Jugendbewegter Antisemitismus

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Gruppe des Wandervogels aus Berlin, 1930, Bundesarchiv, Bild 183-R24553 / CC-BY-SA 3.0

Christian Niemeyer gebührt das Verdienst, penibel nachgewiesen zu haben, dass die (deutsche) Jugendbewegung mit all ihren Widersprüchen auch in die Geschichte des – nicht nur deutschen – Antisemitismus gehört: Ein Umstand, der noch immer nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat.

Von Micha Brumlik
Vorwort zur Neuausgabe von Christian Niemeyers Studie „Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend“ (2022)

2018 erschien ein von Eckart Conze und Susanne Rappe-Weber herausgegebener Sammelband zur deutschen Jugendbewegung mit dem Untertitel „Historisierung und Selbsthistorisierung nach 1945“. Im ersten, von Conze verfassten Kapitel findet sich unter FN 5 ein Hinweis auf die von dem Bildungshistoriker und Nietzscheforscher Christian Niemeyer verfassten Bücher Mythos Jugendbewegung. Ein Aufklärungsversuch sowie auf das hier, nunmehr in zweiter Auflage erscheinende Buch Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. Mehr noch: In der von Conze verfassten Einleitung wird Niemeyer nicht nur ob seiner „kriminalistischen Geschichtsforschung“, sondern auch ob der kaum noch zu überblickenden, jeweils neuen Beiträge dieses Autors zum Thema gewürdigt. Fußnote 6 des Vorworts mit seinen Verweisen auf Christian Niemeyer umfasst 19 (!) Zeilen. Und das mit Blick auf ein Thema, das sowohl zur Gesellschaftsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert als auch zur Disziplingeschichte der Erziehungswissenschaft gehört.

Es war kein geringerer als der Philosoph Ernst Bloch, der in seinem monumentalen „Prinzip Hoffnung“ u.a. über die deutsche Jugendbewegung schrieb:

„Die Sehnsucht nach einer Gemeinschaft, wie sie unter Erwachsenen nicht vorhanden, hörte schliesslich auf Hitler; denn gab es gegen die Alten keine neuen Inhalte, so gab es doch neue brennend-blasende-verblasene Worte, und es gab gegen die Alten, die noch nicht von Blutdurst glühten, Macht.“

Ein Blutdurst, der sich nicht zuletzt von Anfang an in einem glühenden Judenhass äußerte: spätestens seit der „Wandervogel“ in Zittau im Jahr 1913 ein jüdisches Mädchen wegen angeblich zu großen Interesses an Knaben ausschloss. Damit begann eine Phase jugendbewegten Antisemitismus, die Christian Niemeyer in vielen Aufsätzen, vor allem aber in diesem Buch gründlichst belegt hat – ohne doch die Grundidee der Jugendbewegung auf dem Hohen Meissner, die „Meissnerformel“, rundweg abzulehnen, lautete diese doch:

„Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein.“

Daher: Christian Niemeyer gebührt das Verdienst, penibel nachgewiesen zu haben, dass die (deutsche) Jugendbewegung mit all ihren Widersprüchen auch in die Geschichte des – nicht nur deutschen – Antisemitismus gehört: Ein Umstand, der noch immer nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit gefunden hat. Schlägt man etwa Band 3 des von Wolfgang Benz herausgegebenen, anerkannten und renommierten Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart – Begriffe, Theorien, Ideologien auf, so fehlt dort zwischen den Einträgen „Jüdischer Selbsthass“ und „Kammerknechtschaft“ der Eintrag „Jugendbewegung“; mehr noch: In den eigentlich einschlägigen Stichworten „Völkische Weltanschauung“ sowie „Völkischer Antisemitismus“ fehlt jeder Hinweis zur deutschen Jugendbewegung – allenfalls wird dort die Lebensreformbewegung erwähnt.

Daher ist es höchste Zeit, die Geschichte der deutschen Jugendbewegung aus dem engeren Kontext der historischen Jugendsoziologie sowie der Geschichte der Pädagogik zu lösen und sie in eine deutsche Gesellschaftsgeschichte sowie in eine Geschichte des Antisemitismus einzupassen. Was die deutsche Gesellschaftsgeschichte betrifft, so hat Michael Stürmer dabei schon 1983 einen Anfang gemacht, wenn auch Hans-Ulrich Wehler in Band 4 seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte 1914–1949 diese noch immer zu skizzenhaften Darstellungen sozialstrukturell erweitert hat. Immerhin: In Peter Longerichs 2012 erschienener, monumentaler Studie Antisemitismus. Eine deutsche Geschichte – Von der Aufklärung bis heute werden Wandervogel und Lebensreformbewegung erwähnt, wenn auch kurz.

Doch damit zurück zu Niemeyers bahnbrechender Studie: Tatsächlich bezieht sich der Autor des vorliegenden Buches immer wieder auf den jüdischen Historiker Walter Laqueur (1921–2018), der wie nur wenige selbst vom Phänomen der (deutschen) Jugendbewegung fasziniert und geprägt war, ohne doch in seinen frühen Arbeiten – und diese Paradoxie ist bemerkenswert – seinen eigenen Erfahrungen Rechnung getragen zu haben. Der 1921 in Breslau als Sohn einer jüdischen Familie geborene, 1938 emigrierte, stupend fleißige und kreative Historiker trat erstmals 1962 mit einem Buch über Die deutsche Jugendbewegung. Eine historische Studie hervor, um sich nach einer Fülle von Studien und Forschungen zu Fragen des Nahen Ostens, der Sowjetunion, zur Kultur von Weimar, zum Zionismus und zur Haltung linker Intellektueller im zwanzigsten Jahrhundert, zum Holocaust und zum Terrorismus schließlich noch zweimal, genauer gesagt dreimal mit Fragen der Jugend und der Jugendbewegung zu befassen.

Seine allemal auch das eigene Schicksal berührende Studie Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933 erschien erstmals 2000; auch seine politische Lebensbilanz Mein 20. Jahrhundert, erschienen im Jahre 2009, thematisierte die Jugendbewegung. Laqueurs Interesse für die Jugendbewegung war allemal von persönlichen Erlebnissen und wohl auch Enttäuschungen im nationalsozialistischen Deutschland geprägt:

„Jugendliche“ so Laqueur in seiner politischen Lebensbilanz über die Stadt Breslau am Ende der Weimarer Republik „erkundeten wie zu allen Zeiten die Viertel der Stadt, amüsierten sich auf Geburtstagspartys, spielten Fußball oder sammelten Briefmarken … Meine Freunde waren überwiegend Nichtjuden. Das änderte sich im Jahr 1933, aber es folgte keineswegs ein radikaler Bruch. Meine Freunde traten in die Hitlerjugend oder das Jungvolk ein, die Unterorganisation der Hitlerjugend für Zehn- bis Vierzehnjährige, die wenigsten allerdings aus innerer Überzeugung – ich kannte keinen einzigen Fanatiker.“ „Sie fügten sich“, so erklärt Laqueur diese konformistische Handlungsweise „weil man es von ihnen erwartete. Nur einige Katholiken, die kirchlichen Organisationen angehörten, traten nicht in die NS-Bünde ein“. In seinen Erinnerungen gibt Walter Laqueur zudem einen Abriss seiner eigenen theoretischen Befassung mit der deutschen Jugendbewegung. Sie war seiner Überzeugung nach weitgehend unpolitisch und sei der NS-Bewegung ohne „sonderlichen Enthusiasmus“ beigetreten, habe zwar mit den Nationalsozialisten die Sehnsucht nach starken Führern geteilt, sich allerdings in der Masse nie für Hitler begeistert. Laqueur bezeichnet die Jugendbewegung als eine „relativ kleine Elite, mit kaum mehr als 100000 Mitgliedern in unzähligen Gruppen“, die zwar militaristisch, aber doch kaum nationalistisch gewesen sei, jedenfalls nicht in dem Sinne, dass man sich anderen Nationen überlegen gefühlt habe.

Spätestens hier ist freilich Laqueur zu widersprechen – nämlich mit Hinweis auf Niemeyers Forschungen, der präzise – und das ist im hier vorliegenden Buch nachzulesen – nachgewiesen hat, dass der – jedenfalls weit überwiegende – völkische Teil der Jugendbewegung sehr wohl einem deutschen Überlegenheitsgefühl, einem starken Nationalismus und auch einem entschiedenen Antisemitismus huldigte.

Wer daher an einer tiefgreifenden Geschichte der jugendbewegten Wurzeln des nationalsozialistischen Antisemitismus interessiert ist, wird um die Lektüre von Christian Niemeyers Die dunklen Seiten der Jugendbewegung nicht umhinkommen – dies Buch wird noch auf Jahre hinweg das maßgebende Standardwerk zum Thema bleiben.

Bild oben: Gruppe des Wandervogels aus Berlin, 1930, Bundesarchiv, Bild 183-R24553 / CC-BY-SA 3.0

Autor: Prof. Dr. Micha Brumlik wurde 1947 als Kind deutscher jüdischer Eltern in der Schweiz geboren und lebt seit 1952 in der Bundesrepublik Deutschland. U.a. war er von 2000 bis 2013 Professor für Theorien der Bildung und Erziehung und von 2000 bis 2005 Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt a.M. Er publizierte u.a. zur Geschichte des Judentums und zeitgenössische jüdischer Themen und ist u.a. Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, der „Zeitschrift für Sozialpädagogik“ sowie der Reihe „Bildung nach Auschwitz“ beim Verlag Beltz/Juventa, Weinheim.

Text: Der Abdruck dieses Vorworts aus dem Buch von Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. 2., durchgesehene Auflage München 2022, © 2022 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den UVK Verlag (ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG). Der Text ist unverändert bis auf die Fußnoten mit Literaturhinweisen, die in der Printversion nachgeschlagen werden können.

Hinweis: In vier weiteren, im wöchentlichem Abstand erscheinenden Folgen präsentieren wir das 7. Kapitel dieses Buches.

LESEPROBE – TEIL 1
LESEPROBE – TEIL 2
LESEPROBE – TEIL 3
LESEPROBE – TEIL 4