Vom Wandervogel zur Hitlerjugend – ein falsch gestelltes Thema?

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Vorabdruck aus dem Buch von Christian Niemeyer: Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend, Teil 3

Von Christian Niemeyer

Und wo wir damit schon bei Wiederholungen sind: Vielleicht ist es ja am Ende dieses Buches erlaubt, wenn nicht gar zwingend, auf den Anfang zu schauen, auf den Untertitel dieses Buches beispielsweise, der ja nicht ohne Vorbild ist, auch nicht ohne Varianten, wie der Titel eines Aufsatzes von Jürgen Reulecke aus dem Jahre 1993 zeigt: Hat die Jugendbewegung den Nationalsozialismus vorbereitet? Zum Umgang mit einer falschen Frage – so Reulecke damals, wie man sieht: ohne Fragezeichen am Ende. Warum eigentlich nicht? Mir jedenfalls ist nach gründlicher Lektüre dieses Textes nicht klar geworden, wieso dies eine falsch gestellte Frage sein soll. Und mir ist des Weiteren rätselhaft, wie man – so Barbara Stambolis 2011 – diesem Text Reuleckes das Verdienst zusprechen kann, die These von der Vorläuferschaft der Jugendbewegung für die Hitlerjugend „klar widerlegt“ zu haben. Denn was Reulecke wenn schon nicht widerlegt, so jedenfalls doch behauptet hat, ist etwas ganz anderes, in seinen Worten und ausgehend von den für ihn wichtigen, fürwahr diametral angelegten Fällen Kleo Pleyer und Hans Scholl (1918-1943) andererseits:

Aus dem tatsächlichen Verhalten von Jugendbewegten im und zum Dritten Reich auf einen grundsätzlich ‚präfaschistischen‘ Charakter der Jugendbewegung schließen oder ihn – umgekehrt – klar widerlegen zu wollen, führt […] in die Irre.

Dies ist vollkommen richtig – und wurde eben deswegen in diesem Buch auch erst gar nicht versucht. Was hier hingegen im Vordergrund stand, war der ideologiekritische, von Archivstudien ausgehende Zugang. An diesem Beispiel geredet: Der unlängst sowohl von Christoph Nonn als auch von Arndt Weinrich – von diesem mit dem Stichwort „guter Überblick über die Forschungsliteratur“ – gelobte 1993er Text Reuleckes bietet weniger dies denn einen ‚guten‘, allerdings nur für den Kenner der einschlägigen ungedruckten Quellen zu dechiffrierenden Überblick über die Theoriepolitik des AdJb im Umfeld der Kindt-Edition.

Um diesen Vorwurf nachvollziehen zu können, muss man zurückgehen bis auf Wilhelm Flitners Brief vom 25. August 1974 an Willi Walter Puls, damals Sprecher des Freideutschen Kreises Hamburg. In diesem im Burgarchiv einsehbaren Schreiben, das sowohl Karl Seidelmann als auch Werner Kindt zur Kenntnis gebracht wurde, fixierte Flitner seine theoriepolitischen Leitlinien, inklusive der Frage, wie man sich verhalten solle angesichts des – im Vorhergehenden dargestellten – Lagardeproblems. Dass man es dabei, auch und gerade damals, mit einem Problem zu tun hatte, zeigte für Flitner die Studie Deutsche Reformpädagogik und Faschismus (1973) von Hubertus Kunert. Sie war, unter Aussparung Nietzsches, in die an den Beispielen Lagarde wie Langbehn überzeugend explizierte „These vom bildungstheoretischen Präfaschismus in der kulturkritischen Reformpädagogik“ ausgelaufen – sehr zum Ärger Flitners, wie der hier in Rede stehende Brief belegt, in welchem zu lesen ist:

Zu der These neben Nietzsche seien Lagarde und Langbehn Hauptanreger gewesen, möchte ich einiges anmerken. Der Topos dieser Trias stammt wohl von Richert [gemeint ist der Preußische Ministerialrat Hans Richert; d. Verf.], der ihn in der Begründung für die preußischen Richtlinien von 1924 zuerst hingesetzt hat. Leider hat H. Nohl ihn wiederholt. Aus meiner Erinnerung an Jena 1909-1914 kann ich sagen, dass in unseren Kreisen der Jugendbewegung […] wohl niemand den Rembrandtdeutschen oder gar Lagarde je erwähnt oder gelesen hatte; beider Ideen spielten in jenem Kreis, der doch mit Eugen Diederichs lebte und den Gedanken des Hohen Meißner ausbrütete […], keine Rolle […]. Ich habe zwar von den theologischen Meinungen P. de Lagardes Kenntnis gehabt, aber die ‚Deutschen Schriften‘ und den ‚Rembrandtdeutschen‘ erst als Pflichtlektüre betrachtet, als Richert sie an so wichtiger Stelle erwähnte. Aber beide, wie auch Richert selbst, habe ich doch für närrische Schwärmer gehalten.

Wenige Zeilen später folgt noch: „Wer den Zusammenhang übersieht in dem sie [die Reformpädagogik; d. Verf.] ebenso wie die Jugendbewegung steht, wird auf so abstruse Thesen wie die Kuhnertschen [sic!] nicht kommen können.“ Man könnte hier über Details streiten, etwa darüber, dass Flitner wohl kaum die Vorläuferschaft Nohls im Blick auf den Trias-Topos Richerts unbekannt gewesen sein dürfte. Auch dürfte Flitner in Jena wohl kaum die überragende Bedeutung Lagardes für Eugen Diederichs entgangen sein. So betrachtet entsteht fast der Eindruck, Flitner habe in einem Akt der Notwehr gegen jüngere Jugendbewegungshistoriographen – wie nun eben Kunert – seine auf die Meißnerformel zulaufende Jenaer Erinnerung gleichsam heilig sprechen wollen. Dazu gehörte, die Bedeutung insbesondere Lagardes abzuschwächen und ihn maximal als das wahrnehmbar zu machen, was er der Substanz nach für Flitner war: ein „närrischer Schwärmer“. Und zu diesem Zweck war Flitner offenbar jedes Mittel recht, wie das Postskriptum („Vielleicht würden Seidelmann diese historischen Anmerkungen auch interessieren?“) dieses Briefes ebenso belegt wie die unmissverständliche Botschaft an den Briefempfänger (Puls):

Das Pamphlet von Kunert mag ich gar nicht zur Kenntnis nehmen, weil ich dieses von der englischen Militärregierung und dann von der Remigrantenliteratur endlos variierte Thema der letzten 25 Jahre leid bin. Aber es ist verdienstlich, wenn Seidelmann sich die Mühe macht, es fachgerecht zu widerlegen (in der ZsfPäd oder in ‚Bildung und Erziehung‘ durch Lassahn).

So geschah es denn auch: In Heft 5/1974 der damals von Flitners Sohn Andreas geschäftsführend herausgegebenen Zeitschrift für Pädagogik kritisierte Karl Seidelmann ganz im Sinne Wilhelm Flitners, Kunert habe die Bedeutung Nietzsches abgeschwächt und jene Langbehns und Lagardes bewusst überbetont, um seine These von einem präfaschistischen Irrationalismus der Reformpädagogik (und mithin auch der Jugendbewegung) plausibel zu machen. Liest man nun Reuleckes 1993er Aufsatz im Lichte dieses 1974er Rezension, muss sein Tadel Kunerts unter dem Stichwort „Pauschalschelte der Jugendbewegung“ bei gleichzeitiger Inschutznahme von Seidelmanns seinerzeitigem Kampf gegen „verzerrende Totalkritik“ durchaus auffallen, ebenso wie das Lob auf Seidelmanns Kritik an Howard Becker („extrem unwissenschaftlich“) bei gleichzeitigem Lob auf Bd. III der Kind-Edition resp. Hans Raupach („abwägendes Schlusswort“) und Kritik an Michael H. Kater, gleichfalls unter dem Stichwort „Pauschalschelte“. Im Rückblick auf Arndt Weinrichs Vokabel geredet: ein „Überblick über die Forschungsliteratur“ sieht anders aus. Was ersatzweise dominiert, ist Reuleckes Teilhabe an der von Wilhelm Flitner 1974 am Exempel Kunert gestarteten Kampagne, mit Nietzsche einen zumindest etwas seriösereren Namen als jenen Lagardes ins Zentrum der Erinnerungspolitik rücken zu lassen. Dies geschieht in Gestalt eines überblicksartigen Verrisses von bis 1993 angestellten Bemühungen, durch Aufarbeitung der völkischen Motive schon der Vorkriegsjugendbewegung die Empfänglichkeit vieler Jugendbewegter – darunter anfangs eben auch, was Reulecke gleichfalls außer Betracht lässt, Hans (und Sophie) Scholl – für die nationalsozialistische Ideologe zu erklären. Und hier, in diesem erstmals von Harry Pross und Walter Laqueur umrissenen Forschungsfeld, gründet das Heil nach wie vor im Reich der Episteme, in der durch den Kritischen Rationalismus noch zu festigenden Überzeugung, dass nie irgendetwas endgültig falsifiziert ist – solange es falsifizierbar formuliert werden kann.

Daraus folgt keineswegs, man müsse in jenen jämmerlichen fanatisierten Gestalten des letzten Aufgebots der HJ, die sich im Frühjahr 1945 selbst noch nach dem Selbstmord Hitlers als ‚Werwölfe‘ durch Deutschland mordeten, Nachfahren dessen sehen, was sich gut ein halbes Jahrhundert zuvor in Steglitz unter den Vorzeichen von Wanderlust und Zivilisationsskepsis zu regen begonnen hatte. Auch wäre es wohl unangemessen, von Himmler oder dem von ihn eingesetzten, vormals als HSSPH Ukraine in exzessiv mörderische ‚Bandenbekämpfung‘ verstrickten ‚Reichswerwolf‘ Hans-Adolf Prützmann (1901-1945) eine gerade Linie zurück zu, beispielsweise, Hans Breuer ziehen zu wollen. Davon bleibt unberührt, dass die HJ zumal in der ‚Kampfzeit‘ von 1923 bis 1933 von jenen ‚Werwölfen‘ nicht gar so weit entfernt war – und dies auch noch voller Stolz verbuchte. Lehrreich ist hier vor allem das Beispiel des Ende Januar 1932 bei einer Strassenschlacht ums Leben gekommenen HJ-Mitglieds Herbert Norkus: Baldur von Schirach verherrlichte Norkus, Vorbild für den von Hitler geschätzten Film Hitlerjunge Quex (1933), noch 1935 als „Symbol junger Opferung und jungen Heldentums“ – und gab damit ein Zeichen dafür, dass auch der nach der ‚Machtergreifung‘ fortgesetzte Terror der HJ gegen Andersdenkende in Ordnung sei. Michael H. Kater beispielweise brachte zwei Fälle vom Sommer 1934 in Erinnerung, darunter einen aus Plauen, „wo ein rasender HJ-Mob den früheren Führer der ‚Deutschen Freischar‘, Karl Lämmermann, umbrachte.“

Die Regel freilich tritt nicht in Beispielen wie diesen zutage, sondern in sachlichen Notaten wie dem folgenden, entnommen aus Arno Klönnes bahnbrechender Studie Hitlerjugend (1955) und später von ihm in der Neuausgabe dieses Buches etwas gekürzt und gleichsam entschärft wiederholt:

[D]ie HJ […] ist […] ohne die Vorläuferschaft der Bündischen und ohne die Übernahme vieler, im Raum der Bündischen Jugend vorentwickelter Sozialformen, Ideologieelemente und Aktivitäten nicht zu denken, wie ja überhaupt der NS nicht ohne die Anknüpfung an völkische Traditionen erklärbar ist. Ein Großteil der Methoden und Gestaltungsmittel der NS-Jugendarbeit, der Gruppenformen und des Verbandsaufbaus der HJ hat im Bündischen seinen Ursprung: so unter anderem […] das Führer-Gefolgschaft-Prinzip, die Formen von Fahrt, Lager, Geländespiel und Heimabend, das Liedgut und der Kultstil, – – bis hin zur Symbolsprache und den ‚Zeichen‘ der HJ.

Ähnlich stellte sich die Sachlage gut fünfzig Jahre nach Klönne bei Ulrich Thamer dar, der noch hinzufügte:

Wenn die meisten bündischen Gruppen 1933 den organisatorischen Übertritt zur NSDAP und zur HJ ablehnten, so geschah dies nicht aufgrund prinzipieller ideologischer und erziehungspolitischer Gegensätze, sondern eher aus Abneigung gegen die als plebejisch verstandene Massenbewegung der NSDAP.

Gegen nüchterne Befunde dieser Art, die auch durch Berichte Beteiligter gestützt werden, hilft auch nicht der Rückgriff auf die Erwägung Jakob Müllers aus dem Jahr 1971:

Ihr [Hitlers und der führenden Nationalsozialisten] Werk bildete in wesentlicher Hinsicht das genaue Gegenteil der Jugendbewegung: eine phantastische Leistung politisch-demagogischer, krimineller und terroristischer Art, welche um geistige Probleme und Fragen einer neuen menschlichen Haltung und ihrer Lebensformen sich kaum kümmerte.

Dies ist fraglos richtig – ebenso wie der Umstand, dass viele Jugendbewegte eben diese Probleme und Fragen jener Option wegen rasch aus den Augen verloren. Der Grund hierfür kann exemplarisch dem 1932 verfassten Geleitwort Fritz Riebolds (1888-1968) für den Deutschen Jungenkalender 1933/34 der Christlichen Pfadfinderschaft Deutschlands entnommen werden. Denn wenn selbst an diesem Ort aus derart unverdächtiger Feder vom „Erwachen“ die Rede ist, das „durch die sich ihres Volkes und Vaterlandes bewußte deutsche Jugend [geht]“, wird man sich nicht wundern dürfen über den raschen Verfall der noch von Matthias von Hellfeld gläubig beschworenen „autonomen und zweckfreien Bildung der Jugendbewegung“, die angeblich im krassen Widerspruch stand zur – durch die HJ intendierten – „Erziehung zum Staat (und zum Soldaten).“ Wer so redet, fraglos, wie Jürgen Reuleckes Lob („abwägend“) der von ihm selbst mitedierten Dissertation Hellfelds lehrt, zur Freude des Mainstream, hat sie nicht oder nur unzulänglich zur Kenntnis genommen: die auf den vorhergehenden Seiten ausführlich ausgebreiteten dominierenden Bildungsvorstellungen auch schon der Vorkriegsjugendbewegung. Sie haben mit Hellfelds Rede von der „Erziehung zum unabhängigen, selbstverantwortlich und allseitig gebildeten Individuum“ ebenso wenig zu tun wie mit der neuerdings (2012) von Reulecke ins Spiel gebrachten Bildungsfigur des ‚Wachsenlassen‘, die der Bildungsidee der Nazis komplett widersprochen und die HJ zur „Piraterie“ jugendbewegter Formen und Denkhorizonte genötigt habe. Angemessener scheint es davon auszugehen (wie in diesem Buch geschehen), dass es schon der Vorkriegsjugendbewegung mehrheitlich um Teilhabe am 1928 von Erich Weniger postulierten ‚Kampf um die Gestaltwerdung des deutschen Geistes‘ ging – ein Kampf, der mit den Nazis seiner Vollendung entgegen zu gehen schien.

Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer Professor (i.R.) für Sozialpädagogik an der TU Dresden. Letze wichtige Veröffentlichung: Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur. Heidelberg 2022.

Text: Der Abdruck des 7. Kapitels in insgesamt vier Folgen aus meinem Buch Die dunklen Seiten der Jugendbewegung. Vom Wandervogel zur Hitlerjugend. 2., durchgesehene Auflage München 2022, © 2022 Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG, erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den UVK Verlag (ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG). Der Text ist unverändert bis auf die Fußnoten mit Literaturhinweisen, die in der Printversion nachgeschlagen werden können.

–> Vorwort zur Neuausgabe von Micha Brumlik