Mehr als nur eine Frage der Zuständigkeit

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Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag kann nun zu möglichen Kriegsverbrechen Israels ermitteln. Damit sei die Frage geklärt, ob man auch über die Palästinensergebiete Recht sprechen dürfe. Nicht nur die israelische Regierung zeigt sich entsetzt über diese Entscheidung.

Von Ralf Balke

Namen wurden keine genannt – bis jetzt jedenfalls noch nicht. Als am Freitag vergangener Woche aus Den Haag die Nachricht kam, dass der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) nun formelle Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen im Westjordanland, in Ost-Jerusalem und dem Gazastreifen aufnehmen könne, war der Schock in Israel groß. Die Tatsache, dass es für die Ermittler denkbar ist, neben israelischen Verantwortlichen ebenfalls Mitglieder der radikal-islamistischen Hamas ins Visier zu nehmen, konnte da nur ein schwacher Trost sein. Denn auf Basis dieser Grundsatzentscheidung hat nun die Palästinensische Autonomiebehörde die Option, Den Haag dazu aufzufordern, gegebenenfalls entsprechende Untersuchungen gegen Israelis einzuleiten. Die Richter in Den Haag signalisierten jedenfalls damit, dass man sich für das, was in den Palästinensergebieten geschieht, durchaus zuständig fühlen würde. Genau dieser Punkt war bis dato unter den Juristen immer umstritten. Der Grund: Es existiert kein Staat Palästina, der international anerkannt ist.

Ministerpräsident Benjamin Netanyahu bezeichnete die Entscheidung, die auch bei den IStGH-Mitgliedsstaaten Deutschland, Österreich, die Tschechische Republik, Australien, Brasilien und Uganda auf Ablehnung gestoßen war, als einen Ausdruck des „puren Antisemitismus“. Und Außenminister Gabi Ashkenazi erklärte, dass diese „das internationale Recht verzerrt und die Institution IStGH zu einem politischen Werkzeug der Anti-Israel-Propaganda macht.“ Zudem würden die Richter damit den Terror der Palästinenser genauso belohnen wie auch die Verweigerungshaltung der Autonomiebehörde, mit Israel direkte Verhandlungen aufzunehmen. Welche Bedeutung man in Jerusalem diesem Vorgang beimisst, beweist die Tatsache, dass man an einem Schabbat eigens ein Presse-Briefing dazu einberufen hatte, was als äußerst ungewöhnlich zu bewerten ist. Kritik kommt gleichfalls aus Washington. Die Vereinigten Staaten lehnen den Beschluss ab. Man würde weiter an der Seite Israels stehen. Wenig überraschend begrüßten dagegen Vertreter der Autonomiebehörde die Nachrichten aus Den Haag. Auch die Hamas meldete sich sofort zu Wort und forderte, jetzt möglichst schnell aktiv zu werden. Außerdem bot sie dem IStGH an, reichlich Dokumente als Beweismaterial für die „grausamen Verbrechen“ Israels zur Verfügung zu stellen.

Um es noch einmal zu betonen: Die Entscheidung vom Freitag bedeutet nicht, dass Den Haag jetzt sofort konkrete Ermittlungen gegen Israelis oder vielleicht auch Palästinenser einleiten wird – der Gerichtshof kann ohnehin nur gegen Einzelpersonen und nicht gegen Staaten vorgehen. Vielmehr geht es um die Zuständigkeit. Professor Yuval Shany, Vizepräsident des Israel Democracy Institute, hebt in diesem Kontext hervor, dass der Internationale Gerichtshof immer noch entscheiden könnte, Israels eigene Untersuchungen zu bestimmten Vorfall seien völlig ausreichend und man deshalb zu dem Schluss komme, nichts weiter unternehmen zu müssen. „Bis aus ersten Ermittlungen richtige Anklagen gegen bestimmte Personen werden oder gar Haftbefehle ausgestellt werden, liegt noch ein langer Weg vor uns“, sagte er. „In einem ganz ähnlichen Fall, in dem es um Vorwürfe gegen britische Soldaten im Irak ging, die Kriegsverbrechen begangen haben sollen, hat der Staatsanwalt in Den Haag kürzlich die Kriterien für die Einleitung einer formalen Untersuchung geändert. Deshalb dürfte es sehr wahrscheinlich sein, dass es beispielsweise im Zusammenhang mit der Operation Protective Edge nicht zu Verfahren gegen israelische Soldaten kommen wird, weil die Armee bereits selbst Untersuchungen eingeleitet hatte.“

Zudem laufen gerade zahlreiche Debatten über den Sinn und die Effizienz des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag, die womöglich zu Reformen führen könnten, weshalb sich die Rahmenbedingungen ohnehin noch einmal ändern könnten. So hatten erst vor zwei Jahren vier ehemalige Präsidenten aus verschiedenen IStGH-Gremien öffentlich ihren Unmut zum Ausdruck gebracht und die Arbeit des IStGH kritisiert. „Wir sind enttäuscht von der Qualität einiger seiner gerichtlichen Verfahren, frustriert über manche Ergebnisse und verärgert über die Defizite im Management, die den Gerichtshof letztendlich daran hindern, sein volles Potenzial zu entfalten.“ So würde die Begründung Den Haags vom April 2019, keine Untersuchung in Afghanistan zu möglichen Kriegsverbrechen einleiten zu wollen, weil dies „nicht den Interessen der Gerechtigkeit dienen würde“, das Selbstverständnis der Institution sowie ihre Fähigkeiten doch sehr in Frage stellen.

Fatou Bensouda, die Chefanklägerin in Den Haag, jedenfalls will nun prüfen, ob und wie sie Schritte ergreifen wird. Mehrere Punkte, die die Juristin aus Gambia bereits in der Vergangenheit hervorgehoben hatte, könnten eine Rolle spielen, um gegen Israelis vorzugehen. Zum einen sieht sie in der Operation Protective Edge im Gazastreifen aus dem Jahr 2014 eine „fundierte Grundlage zur Annahme, dass Angehörige der israelischen Streitkräfte (…) Kriegsverbrechen begangen haben, wobei es konkret wohl um drei Angriffe geht, die unverhältnismäßig gewesen sein sollen. Auch die wöchentlichen Massenproteste der Palästinenser an den Grenzanlagen zwischen dem Gazastreifen und Israel wären für sie ein Anlass zur Untersuchung und Anklage gegen israelische Armeeangehörige, weil diese „nicht-tödliche und tödliche Mittel gegen Personen angewandt“ hätten. Last but not least ginge es noch um Kriegsverbrechen im Sinne eines intendierten Bevölkerungsaustauschs im Westjordanland sowie Ost-Jerusalem seit dem Jahr 2014. Aber auch gegen die im Gazastreifen regierenden Islamisten existieren Vorermittlungsergebnisse, und zwar dahingehend, dass es „ausreichend Grundlage zur Annahme gibt, dass Angehörige der Hamas und anderer palästinensischer bewaffneter Gruppen (…) Kriegsverbrechen im Sinne der absichtsvollen Ausrichtung von Angriffe auf (israelische) Zivilisten und zivile Gegenstände begangen haben.“ Ob sie all diese Untersuchungen auch wirklich durchführen kann, darf bezweifelt werden. Denn bereits im Juni wird ihre auf zehn Jahre befristete Amtszeit ablaufen. Und wer ihr Nachfolger sein wird, steht namentlich noch nicht fest. Nur so viel ist sicher: Nach einigen Afrikanern und Südamerikanern auf diesem Posten wird es wohl eine Person aus der westlichen Welt.

Auch steht die Entscheidung, die übrigens nur von zwei Mitgliedern des dreiköpfigen Richtersenats getragen wurde, völkerrechtlich in vielerlei Hinsicht auf recht wackligem Boden. So hat die Palästinensische Autonomiebehörde zwar im Jahr 2015 die Verträge zum Tribunal in Den Haag über eine Mitgliedschaft alle ratifiziert. Doch stand sie immer vor dem Problem, dass sich die Rechtssprechung allein auf die Unterzeichnerstaaten beziehen kann, was aber im Fall Palästinas eigentlich nicht funktioniert, weil man eben kein Staat ist. Doch hatten die Richter in Den Haag einen Ausweg aus diesem Dilemma gefunden. So würde ihre Entscheidung vom Freitag nicht die Frage der „Staatlichkeit“ Palästinas oder irgendwelche Streitigkeiten über Grenzziehungen betreffen, da diese Punkte ohnehin nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fällt. Vielmehr wolle man Palästina basierend auf dem „Recht des palästinensischen Volkes auf Selbstbestimmung“ hin betrachten. Genau diese Begründung stößt vielerorten auf Widerspruch. Deutschland erklärte, dass aus Sicht der Bundesregierung es sich bei Palästina nicht um einen Staat handeln würde, weshalb die Grundlage für eine Zuständigkeit des IStGH schlichtweg fehle. Das wiederum sieht man in Den Haag anders. Deutschland hätte 2015 keinerlei Einwände gegen eine palästinensische Mitgliedschaft erhoben, weshalb die Argumente aus Berlin jetzt nicht ziehen würden. Diesen Einwand ließ Bundesaußenminister Heiko Maas nicht gelten und bekräftigte die deutsche Position am Mittwoch noch einmal.

Ähnlich auch die Argumentation Jerusalems, wo man es ohnehin absurd findet, dass der Internationale Gerichtshof gegen Mörder in brutalen Diktaturen wie Syrien oder dem Iran, auf deren Konto der Tod vieler zehntausender Menschen geht, nicht vorgehen würde, wohl aber gegen eine Demokratie wie Israel. Und weil Palästina kein Staat ist, verfüge es auch nicht über eine Gerichtsbarkeit, die es an Den Haag delegieren könnte, erst recht nicht für Territorien wie Ost-Jerusalem oder israelische Siedlungsgebiete, um die es ebenfalls geht. Israel dagegen zählt nicht zu den Mitgliedsstaaten des IStGH, weil man ebenso wie die Vereinigten Staaten, Russland oder China diesem Gremium nie beigetreten war. Dies ist auch der Grund, warum Jerusalem den Gerichtshof nicht wie die Palästinenser anrufen könnte, um diesen gegen Ramallah oder die im Gazastreifen regierenden Islamisten aktiv werden zu lassen.

Es gibt aber auch weitere Erklärungen dafür, warum man in Jerusalem jetzt so verschnupft auf die Entscheidung in Den Haag reagiert. Dort erinnert man sich nur allzu gut noch an Vorkommnisse von vor über zehn Jahren, als unter anderem in Großbritannien mehrfach israelische Militärangehörige oder Politiker verhaftet werden sollten, weil plötzlich der Vorwurf der Kriegsverbrechen im Raum stand und palästinensische Gruppen sowie radikale Linke die britische Justiz mobilisiert hatten. 2005 entging beispielsweise Ex-General Doron Almog nur knapp seiner Verhaftung, in dem er an Bord einer EL-Al-Maschine in London verblieb. Der frühere Brigadegeneral und jetzige Generalstabschef Avi Kochavi cancelte deswegen 2006 auf Anraten des damaligen Militärstaatsanwalts Avichai Mandelblit seinen England-Aufenthalt ebenso wie ein Jahr später Avi Dichter, vormals Chef des Inlandgeheimdienstes Shin Bet. Und 2009 stürmten britische Polizisten ein Hotel in London, weil sie dort die frühere Außenministerin Tzipi Livni vermutet hatten. Man befürchtet, dass israelische Staatsbürger, die in irgendeiner Form eine Funktion in der Armee oder einem der Geheimdienste hatten, plötzlich vor Gericht stehen könnten, weil man in Den Haag Ermittlungen wegen möglicher Kriegsverbrechen eingeleitet hat. Genau das will man verhindern.

Bild oben: Der Friedenspalast in Den Haag, Dienstgebäude des Internationalen Gerichtshofs.