Vom Wandervogel zur Hitlerjugend – ein falsch gestelltes Thema?

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Vorabdruck aus dem Buch von Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Teil 1

Von Christian Niemeyer

Es ist durchaus auffällig, dass der Zusammenhang zwischen Wandervogel und Hitlerjugend, von Howard Becker, Michael Jovy, Arno Klönne, Harry Pross oder Walter Laqueur vergleichsweise früh thematisiert – wie im Verlauf dieser Arbeit an verschiedenen Stellen gezeigt wurde –, im Mainstream der Jugendbewegungshistoriographie über lange Jahre hinweg als Anathema galt. Möglicherweise war dies Folge eines von Werner Kindt verfassten Flugblatts über das Ergebnis des Pfingsten 1947 abgehaltenen Altenberger Konvents, das der Substanz nach auf nationalsozialistischen Missbrauch des „gläubigen Idealismus der deutschen Jugend“ erkannte. Entsprechend hatte es insbesondere Harry Pross sehr schwer, aber auch Adorno, der einleitend ja bereits kurz erwähnt wurde und dessen Fall nun, in gleichsam einführender Absicht für dieses Kapitel, aufgerufen werden soll.

Theodor W. Adorno (1903-1969), als Jude von den Nazis um seine venia legendi gebracht und schließlich emigrierend, 1949 aber nach Deutschland zurückkehrend und erkennbar mit ersten Ideen für sein Projekt ‚Erziehung nach Auschwitz‘ schwanger gehend, hatte in seinem Buch Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt (1956) faschistische Merkmale der Jugendmusikbewegung untersucht. Bei dieser Gelegenheit war er auf einen Artikel eines der Protagonisten dieser Bewegung, Karl Vötterle (1903-1975), gestoßen, den dieser 1952 in der Zeitschrift Hausmusik veröffentlicht hatte. Vötterle – dass Adorno dies damals wusste, ist eher unwahrscheinlich – war vormals Mitglied von Reiter-SA (1936) und NSDAP (1937) gewesen. In der Kindt-Edition findet sich dazu nichts, ebenso wenig wie in zeitgleich (1974) publizierten Angaben Vötterles für Hinrich Jantzen, die ersatzweise mit der Information „geistiger Widerstand“ aufwarten. Der sich so selbst Porträtierende, sich im gleichen Kontext gegen die Darstellung eines „Amerikaners“ – gemeint ist Walter Laqueur – verwahrend, „die den Wandervogel in gerader Linie als Vorläufer der Hitler-Jugend zeichnete“, hatte sich noch 1952, in dem von Adorno kritisierten Text, etwas anders vernehmen lassen: Es sei gar nicht zu bestreiten, so Vötterle damals, dass es in den Jahren 1933-1945 „weithin gelungen [ist], das Grundanliegen der Jugendbewegung zu erfüllen und ein tätiges, eigenständiges Leben der Jugend zwischen der Kinderzeit und der Zeit des Erwachsenseins zu verwirklichen.“ Vötterle folgerte:

Wie man auch zum totalen Staat Adolf Hitlers stehen, welche Erfahrungen man auch im einzelnen mit ihm gemacht haben mag […]. Das Entscheidende ist, daß es damals gelungen ist, die Jugend zu einem gemeinsamen Tun, zu schöpferischer Gestaltung der Freizeit zu gewinnen.

Adorno war verständlicherweise entsetzt:

Nicht darum geht es, ‚welche Erfahrungen man auch im einzelnen in ihm [dem totalen Staat Hitlers] gemacht haben mag‘ […], sondern um die Erfahrung der Millionen, die der Hitler in Gaskammern ermorden oder auf den Schlachtfeldern zugrunde gehen ließ.

Fordernd setzte er noch hinzu:

Solange die Organe der Jugendmusik Äußerungen solcher Gesinnung unwidersprochen drucken und nicht rücksichtslos dafür sorgen, daß dergleichen Erfasser bei ihnen nichts mehr anzugeben haben, besteht der Verdacht der Boxfreudigkeit zu Recht.

Mit der letzten Bemerkung bezog sich Adorno auf einen anderen von ihm kritisierten Autor, nämlich den der Jugendmusikbewegung zugehörenden Lübecker Musikforscher und Komponisten Jens Rohwer (1914-1994), der ihn in einem anderen Organ – Junge Musik – in vergleichbarer Angelegenheit in verklausulierter Form gefragt hatte, ob er sich mit ihm boxen wolle. Für Vötterle freilich war dieser Hintergrund uninteressant. Ihn empörte Adornos Replik derart, dass er noch Jahre später, 1975, sechs Jahre nach Adornos Tod, im damals noch maßgeblich vom NS-belasteten Veteranen Karl Vogt beeinflussten Jahrbuch des AdJb nachtrug, Adornos großer Einfluss auf die akademische Jugend der 68er Generation belege, dass er „das geistzerstörende Werk des Nationalsozialismus mit seiner Kritik weitergeführt hat.“ Dies war ein durchaus lehrreicher Kommentar auch in Sachen des damaligen, mit ‚unterkühlt‘ noch zurückhaltend umschriebenen Verhältnisses vieler Veteranen der Jugendbewegung zur – Aufklärung über die NS-Zeit einfordernden – Studentenbewegung. Freilich: Der Fall Adorno war damit nicht erledigt. Einige Jahre später (1980) unterbot Walter Greiff das von Vötterle vorgelegte Niveau am nämlichen Publikationsort noch einmal, indem er in Adornos Bestehen auf Eigentumsrechten (im Zusammenhang seiner Veröffentlichungen) „ein beachtenswertes faschistisches Merkmal“ meinte identifizieren zu dürfen. Auch rief er die Adorno-Kritik eines seiner Mit-Veteranen – Johannes Piersing (1907-1998) – in Erinnerung, der Adorno 1977 „linguistische Guerillataktik“ attestiert hatte.

Auffällig dabei: Greiffs Machwerk wurde mit dem – von Winfried Mogge und Karl Vogt abgezeichneten – Herausgebervermerk ‚zum Generalthema gehörend‘ in eine Dokumentation der Archivtagung 1979 zum Thema Jugendbewegung und Nationalsozialismus  aufgenommen. Warum, wird letztlich nicht deutlich – abgesehen davon vielleicht, dass schon die Vorbemerkung zum Einführungsbeitrag erkennen lässt, wie wirkmächtig die Veteranen damals noch waren: moralisch entrüstet, „daß das Thema überhaupt angerührt werden sollte“; und letztlich nicht zurückschreckend vor dem – als Tagungsbeitrag gedachten – „Angebot einer Lesung aus den Gedichten Baldur v. Schirachs.“ Spätestens hier nun freilich  wird die Sache langsam ernst. Denn wie sicher musste man sich damals, 1979, fühlen, um einen solchen Vorschlag riskieren zu können? Fast scheint es, als habe man sich als Jugendbewegungsveteran geborgen und ungefährdet gefühlt infolge von Unvereinbarkeitserklärungen vom Typus Ernst Krieck (1932):

Die nationalsozialistische Jugend, die jüngste Welle der Jugendbewegung, sieht ihre Erben nicht mehr in Wandervogel und Wickersdorf, auch nicht in den Verkündern des Pazifismus, der Völkerverbrüderungsideologie und des westlichen Demokratismus, sondern findet sie an den Gräbern des Weltkrieges und des Kampfes ums Baltikum, Schlesien, Ruhr und Rheinland, bei ihren jungen Helden, die im Kampf um deutschen Lebensraum, werdende Volkheit, völkische Art und rassischen Staat vorbildlich vorangegangen sind und einer neuen Zukunft voranleuchten.

Aus dieser (NS-)Sicht kam in Sachen Jugendbewegung allenfalls die Artamanenbewegung in Betracht, wie 1934 auch der eben als Dichter auf der Jugendbewegungstagung 1979 (scherzhaft?) in Rede stehende, fünf Jahre zuvor verstorbene vormalige ‚Reichsjugendführer‘ Baldur von Schirach annahm, ebenso wie 1935 dessen Gefolgsmann Friedrich W. Hymmen in Schirachs Organ Wille und Macht oder 1939 Luise Fick, gleichfalls mit Seitenblick auf die Artamanen und den durch sie versinnbildlichten Typus des „Arbeitssoldat[en], der aus eigener Verantwortung freiwillig für das Ganze Dienst tut“, sowie mit dem Zusatz:

Sofern und soweit sich die Jugendbewegung zu diesem Bild als ihrem Richtbild bekannte, verließ sie ihre Sonderstellung und faßte Tritt.

Die nationalsozialistische Jugend, so will es diesen mühelos zu vervielfältigenden Zeugnissen zufolge scheinen, stand allenfalls in Kontinuität bezüglich der völkischen Minderheit der Jugendbewegung, speziell: der Artamanenbewegung. Sie verhielt sich aber distanziert und abweisend gegenüber der Freideutschen Jugend, die 1913 das Meißnerfest beging und sich der Meißnerformel verpflichtete, die als pazifistisch und kosmopolitisch gelesen wurde.

Bild: l. Theodor Adorno, (c) Jeremy J. Shapiro / CC BY-SA 3.0, r. Baldur von Schirach (1942)

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer Professor (i.R.) für Sozialpädagogik an der TU Dresden. Letze wichtige Veröffentlichung: Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur. Heidelberg 2022.

Text: Der Abdruck des 7. Kapitels in insgesamt vier Folgen aus meinem Buch Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. 2., durchgesehene Auflage München 2022, © 2022 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den UVK Verlag (ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG). Der Text ist unverändert bis auf die Fußnoten mit Literaturhinweisen, die in der Printversion nachgeschlagen werden können.

–> Vorwort zur Neuausgabe von Micha Brumlik