas“ (S. 46).

„Der Tod hat sich endgültig unter uns niedergelassen. Er ist unser treuester Mitbewohner“

Seit Kramers Amtsantritt in Bergen-Belsen wird die Lage für die Häftlinge immer auswegloser. Die Deutschen möchten die Juden und weiteren Häftlinge nun möglichst rasch vollständig vernichten. Im Januar 1945 schreibt Hanna: „Das Lager ist von Läusen und jeder Art von Ungeziefer vollständig verseucht, und die Ruhr nimmt unerhörte Ausmaße an.“ (S. 47) Nur noch mit großer Mühe gelinge es den geschwächten Häftlingen, sich überhaupt zu bewegen. „Niemand ist imstande, normal aufrecht zu gehen. Alle Leute wanken, schleppen die Beine nach. Ganze Familien sterben in wenigen Tagen.“ (S. 47) Wenige Tage später, gleichfalls im Januar 1945, notiert sie resignierend – und vermag doch ihre Rolle als  Chronistin  der Vernichtung weiter aufrecht zu erhalten: „Der Tod hat sich endgültig unter uns niedergelassen. Er ist unser treuester Mitbewohner, immer und überall gegenwärtig. Infolge der infamen Behandlung sterben die Leute in Massen, an Hunger, Demütigungen, Dysenterie, Ungeziefer. Sie fallen, sie brechen zusammen, ihre Zahl vermindert sich rapide. Viele meiner Bekannten haben so bereits ihr Leben beendet.“ (S. 48)

Der Wahnsinn gewinnt bei vielen Häftlingen nun die Macht, der Anblick der toten Freunde zerstöre jeden Versuch, den inneren Kampf gegen die Vernichtung nicht aufzugeben. Hanna beschreibt diesen Prozess, was beim Lesen erschüttert, auch bei sich selbst. Und doch vermag sie beim Schreiben weiterhin ihre Beobachterposition beizubehalten.

Im Februar 1945 verfasst Hanna weitere acht dichte Seiten über die Zerfallsprozesse im Konzentrationslager, schreibt über die Ermordeten. Und immer wieder: „Ja, der Hunger, der Hunger… Gibt es auf der Welt etwas Schrecklicheres, Demütigenderes für den Menschen? Ich werde gehetzt von diesen Gesichtern gequälter Tiere, die sich verzweifelt um irgendwelche Kessel mit lauwarmem, stinkendem, säuerlichem Wasser drängen, das als unsere Suppe bezeichnet wird.“ (S. 53)

„Und die Judenfrage? Unser jüdisches Land?“

Selbst in diesen ausweglosen letzten Monaten, als sich die Gerüchte über den Sieg der Alliierten und die Angst vor der gezielten Vernichtung der letzten noch lebenden KZ-Häftlinge miteinander vermischen, sinnt Hanna weiter über ihre eigene jüdische Identität nach – was beim Lesen sehr an die Gefängnisaufzeichnungen der jüdischen Widerständlerin und Psychoanalytikerin Edith Jacobson erinnert. Diese bemerkenswerten autobiografischen Aufzeichnungen wurden von der Sozialwissenschaftlerin und Publizistin Judith Kessler 2014 im Nachlass ihrer Mutter wiederentdeckt und publiziert (Kessler 2015; Kessler & Kaufhold 2015): Einerseits hofft die Sozialistin Hanna auf einen Sieg der UdSSR, auf eine sozialistische Zukunft. Andererseits fängt sie an, so schreibt sie im Februar 1945 in ihr Tagebuch, „am Menschen zu verzweifeln.“ (S. 54) Die Perspektive eines jüdischen Lebens in Palästina drängt sich ihr als Alternative auf: „Und die Judenfrage? Wo und wie wird diese ganze höllische Komödie enden? Unser jüdisches Land? Wo und warum? Wie? In welcher Form?“ (S. 54)

Im März beschreibt Hanna die weiter zunehmende Verzweiflung in Bergen-Belsen, bei sich und bei ihren Mithäftlingen; sie schreibt über die Wunden am ganzen Körper, die nicht mehr heilen. Den Verrohungsprozess bei sich und bei den Mithäftlingen, den „bestialischen Kampf“ (S. 55), den sie mit innerer Erschütterung wahrnimmt.

Hanna erkrankt immer schwerer, wird von typhusartigem Fieber befallen, hat 15 Tage lang Fieber: „Ich habe phantasiert. Ich fühle nur, daß ich dem Tod nah war, ganz nah“, vertraut sie ihrem Tagebuch an (S. 56).

Sie vermag ihren kollektiven Sterbeprozess präzise und in erschütternder Deutlichkeit zu beschreiben: „Ich starb langsam, bewußt. Der Organismus fühlte absolut nichts und schien langsam seine Funktion einzustellen. Nur der Gedanke an den Tod lebte noch in mir, hartnäckig. Auch um mich herum lagen alle im Sterben – und auch jetzt noch sterben sie der Reihe nach. (…) Rechts von mir sind zwei Alte gestorben. F. und K. Im halbwachen Zustand habe ich eine ganze Nacht lang die Agonie des einen von ihnen verfolgt, und in der folgenden Nacht hörte ich deutlich das Röcheln des anderen. Es ist ganz einfach, die Atemzüge hören auf, einmal bei dem, dann bei jenem. Keiner ist imstande, einem anderen zu helfen, die Leichen bleiben auf den Betten liegen, neben den Lebenden oder Halbtoten. Lebende und Tote, alles vermischt. (…) Angesichts des Todes und der Toten totale Indifferenz, es ist eine gewöhnliche Sache geworden. Man denkt nicht mehr an die Befreiung, niemand zählt mehr die Tage wie früher.“ (S. 57)

Die Deutschen zeigen sich nun nicht mehr, fliehen. Die brutale Gewalt der Kapos hält hingegen an. Im April 1945 berichtet sie von Gerüchten über Kannibalismus in einem benachbarten Block. „Es ist abscheulich, was man aus den Menschen gemacht“ habe. Das Deutschland des 20. Jahrhunderts sei „auf immer mit dem Mal der Schande gekennzeichnet“ (S. 59) schreibt sie am Ende ihres Tagebuches. Das KZ-Lager sei „in bewußter Absicht und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit“ geschaffen worden, um planmässig „Tausende menschlicher Wesen“ auszurotten. Wenn das auch nur einen einzigen Monat länger anhalte sei es ungewiss, ob auch nur ein einziger Häftling überlebe, schließt sie ihr Tagebuch.

Exkurs: Die Arbeit mit Kindern im Lager

Hanna, die frühere Lehrerin, machte in Bergen-Belsen etwas, was als unvorstellbar erscheinen könnte: Sie arbeitete dort, selbst täglich von der Vernichtung bedroht und um die eigene seelische Integrität kämpfend, pädagogisch mit Kindern. Die deutschen Konzentrationslager hatten, neben der ökonomischen Ausbeutung und der seelischen Demütigung der Juden, der Häftlinge, nur ein Ziel: Die vollständige Vernichtung aller Juden. Für die in die deutschen Vernichtungsstätten verschleppten Kinder war das gleiche Schicksal eingeplant: Sie sollten ermordet werden. Unterricht war da nicht vorgesehen – dieser war sogar ausdrücklich untersagt. Selbstredend gab es auch keine Unterrichtsmaterialien in Bergen-Belsen.

Hanna beschreibt die Ausgangssituation ihres unvorstellbar anmutenden pädagogischen Engagements so: „Ich habe die Aufgabe übernommen, mich um die Kinder zu kümmern. In unserer Baracke sind 110 Kinder verschiedenen Alters, von dreijährigen Kleinkindern bis zu 14- oder 15-jährigen Jungen und Mädchen. Ohne irgendein Buch zu arbeiten, ist nicht leicht. Ich bin gezwungen, mit der Hand kleine Fetzen Papier, Dutzende und Aberdutzende, mit verschiedenen Themen zu beschreiben, für die ganz Kleinen, die kaum lesen und schreiben können, und für die am weitesten Fortgeschrittenen. Papier und Bleistift verschaffen sich die Kinder, wie und wo sie können, sie verkaufen ihre Brotration oder machen andere Transaktionen, oder sie stehlen sie einfach voneinander.“ (S. 11f)

Es gab keine Bücher in Bergen-Belsen, dementsprechend dominierte der mündliche Unterricht. Dieser wurde immer wieder „unterbrochen“, durch allgegenwärtige Szenen der existentiellen Bedrohung: Durch die täglichen, stundenlangen „Appelle“, durch einen Luftalarm, durch Jagd auf Häftlinge oder durch Streit bei der Essensausgabe.

Die erfahrene Pädagogin Hanna beschreibt einfühlsam die Veränderungen bei den Kindern, die ganz abrupt von der „Normalität“ in die terroristische Wirklichkeit der deutschen Vernichtungslager hineingeworfen wurden: „Die Kinder sind wild, enthemmt, ausgehungert. Sie fühlen, daß ihr Leben eine außerordentliche und anormale Wendung genommen hat, und sie reagieren darauf instinktiv und brutal“, notiert sie in ihrem KZ-Tagebuch (S. 12). Die allgegenwärtige Atmosphäre der Angst und des Misstrauens beförderte, verstärkte die „schlechten Gewohnheiten“ der Kinder. Eine kleine Minderheit der Kinder zeige „ein gewisses Interesse für das Lernen, die anderen bleiben gleichgültig.“ (S. 12) Die Kinder wussten, dass die Deutschen Unterricht im Lager verboten hatten und dass man „nur im Geheimen ernsthaft lernen“ könne. Sie blieben einige ungestraft dem Unterricht fern.

Die erwachsenen Häftlinge, täglich existentiell bedroht, wurden noch reizbarer, fühlten sich durch die Kinder und deren Lernen gestört, wendeten schärfste Moralvorstellungen gegen die Kinder an, wie „exemplarische Strafen, Brotentzug oder Prügel. Nur um ihrer Ruhe willen!“ (S. 12)

Bei einigen Kindern gab es aber auch eine überraschend positive Entwicklung: Sie entwickelten in ihrer Seele Gegenkräfte gegen das Zerstörerische, kämpften um ihre Würde und um ihre Lernfähigkeit: „Jawohl, die Kinder haben eine solche Energie, daß man manchmal aus ihnen mehr herausholen kann, als man ihnen zutraut.“ (S. 13) Hannah reflektiert über die Möglichkeiten einer Pädagogik in Bergen-Belsen; plötzlich wird sie von Pessimismus und Verzweiflung überrollt: „Zum Teufel, ich bekomme hier den Lagerkoller, und dadurch sehe ich alles so schwarz…“ schließt sie ihre Notiz vom 28.8.1944 (S. 13).  

Sie dokumentiert die seelische Entwicklung der Kinder in Bergen-Belsen, deren Ängste: „Oder die Kinder, die keine Freude kennen. Angst, nichts als Angst. Diese armen, kleinen, gedemütigten Wesen, die stundenlang geradestehen müssen, Angst im ganzen Körper und den Blick in starrer Erwartung der Dinge, die da kommen sollen. Sie verbergen den Kopf unter irgendeinem Lappen, schmiegen sich an die Großen, um gegen Kälte und Schrecken Schutz zu suchen. Nur ihre Augen bleiben weit offen, in ängstlicher Spannung, wie bei einem gehetzten Tier.“ (S. 15)

Am 23.10.1944 schreibt sie noch einmal über die Kinder in Bergen-Belsen. Sie befasse sich weiter regelmäßig mit den Kindern, fühle „deutlich, daß unsere „Schule“ für sie bereits eine unerlässliche Angelegenheit geworden“ sei und eine Chance, ja das einzige Mittel sei, um „die Frische ihres Seelenlebens zu wecken und zu erhalten.“ (S. 34) Die überwiegende Mehrheit der Kinder zeige großen Lerneifer. Ihren regelmäßigen Aufruf, zum Lernen zusammen zu kommen, „nehmen sie mit „Hurra“ und freudigen Rufen auf.“ Dann kämpften sie um ihren Lernplatz, sie erlebe „wunderbare Kindergesichter“ (S. 34), die mit Freude und Konzentration läsen. Sie stellte ihnen Gedichte vor, ließ diese auswendig lernen. Die Kinder machten gerne mit, es war eine innere Ablenkung von der grausamen Lagerrealität.

Vier Wochen später notiert Hanna, mit großer innerer Anteilnahme und detailreich, dass die Arbeit mit den Kindern „trotz allem“ weiter gehe. Man habe beschlossen, nun an jedem Samstag im ganzen Lager Kinderfeste durchzuführen, mit überwiegend religiösem Charakter. Rezitationen, rasch zusammengestellte Gedichte, Solo- und Chorgesänge und kleine Theateraufführungen wurden eingeprobt und aufgeführt. Sie selbst mache diese ganze Arbeit „instinktiv, aus einem unwiderstehlichen Bedürfnis der Seele heraus“ (S. 39),  notiert sie selbstbeobachtend. Und sie fühle deutlich, dass diese pädagogische Praxis den Bedürfnissen der Kinder entspreche. Die Kinder folgten ihr, bemerkt die engagierte Lehrerin, sie seien erregt, „sie möchten leben, sie möchten spielen, das ist stärker als sie selber. Oh, es ist so ergreifend“ schließt sie ihre Tagebuchnotiz vom 18.11.1944.

Danach – „Nichts als Leichen, Leichen, Leichen“

Am 15.4.1945 befreien britische Truppen Buchenwald. Die 15-jährige Anne Frank, die am 28.10.1944 zusammen mit 1308 weiteren Frauen mit einem Viehwaggon von Auschwitz-Birkenau nach Bergen-Belsen verschleppt worden war, war da bereits seit zwei Monaten tot, ihr Tagebuch überlebte auf wundersame Weise, wie auch weitere Tagebücher von Häftlingen aus Bergen-Belsen.

Auch Anita und Renate Lasker-Wallfisch gehörten zu den Überlebenden von Bergen-Belsen (Kaufhold 2021). Die 1934 in Žilina, Tschechoslowakei, geborene Mikrobiologin und Zeitzeugin Yvonne Koch lag bei der Befreiung von Bergen-Belsen im Koma, dem Tode näher als dem Leben – und überlebte dank der fürsorglichen Pflege ihrer britischen Befreier. Mit 70 Jahren war Yvonne Koch erstmals in der Lage, über ihre furchtbaren Erlebnisse zu sprechen. 2020 trat sie im Düsseldorfer Landtag als Zeitzeugin auf (Kaufhold 2020b).

Rund 120.000 Menschen waren Häftlinge in Bergen-Belsen, 52.000 von ihnen starben. Der BBC-Journalist Richard Dimbleby begleitete am 17. April britische Soldaten in Bergen-Belsen. Der Tag in Bergen-Belsen sei „der schrecklichste in meinem Leben gewesen“ sagte der routinierte Kriegsreporter im BBC danach. Die Reportage konnte erst mit 24 Stunden Verspätung ausgestrahlt werden, die BBC-Leitung wollte die erschütternden Darstellungen einfach nicht glauben. „Nichts als Leichen, Leichen, Leichen“ schreib er (NDR, April 2021). 

Vergleichbares hatte auch Bruno Bettelheim nach seiner glücklichen Freilassung aus Buchenwald im April 1939 erlebt, nach elfmonatiger KZ-Haft in Dachau und Buchenwald (wo er gemeinsam mit Ernst Federn inhaftiert war (Kaufhold 2001)) und seiner anschließenden Emigration in die USA. Als er zwei Jahre später seinen bewusst wissenschaftlich-distanziert gehaltenen Bericht über die Anpassungsprozesse im Konzentrationslager – Individual and Mass Behavior in Extreme Situations – verfasste vermochte die amerikanische Öffentlichkeit und Fachpresse selbst diese nüchternen wissenschaftlichen Beschreibungen nicht zu glauben. Zu solch einer gezielten Grausamkeit, solchem Sadismus, sollten die kultivierten Deutschen fähig sein, fragte man sich in den USA? Bettelheims aufrührende erste wissenschaftliche Studie über die deutschen Vernichtungslager erschien erst knapp zwei Jahre später, 1943, in einem Fachmagazin, dem Journal of Abnormal and Social Psychology.

Ein Epilog: Wie es zur deutschen Buchausgabe (1979) kam:

Als Eike Geisel 1997 im Alter von nur 52 Jahren verstarb verfasste sein Freund und Wegbegleiter Wolfgang Pohrt (vgl. Kaufhold 2022) einen Nachruf auf seinen Freund Eike. Am stärksten in Erinnerung war ihm ihre gemeinsame Reise nach Israel im Jahr 1978. Dort besuchten sie die 64-jährige Überlebende Hanna  Lévy-Hass. Pohrt erinnert sich in dieser Weise: „Eike hatte irgendwann damit angefangen, Israel zu besuchen, woanders kam ein mittelloser Abiturient aus Deutschland, der weit weg wollte, schlecht hin. Er hatte dort Freunde gefunden, Verbindungen geknüpft und Hebräisch gelernt. Gemeinsam besuchten wir in Tel Aviv Hanna Levy-Hass. Unsere Gastgeberin war weit herumgekommen. Die Deutschen (…) hatten sie von Montenegro nach Bergen-Belsen deportiert. Hanna Levy-Hass hatte das Lager überlebt und einen Bericht darüber geschrieben. Nun sprach sie darüber, vielleicht zwei Stunden lang, auf Deutsch, Französisch, Serbokroatisch und Hebräisch. Wir saßen da und hörten zu wie gebannt.“ (In „Konkret“ 9/1997)

Pohrt freundete sich mit Hanna an, war eine Zeitlang ihr Lebensgefährte. Er genoss Israel, den Schmelztiegel der Überlebenden, der eingewanderten Juden. Er plante jedoch nie, selbst nach Israel zu übersiedeln. Seine Gespräche mit Hanna riefen jedoch sein Interesse an jüdischen Themen hervor, die sich in mehreren Büchern niederschlugen (Geisel & Kunert 1981, Geisel 1991, Broder & Geisel 1992) Bei ihren regelmäßigen Europareisen, die Hanna auch wegen ihrer zunehmenden Krankheiten unternahm, traf er sie immer wieder.

Titos Partisanen und die Tochter Amira Hass

Für die im ehemaligen Jugoslawien geborene Hanna war die Orientierung an kommunistischen Traditionen biografisch eine Selbstverständlichkeit: In Jugoslawien waren Titos Partisanen die Widerstandsorganisation gegen die Deutschen. Jeder Linke in Jugoslawien, betont Hanna im Gespräch mit Eike Geisel, der sich antifaschistisch gegen die deutschen Besatzer wehren wollte, sei zu Titos Partisanen gegangen. Hieran zu erinnern ist ihr wichtig, um auch heute noch die Geschichte Jugoslawiens ab Ende der 1930er Jahre zu verstehen: „Damals war ich in der Partisanenbewegung gegen die italienischen Faschisten aktiv – wie alle. Jeder war das. Das jugoslawische Volk (…) war in einem solchen Ausmaß am Widerstand beteiligt, daß man sagen kann: das ganze jugoslawische Volk war Partisan. Das war so natürlich und spontan, besonders in Montenegro. In Kroatien gab es ein gewisses Einverständnis mit den Deutschen, aber es gab auch Widerstand. In Serbien, Bosnien und Montenegro jedoch war alles klar gegen die Deutschen. Das bedeutet: man hat den Deutschen nur die Städte gelassen, aber auch die waren für sie nicht sicher, denn die Straßen und Wege zwischen den Städten waren unsicher. So konnten sich die Deutschen nur mit viel Kraft und viel Waffen zwischen den Städten bewegen.“ (S. 66) Heute klinge das vielleicht „ein wenig unglaubwürdig“ aber damals seien alle ihre Freunde in Jugoslawien davon überzeugt gewesen, dass die Bevölkerung in Jugoslawien niemals kapitulieren und dass der Kampf gegen die Deutschen in ganz Europa weitergehen werde. „Ich erzähle keine Märchen, wir waren uns der Entwicklung völlig bewusst“ (S. 66), fügt sie gegenüber Eike Geisel hinzu.

Selbst aus der „neutralen“ (also letztlich Appeasement gegenüber dem deutschen Aggressor praktizierenden) – Schweiz ging eine linke, siebenköpfige Ärztemission um den späteren Schweizer Psychoanalytiker Paul Parin, gegen den ausdrücklichen Willen ihrer Regierung, 1944 nach Jugoslawien zu Titos Partisanen, um den antifaschistischen Kampf gegen Hitler zu unterstützen (vgl. Kaufhold 2016; Kaufhold 2022 sowie Kaufhold 2016a, 2016b)

In seinem 1991 erschienenem Erinnerungsbuch an seine Zeit bei Titos Partisanen, betitelt mit Es ist Krieg und wir gehen hin hat Paul Parin, in großer Übereinstimmung mit Hanna Lévy-Hass, seine Erinnerungen an Titos Partisanenarmee literarisch niedergelegt, zwölf Jahre nach dem Erscheinen von Hannas Tagebuch. Das Buch fand seinerzeit eine erstaunliche Resonanz: „Wir waren diszipliniert, wenn wir selber es für richtig hielten; jeder Befehl verletzte unsere Würde. Wir fühlten uns als Weltbürger, solidarisch mit allen, die unterdrückt und ausgebeutet werden. Deshalb war für uns jede Heimat zu eng und die Verpflichtung auf eine Linie eine Fessel“ notierte Paul Parin im zeitlichen Abstand eines halben Jahrhunderts.

Und wiederum 18 Jahre später, 2009, wurden Hannas Bergen-Belsen-Erinnerungen von ihrer Tochter, der Haaretz-Journalistin Amira Hass, noch einmal in einer erweiterten Neuauflage unter dem Titel Tagebuch aus Bergen Belsen 1944-1945. Mit einer Einleitung und einem Nachwort von Amira Hass neu aufgelegt. In dieser Buchversion ist ihr Werk bis heute erhältlich. In ihrem Vorwort zur Neuauflage gibt Amira Hass auch eine bemerkenswerte Szene wieder: Ab Mitte der 1970er Jahre pendelte Hanna auch krankheitsbedingt, wie bereits erwähnt, regelmäßig zwischen Israel und Europa. Mitte der 1980er Jahre erwog die inzwischen 75-Jährige konkret eine Rückkehr in ihr Heimatland Jugoslawien. Sie besuchte deshalb auch Belgrad, wo sie 50 Jahre zuvor studiert hatte. Belgrad hatte Hanna als eine moderne Millionenstadt in Erinnerung und schaute sich eine mögliche Mietwohnung an. Ihre mögliche Vermieterin wusste, dass Hanna eine Jüdin war. „Hier, aus diesem Fenster, haben wir beobachtet, wie sie die Juden zusammengetrieben haben“, bemerkte diese scheinbar nebenbei, wie Amira Hass in ihrem Vorwort (S. 10) erinnert, zu Hanna. Diese kleine Szene war ein Schock für Hanna, die Überlebende von Bergen-Belsen. Die 75-Jährige wusste schockhaft, binnen weniger Sekunden, „dass Belgrad kein Ort für sie sei“, fügt Amira Hass hinzu.

13 Jahre später, am 10.6.2001, verstarb Hanna Lévy-Hass, die literarische Chronistin von Bergen-Belsen, in Jerusalem.

Hanna Lévy-Hass (1979): Vielleicht war das alles erst der Anfang. Hanna Lévy-Hass Tagebuch aus dem KZ Bergen-Belsen. Herausgegeben von Eike Geisel. Berlin: Rotbuch Verlag.

 

Literatur     

Bettelheim, B. (1979): Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. München: dtv.

Federn, E. (1998/2014): Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Gießen: Psychosozial-Verlag.

Feuerherdt, A. (2007): In memoriam Eike Geisel https://lizaswelt.net/2007/08/06/in-memoriam-eike-geisel/

Fiedler, L. (2017): Matzpen; Eine andere israelische Geschichte, Vandenhoeck & Ruprecht, S.  369.

Geisel, E & G. Kunert (1981): Im Scheunenviertel. Bilder, Texte und Dokumente. Siedler.

Geisel et. al. (Mithrsg.) (1975): Das Ende Israels? Nahostkonflikt und Geschichte des Zionismus. Einl. Eike Geisel und Mario Offenberg. Reihe Politik, Bd. 61. Berlin: Wagenbach.

Geisel, E. & H. M. Broder (1992): Premiere und Pogrom. Der Jüdische Kulturbund 1933–1941. Berlin: Siedler Verlag.

Geisel, E. (2015): Die Wiedergutwerdung der Deutschen: Essays und Polemiken. Berlin: Edition Tiamat.

Geisel, E. & K. Bittermann (Hg.) (1989): Hannah Arendt. Essays und Kommentare 2. Die Krise des Zionismus. Berlin: Edition Tiamat.

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Gießen: Psychosozial-Verlag. https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/products_id/1069

Kaufhold, R. (2008): Autobiografischer Rückblick: Israelische Grenzgänger: Michael „Mikado“ Warschawski. Hagalil, 17.1.2008:  http://buecher.hagalil.com/sonstiges/warschawski-1.htm

Kaufhold, R. (2012): Der Psychoanalytiker Sammy Speier (2.5.1944 – 19.6.2003): Ein Leben mit dem Verlust. Oder: „Kehrt erst einmal vor der eigenen Tür!“. In: Kaufhold, R. & B. Nitzschke (Hg., 2012): Jüdische Identitäten nach dem Holocaust in Deutschland. Schwerpunktband der Zeitschrift Psychoanalyse – Texte zur Sozialforschung Heft 1/2012, S. 96-112. Internet: https://www.hagalil.com/2016/05/sammy-speier/

Kaufhold, R. (Hg.) (2014): Vorwort zur Neuauflage. In: Ernst Federn: Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors, Herausgeber: Roland Kaufhold. Gießen: Psychosozial-Verlag, S. 7-22.

Kessler, J. (2015): Das schwarze Heft. Wie ich ein Vierteljahrhundert auf Edith Jacobsons Gefängnisnotizen saß. In: Kessler J. & Kaufhold, R. (Hg., 2015), S. 11-44.

Kessler, J. & R. Kaufhold (Hg.) (2015): Edith Jacobson: Gefängnisaufzeichnungen. Gießen: Psychosozial-Verlag https://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/products_id/2513

Kaufhold, R. (2016a): “Für einen Juden ist „nach Auschwitz“ nichts mehr so, wie es früher war.“ Zum 100. Geburtstag der Psychoanalytikers, Schriftstellers und Abenteurers Paul Parin. In: Psychoanalyse im Widerspruch, 28. Jg., Heft 56/2016, S. 69-93.

Kaufhold, R. (2016b): „Wenn mir die Ereignisse auf den Leib rücken, kann ich keine Geschichten mehr erzählen.“ Paul Parin – Biografische Facetten aus dem Leben eines Abenteurers“. In: Reichmayr, J. (Hg., 2016): Ethnopsychoanalyse revisited. Gießen: Psychosozial Verlag, S. 450-470.

Kaufhold, R. (2017): Von Korfu nach Auschwitz. Die Historikerin Diana Siebert beschreibt in einer Studie die Geschichte der Schoa auf der Insel, Jüdische Allgemeine, 19.4.2017: https://www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/von-korfu-nach-auschwitz/

Kaufhold, R. (2020a): »Der letzte Trost dahin«. Mitglieder der »Sonderkommandos« von Auschwitz haben erschütternde Dokumente hinterlassen, Jüdische Allgemeine, 25.6.2020:  https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/der-letzte-trost-dahin/

Kaufhold, R. (2020b): Mit einem Aufruf an die Jugend. Die Schoah-Überlebende Yvonne Koch spricht im Landtag über Bergen-Belsen, Jüdische Allgemeine, 12.3.2020: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/mit-einem-aufruf-an-die-jugend/

Kaufhold, R. (2021): Rezension von: Maya Lasker-Wallfisch mit Taylor Downing (2020). Briefe nach Breslau. Überleben, Sprachlosigkeit und transgenerationales Erbe, psychosozial, 44. Jg., Nr. 166, Heft IV/2021, S. 110ff

Kaufhold, R. (2022): Der rastlose Unruhestifter. Klaus Bittermanns kongeniale Biografie von Wolfgang Pohrt, haGalil, 11.7.2022: https://www.hagalil.com/2022/07/pohrt-2/

Lévy-Hass, H. (2009): Tagebuch aus Bergen Belsen 1944-1945. Mit einer Einleitung und einem Nachwort von Amira Hass. Herausgegeben von Amira Hass. Berlin: Beck Verlag.

Anmerkungen:

[i] Ich werde nachfolgend Hanna Lévy-Hass, zur Vereinfachung des Leseflusses, nur noch als Hanna bezeichnen.
[ii] Der NS-Täter Josef Kramer (10.11.1906 – 13.12.1945) war ein deutscher SS-Führer und von 1942 bis 1945 Lagerkommandant der KZs Natzweiler-Struthof, Auschwitz-Birkenau und Bergen-Belsen. Unter seiner Herrschaft verschlimmerten sich die Lebensbedingungen in Bergen-Belsen noch einmal dramatisch. Als die 11. Panzerdivision der Briten am 15.4.1945 Bergen-Belsen besetzten versuchte Kramer, den britischen Armeeangehörigen den Zutritt zum Lager zu verwehren. Die Briten nahmen Kramer zwei Tage später fest und führten ihn mit Fesseln durch das Lager Bergen-Belsen. Kramer wurde im Bergen-Belsen-Prozess am 17.11.1945 zum Tode am Strang verurteilt und ab 13.12.1945 hingerichtet. Im Bergen-Belsen-Prozess beschrieb er sich als treuen Befehlsempfänger, der bei der Lagerübergabe Bergen-Belsens an die Engländer nicht „feige“ geflohen sei, sondern „aus Sorge vor den ihm anvertrauten Gefangenen“ gewissenhaft vor Ort geblieben sei. Er sei vollkommen unschuldig und kein Kriegsverbrecher. (Karin Orth (2004): Die Konzentrationslager-SS, München, S. 280f., siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Josef_Kramer#Lagerkommandant_im_KZ_Natzweiler-Struthof. Siehe auch: Josef Kramer: Er hat nichts gefühlt, Der Spiegel (24.4.2015, Nr. 18/2015) https://www.spiegel.de/politik/er-hat-nichts-gefuehlt-a-d18e4d86-0002-0001-0000-000134660870?context=issue