Im August 1930 erschien in der deutsch-jüdischen Zeitschrift „Der Morgen“ ein Beitrag von Erich Stern über den Zusammenhang von Krankheit und religiösem Erleben, der sich heute, 90 Jahre später, in einer Zeit, in der wir mit einer Pandemie uns unbekanntem Ausmaßes zu kämpfen haben, hoch aktuell liest…
Erich Stern wurde 1889 in Berlin in eine assimilierte jüdische Familie geboren. Als Jugendlicher erkrankte er selbst an Lungentuberkulose, mit der er sich später aus professioneller Sicht beschäftigen sollte. Nach dem Schulabschluss studierte Stern zunächst in Berlin und Lausanne Naturwissenschaften , später in Karlsruhe Ekektrotechnik. Im Winter 1911 begann er in Straßburg ein Medizinstudium. Während des Ersten Weltkriegs trat er als Freiwilliger dem Heeresdienst bei und promovierte 1917 in Gießen. Im Anschluss spezialisierte sich Stern an der Psychiatrischen- und Nervenklinik der Universität Straßburg, nach Kriegsende ging er nach Hamburg und wurde Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Psychologischen Institut der Psychiatrischen Klinik Hamburg-Friedrichsberg.
Nach der Habilitation und einem erste Lehrauftrag wurde Stern 1924 außerordentlicher Professor für Philosophie und Pädagogik in Gießen, musste jedoch erneut einen längeren Sanatoriumsaufenthalt nach der Rückkehr der Lungentuberkulose einlegen. 1927 wurde er Dozent am Pädagogischen Institut in Mainz, und 1929 Vorstand des in Mainz neu etablierten Instituts für Psychologie, Jugendkunde und Heilpädagogik. Seine Karriere in Deutschland wurde 1933 beendet. Erich Stern wurde zwangspensioniert und entlassen. Er emigrierte mit Seienr Frau Käthe und Tochter Hilde in die Schweiz, wo er zunächst am Institut für Hochgebirgsphysiologie und Tuberkuloseforschung in Davos arbeitete. Ende 1933 zog die Familie weiter nach Paris, wo Stern als Assistent an der Kinderpsychiatrischen Universitätsklinik der Sorbonne tätig war. Nach dem Einmarsch der Deutschen in Frankreich zog Erich Stern nach Südfrankreich und konnte einer Verhaftung im Lungensanatorium von Clairvivre entgehen.
Auch nach Kriegsende blieb Stern noch einige Zeit in Clairvire, wo er als Sanatoriumsarzt arbeitete. Später kehrte er nach Paris zurück und arbeitete u.a. erneut an der Neuropsychiatrischen Kinderklinik der Sorbonne. 1957 zog Stern mit seiner Frau aus gesundheitlichen Gründen nach Kilchberg am Zürichsee, wo er 1959 starb.
Krankheit und religiöses Erleben
Von Erich Stern
Erschienen in: Der Morgen, Jg. 6, H. 3, August 1930
I.
Kein Versuch einer Welt- und Lebensdeutung kann an der Tatsache des Übels, des Leides vorübergehen; das gilt auch für die religiöse Weltauffassung, ja gerade für sie in ganz besonderem Maße. Sie wird sich immer mit der Frage auseinanderzusetzen haben, wie das Leid in einer Welt möglich ist, deren Geschicke ein allgütiger, allwissender und alles vermögender Gott lenkt. Alle Erklärungsversuche sind in sich widerspruchsvoll und unbefriedigend. Wer das Leid als Strafe ansieht, die Gott dem Menschen für seine Sünden schickt, wird bald erkennen, daß es dem „Guten“ keineswegs besser ergeht als dem „Sünder“; wird das Leid angesehen als Folge der Erbsünde oder als Buße für die Missetaten eines anderen, so scheint dies in Widerspruch zu stehen mit der Vorstellung der Allgüte Gottes. Betrachtet man das Leid als eine Prüfung, die Gott dem Menschen schickt, damit er sich bewähren und seinen Wert erweisen kann, so gerät man sofort in ein Dilemma: entweder vermag Gott nicht vorauszusehen, wie der Mensch sich dem Leid gegenüber verhalten wird und er bedarf der Prüfungen — dann ist er nicht allwissend, oder aber er weiß des Menschen Haltung im voraus, dann ist das Leid überflüssige Qual — dann ist Gott nicht allgütig, oder er vermag das Leid nicht abzuwenden — dann ist er nicht alles vermögend.
Es gibt für das Leid keine befriedigende Erklärung. Gewiß läßt das Leid den Menschen mehr reifen als die Freude; aber weshalb ist dies der Fall? Die Betonung der Unerforschlichkeit des Ratschlusses Gottes bedeutet den Verzicht auf eine Erklärung; sie zeigt eine Grenze auf, die unserem Denken gesetzt ist. Schließlich bleibt uns nichts anderes übrig, als das Leid hinzunehmen als unseren Tribut an eine Weltordnung, die uns im tiefsten Grunde unverständlich bleibt.
Kann so die Religion das Leiden zwar nur unvollkommen rechtfertigen, so findet sie andererseits in ihm doch eine ihrer stärksten Stützen. Zunächst verheißt sie dem Gläubigen, ihn über das Leid hinauszuführen, sie baut neben dieser Welt voller Leiden eine andere Welt auf, in der alles Leid aufgehoben ist, sie verspricht dem Frommen ewigen Frieden und ewige Seligkeit. Zum anderen aber findet der Mensch nie so leicht den Weg zur Religion, als wenn er in Not und Leid verstrickt ist Nicht nur in der Sprache des Volkes heißt es: Not lehrt beten; auch die Religion selbst fordert den Menschen auf, Gott in der Not anzurufen, und sie verspricht ihm, daß Gott ihn dann erlösen werde. Vielleicht ist die Not, wenn auch nicht der vornehmste, so doch der menschlichste Weg, der zum Glauben führt.
Die hier liegenden psychologischen Zusammenhänge sind so klar und durchsichtig, daß ein naturalistisch eingestelltes Jahrhundert zu der Auffassung kommen konnte, daß allein die Not, die Furcht vor ihr und die Hoffnung, ihr zu entgehen, die Religion „schaffen“ konnte. Von Feuerbach bis Freud wird immer wieder betont: Der Mensch in seiner Not, in seiner Hilflosigkeit, in seinem Verlangen nach Schutz und Rettung bedürfe eines Haltes, den er nur in seinem Inneren finden könnte, dessen er dort aber entbehre — ein Umstand, der ihn dazu zwinge, diesen Halt „außen“ zu suchen. Gott sei der Ausdruck menschlichen Sehnens nach Hilfe; aber die Hilfe, die der Mensch Gott zuschreiben zu müssen meine, stamme in Wirklichkeit nicht von Gott, sie müsse psychologisch verstanden werden, sie stamme aus dem rein subjektiven Glauben, sie sei eine Folge der Haltung des Menschen und des so erworbenen Haltes, sie beruhe letzlich auf einer „Illusion“. Die historische Religion sei nichts, als ein Versuch, mit dem vom Menschen selbst geschaffenen, illusionären Wesen in Beziehung zu treten, es günstig für sich zu stimmen. Aber auf diesem Wege gerate der Mensch in Abhängigkeiten und in eine Unfreiheit, die den Fortschritt der Entwicklung auf halte und die für ihn zu einer neuen Quelle von Leiden werde. Für Freud ist die Religion schließlich nur die allgemeine große Zwangsneurose der Menschen.
Gegen diese Aufstellungen sei hier nur eines bemerkt: Gewiß führt — es wird darauf noch zurückzukommen sein — das Leid zahlreiche Menschen zur Religion hin, wenn es freilich andere auch von der Religion fortbringt. Aber das will nicht besagen, daß den religiösen Erlebnissen nicht eine andere, „höhere“ Wirklichkeit entsprechen könne. Es ist ein Irrtum, wenn man meint, daß die moderne Naturwissenschaft ein Bild der Welt zeichne, so wie die Welt „an sich“, d. h. unabhängig vom menschlichen Bewußtsein sei und daß in dieser Welt kein Platz sei für einen Gott oder für eine andere als die Naturwirklichkeit Die Psychologie untersucht psychische Vorgänge, aber es steht ihr nicht zu, irgendetwas über außerpsychische Realitäten auszusagen. Jede Wirklichkeit ist dem Menschen zunächst als Erlebnis gegeben, auch diejenige, die wir im allgemeinen als „Außenwelt“ bezeichnen, und die viele als die einzige Wirklichkeit anerkennen wollen. Und trotzdem sind wir doch davon überzeugt, daß die Außenwelt nicht nur unsere Vorstellung sei, sondern daß dieser Vorstellung etwas Reales entspreche, auch wenn das Bild, das uns die Sinne von dieser Realität liefern, unvollkommen bleibt Auch diese „Wirklichkeit“ ist dem Menschen nicht als eine fertige gegeben, sondern sie baut sich langsam und allmählich in der Menschheit und im Einzelmenschen auf. Diese Tatsachen mögen uns gewiß zur Kritik mahnen, aber sie können nie und nimmer als Beweis gegen die außerpsychische Realität gewisser Erlebnisinhalte angesehen werden.
Sollte nun das eben Gesagte nicht, ceteris paribus, auch für die religiösen Erlebnisinhalte gelten können? Daß Not und Leid religiöse Erlebnisse auslösen, ja nicht selten religiöse Saiten im Menschen zum erstenmal zum Klingen bringen, wird niemand bestreiten, auch nicht, daß Furcht, Angst, Sehnsucht nach Hilfe, Hoffnung eine Rolle spielen. Aber ist damit die religiöse Welt als nicht existent aufgezeigt? Vielleicht sind Not und Leid nur den Sinneseindrücken vergleichbar, die uns ein Bild von der äußeren Welt liefern. Zudem will mir scheinen, als ob, gerade von der Not und vom Leiden her, noch andere Wege zur Religion führen, Wege, die vielleicht nicht allen Menschen zugänglich sind, die aber doch wohl tiefer in die ganze Problematik des Religiösen zu führen geeignet sind. Wenn wir hier versuchen wollen, diesen Wegen nachzugehen, so wollen wir nicht das Leiden in seiner Gesamtheit beitrachten, sondern als einen typischen Fall des Leidens schwere eigene Krankheit nehmen. Welche Beziehung zeigt das Erlebnis der eigenen Erkrankung zum religiösen Erlebnis?
IL
Unübersehbar zahlreich und mannigfaltig sind die Leiden, die dem Menschen zugemessen sind. Aber alle haben sie das eine gemeinsam, daß sie irgendwie das Zentrum seiner Existenz angreifen, daß sie sein körperliches, seelisches, moralisches Leben gefährden. Niemand kann sich der Vernichtung seines Lebens, dem Tode entziehen, und der Gedanke an ihn bedeutet für viele schon ein Leid; kaum ein Mensch entgeht auch Krankheiten, zeigen uns doch die erfahrensten Ärzte, daß nicht einer unter Hunderttausend eines natürlichen Todes, d. h. eines Todes durch langsames, allmähliches Auslöschen aller Lebensfunktionen stirbt; die meisten werden vor der Zeit hinweggerafft durch Krankheiten, Unfälle, Kriege, Katastrophen, und auch diejenigen, die hochbetagt sterben, erliegen in der Regel Krankheiten.
Krankheiten stellen so ein allgemeines Leid dar, sie bleiben keinem Menschen ganz erspart. Vielleicht hängt damit zusammen, daß der Begriff des Leidens sich an sie mit besonderem Nachdruck knüpft. „Er hat ein Leiden“, „er ist leidend“, besagt so viel wie: Er ist krank, er „leidet an einer Krankheit“. Dabei müssen wir nun zweierlei besonders festhalten: Wäre Krankheit nichts als ein sich irgendwo im Organismus abspielender Prozeß, dann würde der Mensch nicht an der Krankheit „leiden“; leiden bedeutet immer ein seelisches Affiziertsein, bedeutet Krankheit und Leid fühlen, bedeutet ein Stellungnehmen zu der Krankheit, die einen befallen hat. Zum anderen aber bezeichnen wir nicht jede Krankheit als Leiden, Leiden ist immer nur eine Krankheit von mehr zuständlicher Art und von einer gewissen Schwere, eine Störung, die für das Leben und die Lebensgestaltung des Befallenen nicht gleichgültig ist, die vielmehr „etwas zu bedeuten“ hat, die seinem ganzen Verhalten irgendwie den Stempel aufdrückt.
Die Lungentuberkulose verkörpert den Leidenscharakter vielleicht in einem ganz besonderen Maße; kaum eine Erkrankung gibt es, die so tief und nachhaltig den ganzen Menschen beeinflußt wie sie. Ich rede hier nicht von den leichten Erkrankungen, die nach kurzer Zeit von selbst wieder ausheilen, und nach denen der Mensch den früheren Betätigungen und Vergnügungen genau so nachgehen kann wie ehedem, sondern lediglich von den ernsteren und schwereren Fällen, die ein Leiden bedeuten und die vom Menschen als Leiden empfunden werden. Auf sie allein stützen sich die folgenden Ausführungen, Ich habe die Psychologie des Lungenkranken wiederholt behandelt, am eingehendsten in meinem Buche „Die Psyche des Lungenkranken“, ich kann mich daher hier darauf beschränken, nur das für unsere weiteren Erörterungen Wichtigste zusammenfassen. Vier Momente sind es im wesentlichen, die das Seelenleben des Kranken bestimmen: Die Krankheit selbst, die Eigenart der Behandlung, die wirtschaftliche Situation und das Verhalten anderer Menschen.
Die Lungentuberkulose ist eine Erkrankung von ganz ausgesprochen chronischem Verlauf, sie erstreckt sich über Monate und Jahre, ja über Jahrzehnte, sie kann einen Menschen sein ganzes Leben hindurch begleiten. Zeiten des Stillstands und relativen Wohlergehens können abwechseln mit Zeiten mehr oder minder raschen Fortschreitens, Zwischenfälle wie Fieberperioden, Blutungen können plötzlich und unvorhersehbar eintreten; der Kranke ist vielfach müde und matt und in seiner Leistungsfähigkeit mehr oder weniger stark beeinträchtigt. Die Krankheit bringt ein Moment der Unruhe und Unsicherheit in sein Leben; sie erschwert es, über den nächsten Moment hinauszuschauen oder gar weitreichende Pläne zu machen: Wie leicht kann ein neuer Zwischenfall die Ausführung unmöglich machen! Dieses „Leben für den Tag“ und in den Tag hinein aber ist durchaus unbefriedigend und erzeugt ein Verlangen nach etwas Festem, nach einem Halt. Die dauernde Unsicherheit bedeutet eine starke Erschütterung der Vitalität.
Die Behandlung vermag verhältnismäßig wenig auszurichten; der Kranke sieht, wie unvermögend eigentlich der Arzt ist und wie sich seine Tätigkeit mehr auf ein Warten und Pflegen beschränkt, als daß sie ein aktives Helfen ist Die Krankheit stellt große Anforderungen an die Geduld des Kranken und die Behandlung, das Liegen, die Untätigkeit, die Herauslösung aus dem Milieu, in dein der Kranke sonst lebte, erhöhen sie noch um ein Erhebliches. Der Kranke, der sich einer Kur unterzieht, der keine richtige Beschäftigung hat, wird unruhig und unzufrieden, er beginnt zu denken und zu grübeln, und da die Mehrzahl der Menschen in selbstverständlicher Haltung auf das äußere Geschehen gerichtet und zu handeln gewohnt ist, bedeutet diese Unfähigkeit, am Leben teilzuhaben und nicht handeln zu können für sie einen schweren Schock, sie wissen mit sich selbst nichts Rechtes anzufangen.
Die wirtschaftlichen Sorgen kommen hinzu; Krankheit bedeutet für die weitaus überwiegende Mehrzahl der Menschen Anwachsen der Ausgaben und Minderung der Einnahmen. Die ganze wirtschaftliche Existenz erscheint in Frage gestellt; wird es jemals wieder möglich sein, in vollem Umfange einen Beruf auszufüllen? Es erhebt sich auch die Frage, was wird, wenn die Mittel aufgebraucht sind und die Krankheit noch nicht behoben ist.
Und das Verhalten der Anderen! Nicht allein, daß man ihn vielfach meidet, aus einer Überschätzung der Ansteckungsgefahr, daß man ihn zwingt, seine Erkrankung zu verbergen, zu heucheln, so liegt doch immer die Gefahr nahe, daß man seine Krankheit als Anlaß benutzt, ihn zu umgehen und auszuschalten, daß ihm durch andere der Boden für seine Arbeit und Tätigkeit entzogen wird. Allerdings kann auch gerade die Krankheit ihm die Teilnahme von Menschen offenbaren, an deren Freundschaft er zuvor nicht gedacht hat, und gerade Erlebnisse dieser Art gehören mit zu den tiefsten und wertvollsten Eindrücken, die das Kranksein zu bieten vermag.
Kranke, die Jahre hindurch leiden und die wenig von einer Wendung zum Guten spüren, werden nicht selten von einer Sucht, sich zu betäuben durch das Leben und Ausleben, sich über alle Hemmungen und Schranken hinwegzusetzen, gepackt; sie kommen nicht zu einer Leichtigkeit, sondern zu einer Leichtfertigkeit. Sie ist oft nur Maske, nur Verdrängungs- und Kompensationserscheinung, um Sorgen und quälende Gedanken abzuschütteln und zu überwinden; sie ist ein Sich-Verstecken vor der Wirklichkeit.
Bei anderen aber führt die Krankheit zu einer ungeahnten Vertiefung des Lebens. Sie sind nicht in der Mehrzahl, wie überhaupt die Mehrzahl der Menschen einer wesentlichen Vertiefung nicht fähig ist und sie nicht erstrebt. Aber wenn irgendetwas diese Vertiefung bringen kann, dann ist es das Leid, das hier buchstäblich „am eigenen Leibe“ erfahren wird. Und doch sind mehr Menschen von dem Leid innerlich berührt, als es auf den ersten Blick scheinen mag. In welchem Leben gibt es nicht Momente, in denen das Dasein in Frage gestellt erscheint, Momente der Selbstbesinnung!
III.
Der Naturalismus vertritt die Ansicht, daß eine vollkommene, restlose Erkenntnis der Wirklichkeit möglich sei. Freilich sind wir heute noch von einer solchen entfernt, und weite Strecken der Wirklichkeit sind mit einem Schleier des Geheimnisses bedeckt — aber im Prinzip ist die vollkommene Welterkenntnis für den Naturalismus möglich. Der Naturalismus betont weiterhin, daß außer den Naturgesetzen und Naturkräften keine anderen Gesetze und Kräfte vorhanden seien, daß es insbesondere neben unserer Wirklichkeit keine andere Wirklichkeit geben könne; und endlich betont der Naturalismus, daß das Geschehen in unserer Welt abliefe, ohne irgendwelche Ziele zu verfolgen und Zwecke zu verwirklichen. Diese Auffassung gilt sowohl für das Naturgeschehen im engeren Sinne wie für den historischen Prozeß, in den das Leben des Menschen eingespannt ist. ((Vgl. hierzu Otto, Naturalistische und religiöse Weltansicht. III. Aufl. Tübingen 1929))
Demgegenüber betont nun die religiöse Weltansicht, daß auch eine Welt, deren Gesetze restlos erkannt seien, immer ein Geheimnis bleiben wird, und daß die Geltung der Naturgesetze keineswegs ausschließe, daß die Welt auch noch von anderen Faktoren bedingt und abhängig sei. Sie betont, daß der Glaube an höhere Wirklichkeiten, an Gott, keineswegs die Gesetzmäßigkeit in der Natur undenkbar mache, sondern sie vielmehr fordere. Die religiöse Weltansicht hebt des weiteren hervor, daß wir das wahre Wesen und die Tiefe der Dinge nicht fassen, daß die Welt, die wir fassen, nur die unzulängliche Erscheinung des wahren Wesens sei, und daß wir in Gefühl und Ahnung irgendwie an das wahre Wesen der Dinge rühren. Wenn auch die Naturwissenschaften nichts über den Zweck des Lebens und der Welt auszusagen imstande sind, so ist damit doch keineswegs entschieden, daß in der Welt Ideen und Zwecke nicht vorhanden seien, und daß eine Vorsehung und Leitung nicht existiere. Im Grunde sind es also drei Momente, welche die religiöse Weltansicht prinzipiell von der naturalistischen unterscheiden: Für die religiöse Weltansicht bleibt die Welt immer ein Geheimnis, sie schließt die Abhängigkeit von höheren Wirklichkeiten ein und glaubt an das Walten einer Vorsehung.
Die Anerkennung des Religiösen setzt die Annahme einer absolut geltenden Wertordnung voraus, in der die religiösen Werte die oberste Stelle einnehmen. In dieser Rangordnung sind die niederen Werte den höheren untergeordnet, haben ihnen zu dienen, und so zielen alle anderen Werte schließlich auf den religiösen Wert hin; ja erst von ihm erhalten sie ihre Weihe und ihre Berechtigung. Aufgabe des Menschen ist es, Werte in seinem Leben, in der Welt, zu verwirklichen, und so wird der religiöse Wert letztes und höchstes Ziel des Strebens. Die Notwendigkeit, die geltenden Werte irgendwie mit Seiendem zu verbinden, führt uns zur Annahme eines höchsten absoluten Wesens, das alle Wert Vollkommenheit in sich vereinigt; in ihm treffen sich letzte Ursache alles Geschehens und letztes Ziel allen Strebens.
Religiosität ist irgendeine Verhaltensform des Menschen zu diesem höchsten Wesen, zu Gott. Hier liegt der Inhalt des religiösen Erlebnisses, das mannigfache verschiedene Formen annehmen kann. Immer aber ist die Voraussetzung, daß der Mensch wirklich von der Existenz Gottes und von der Sinnhaftigkeit des Lebens überzeugt ist; ein bloßes „so tun, als ob“, die Annahme, daß es sich bei allem Religiösen lediglich um eine Fiktion handele, kann nie ein religiöses Erleben fundieren. Der Mensch muß überzeugt sein von der Realität Gottes und von Zwecken, die jenseits des Lebens stehen und die dem Leben erst seinen Sinn geben. Und hier erhebt sich wieder die Frage: Was führt den Menschen zu diesem Glauben?
IV.
Furcht und Hoffnung, die ganz allgemein zu den stärksten Motiven unseres Verhaltens und Handelns gehören, stehen ganz zweifellos auch zu dem religiösen Erlebnis in engster Beziehung; wir sagten oben, daß sie häufig den einzigen Weg darstellen, der den Menschen zum Glauben führt — den menschlichsten Weg. Die Krankheit aber ist so reich an Situationen, in denen Furcht bis zur grausigsten Angst herrscht und in denen der Mensch, der kaum zu hoffen hat und zu hoffen wagt, doch hofft. Der Psychoanalytiker sieht das Urbild der Angst in der Geburtsangst, die das Kind durchlebt, das in die Welt hinausgestoßen wird; man könnte das Urbild der Angst auch in der Todesangst sehen, die den Menschen aus dieser Welt wieder hinwegführt, und alle anderen Ängste nur als Abbilder der Todesangst betrachten.
Die Krankheit bringt den Menschen in eine nähere Berührung mit dem Tode; inwieweit diese Berührung sein ganzes Denken und Verhalten umformen kann, steht hier noch nicht zur Erörterung, sondern lediglich die Tatsache, daß dieses Bedrohtsein Angst auszulösen vermag. Der Mensch hängt am Leben. Ein Leben selbst mit Qualen ist den meisten immer noch mehr als der Tod. Was aber fürchtet der Mensch denn am Tode: Ist es die Qual des Sterbens? Sie erscheint dem Außenstehenden oft ganz erheblich größer als sie in Wirklichkeit ist. Und gerade der Mensch, der sie am stärksten durchlebt, klammert sich, trotz ihrer am meisten an das Leben. Denn das Sterben ist dort besonders qualvoll, wo der leidende Mensch sich gegen den Tod, der doch auch Ende des Leidens bedeutet, auflehnt und sich aus der letalen Apathie immer wieder herausreißt und nicht sterben will.
Vielleicht spielt für viele die Tatsache eine Rolle, daß sie sich selbst als das Zentrum der Welt fühlen und sich die Welt, ohne daß sie an ihrem Geschehen irgendwie teilhaben, nicht vorstellen können. Ist es der Schmerz der Trennung von seinen Lieben? Dann müßte der Fromme die Angst vor dem Tode nicht haben, denn er glaubt ja an ein Wiedersehn, das unter glücklicheren Verhältnissen statthat.
Mir scheinen nur zwei Momente die Todesfurcht begründen zu können: Das eine Moment kann man als biologisches bezeichnen. Ohne die Furcht vor dem Tode würde sich das Lebewesen sehr viel mehr Gefahren, die sein Leben vernichten können, aussetzen; die Todesfurcht hilft, Gefahren zu meiden und sich Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten zu unterziehen, um das Leben zu erhalten. In diesem Sinne scheint mir die Todesangst mit dem Wesen der Kreatur eng verbunden zu sein.
Zum anderen aber steckt in der Todesangst das religiöse Moment; der Tod gilt nicht als der Abschluß des Lebens, sondern als Ende einer Lebensphase, als „Pforte zwischen zwei Reichen“. Es ist das Ungewisse, das quält: die Frage, ob wirklich jenseits dieses Lebens ein anderes Leben ist oder ob der Tod nicht doch den Zerfall, das Nichts bedeutet. Weshalb ist der Gedanke dieses Nichts für uns so qualvoll? Ein nicht faßbares Phänomen! Und dann: wie ist dieses Ungewisse beschaffen? In unser aller Glauben spielen die Begriffe Lohn und Strafe eine recht große Rolle; ja gerade auf der Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die für die Leiden dieser Welt und für die „guten Taten“ des Menschen einen Lohn, für das Schlechte, das ein Mensch beging, aber Strafe schafft, ruht zum guten Teil der Glaube an ein Jenseits. Den Menschen bangt um sein persönliches Schicksal: Gehört er zu den Auserwählten oder zu den Verdammten? Jede Verlängerung des Lebens schafft die Möglichkeit, sich noch „den Himmel zu verdienen“, ja die Krankheit selbst ist ein Mittel, daß der Mensch sich übe, geduldig das ihm Geschickte zu tragen, ohne zu murren, und sich durch diese Hinnahme des Leidens den Lohn Gottes zu verdienen.
Es sind dies Gedankengänge, denen man bei primitiver organisierten Menschen häufiger begegnet. In ihrer Angst greifen sie zur Religion, belebt sich wieder der oft längst vergessene Glaube der Kindertage. Der Kranke liegt da und sieht, wie sein Zustand sich verschlechtert und wie der Arzt ohnmächtig dabeisteht. Aber er will nicht sterben. Gott, der allmächtig ist, könnte helfen, wenn er wollte; so muß er sich Gott geneigt machen, damit er helfend, eingreife. Oft kommt der Anstoß dazu von außen. In Gide’s Roman ,,L’Immoraliste“ — der auch das Schicksal eines Tuberkulösen beschreibt — ist es die Frau des Kranken, die ihm das Kreuz hinhält mit dem Hinweis: Natürliche Mittel können nicht mehr helfen, nur Gott allein vermag noch Rettung zu bringen. Der Kranke greift nicht selten diesen Hinweis begierig auf. Oft stammt der Glaube aber auch aus seinem eigenen Inneren. Wieviele, die jede Religion verloren hatten, haben in der Todesangst des Trommelfeuers Gott um Hilfe gebeten!
Die Heilung durch Gott, die Heilung durch den Glauben, bedeutet nicht ohne Weiteres ein „Wunder“ im strengsten Sinne: Gott braucht weiter nichts zu tun als die „natürlichen“ Kräfte in Gang zu setzen, um die Heilung eintreten zu lassen; kein Naturgesetz braucht durchbrochen zu werden. Das Wunder besteht dann nur darin, daß Gott höchstpersönlich in das Leben des einzelnen Menschen eingreift, um ihn aus einer Gefahr zu befreien: Er gibt dem Herzen, das schon aufhört zu schlagen, einen neuen Impuls. Es ist ganz seltsam, daß die Hoffnung auf dieses Wunder, auf dieses persönliche Eingreifen Gottes, sich in Momenten der Gefahr auch bei Menschen erhebt, die sonst allem Wunderglauben fremd sind: Hier kann nur Gott helfen! Und nicht nur die Hoffnung auf das Wunder, sondern auch das Vertrauen auf das Wunder. Ich bin überzeugt, daß viele Menschen in schwerster Krankheit in voller Kenntnis der Zusammenhänge und der Gefahren, an diesen Gefahren doch vorbeisehen, weil sie das Wunderbare erwarten. Sie kennen ihren Zustand und sehen ihn doch nicht, weil ja die Möglichkeit des Wunders besteht — ja, ich glaube, daß nur ganz wenige Menschen im Momente höchster Gefahr nicht an irgendeiner verborgenen Stelle ihres Denken mit dem Wunder rechnen. Angst und Hoffnung führen hier zum Glauben, der als solcher schon Erleichterung der Quai verschafft. Aber nicht immer geht dieses Erlebnis sehr tief; denn wie oft ist mit der Überwindung der Gefahr auch der Glaube geschwunden und das Wunderbare zum Alltäglichen herabgesunken! Daß gerade in dem Alltäglichen oft das größte Wunder beschlossen ist (Lessing), das sieht der Mensch nicht leicht ein.
Es gibt auch Fälle, in denen der Tod nicht Angst auslöst, sondern herbeigesehnt wird. Vielleicht übertönt der Schmerz häufig die Todesangst und läßt nur noch einen Wunsch übrig: Aufhören des Schmerzes. Hier erhebt sich das Problem der Euthanasie, der Abkürzung des Leidens, das wiederholt in der wissenschaftlichen oder in der schönen Literatur behandelt worden ist. Zum anderen aber gibt es Fälle, in denen auch ohne große Leiden der Tod herbeigesehnt wird, weil er als Eingang in das Reich Gottes erlebt wird, als Vereinigung mit Gott (Auch diese Fälle sind keineswegs selten, vielleicht in katholischen Kreisen häufiger als in anderen.)
Es muß des weiteren bemerkt werden, daß keineswegs nur der Gedanke an den Tod Angst auszulösen vermag, sondern daß auch schon der Gedanke an eine Verschlimmerung des Leidens, an Schmerzen, an die Notwendigkeit von ernsteren Operationen nicht selten Angsterlebnisse im Gefolge hat. Und jede Angst kann zu dem Wunsche nach „übernatürlicher“ Hilfe, zu dem Vertrauen auf diese führen. Ja auch ohne Angst überhaupt ist dieser Weg offen: Gott soll helfen, wo menschliche Hilfe versagt. Überall hier handelt es sich um ein mehr naives Verhalten, das aber in Gefahrsituationen auch bei Menschen, die sonst alles andere als naiv sind, zu beobachten ist, um eine Haltung, der die ganze Problematik des Lebens und der Krankheit überhaupt nicht zum Bewußtsein kommt, für die einzig und allein die Hilfsbedürftigkeit den Ausschlag gibt. Es ist das eine Stufe, über die zahlreiche Menschen nicht hinauskommen: Angst und Hoffnung führen zum Glauben. Aber muß er deshalb schon eine Illusion sein?
V.
Wir schleppen alle aus unserer Kindheit merkwürdige Vorstellungen von Gott mit uns herum. Gott war uns das Wesen, vor dem man sich nicht verbergen kann, das jede unserer Handlungen sieht und das uns Lohn und Strafe zuteil werden läßt. Die Welt war eine Art Rechenexempel, das aufging: der „Böse“ war seiner Strafe ebenso sicher wie der „Gute“ seines Lohnes. Im Märchen lebt die gleiche Vorstellung: Gott belohnt den gutherzigen Armen und straft den hartherzigen Reichen. Auch die Bibel kennt diese Gedankengänge, wenn sie sich in manchen Abschnitten auch über sie erhebt: Joseph, zu Ehre und Ansehen gekommen, vergilt seinen Brüdern nicht Gleiches mit Gleichem, er prüft sie, aber er straft sie nicht. Das Buch Hiob steht hoch über dem Lohn-Strafeprinzip. Aber eine Überlieferung sagt auch hier — ich entnehme diese Stelle dem Buch von Fleg, Moise ((Edmond Fleg, Moise (Les Vies légendaires, 1), Paris, Gallimard, p. 16.)) —: Als Bileam dem Pharao riet, die neugeborenen Knaben auszusetzen, da habe Pharao den Hiob um seine Meinung befragt, aber Hiob habe aus Furcht vor dem Zorn Pharaos, geschwiegen. Deshalb habe das Leid ihn getroffen.
Wir alle tragen etwas von dieser Vorstellung in uns; Vergehen und Strafe gehörten zusammen, und das Leid könne, ja müsse Strafe sein für irgendwelche Verfehlungen. Auch wenn wir diese Gedanken weit von uns weisen, im Unbewußten bestehen sie, von daher wirken sie. Irgendwie leidet jeder Mensch an Schuldgefühlen, wie keiner frei von Verfehlungen ist. Freilich, die Schuldgefühle wurzeln, wie noch zu zeigen sein wird, tiefer.
Ich habe unter den vielen Kranken, die ich sah, kaum einen getroffen, der sich nicht, und wenn auch nur für einen kurzen Moment, die Frage vorgelegt hätte: Weshalb muß mich diese Krankheit, dieses Leid, dieses Schicksal treffen, gerade mich; ich bin doch auch nicht schlechter als andere, denen es gut geht? Mag der aufgeklärte Kranke sich auch hinterher die Antwort geben: ich bin krank, weil die Bazillen sich in meinem Organismus eingenistet haben und weil ich ihnen nicht den notwendigen Widerstand entgegenzusetzen imstande bin — womit er zu dem naturwissenschaftlichen Weltbild zurückkehrt — er hat, und wenn auch nur für Augenblicke, eine andere Fragestellung zugelassen. Krankheit gilt hier als etwas, für das der Mensch irgendwie verantwortlich ist, und zwar moralisch verantwortlich, was zusammenhängt mit der Schuld, die er begangen hat und für die er verantwortlich gemacht wird. Es ist die Vorstellung einer ausgleichenden Gerechtigkeit, die hier wirkt, eine Vorstellung, die eine der stärksten Stützen des religiösen Glaubens, vor allem des Glaubens an die persönliche Unsterblichkeit ist. Denn schon oberflächlicher Beobachtung zeigt sich, daß auf Erden durchaus nicht nur der „Schlechte“ dulden muß, sondern daß der „Gute“ nicht minder Qualen leidet.
Die Krankheit, die den Menschen aus seiner gewohnten Umgebung herauslöst und ihm Zeit läßt zum Grübeln, macht ihn bereit, rückwärtsschauend die Vergangenheit zu durchforschen. Er erinnert sich dieser oder jener Handlang, die nicht hätte sein sollen, und die quälenden Gefühle, die damals sein Tun begleiteten, werden erneut erlebt. Selbstvorwürfe können wieder lebendig werden, und dann stellt leicht die weiterwirkende Gottesvorstellung der Kinderjahre die Brücke her zum Leid der Gegenwart. Gewiß ein naives, primitives Verhalten, besonders deshalb, weil auch hier wieder Gott in jedes einzelne Leben höchst persönlich eingreifen muß; aber das Primitive lebt irgendwie doch in uns allen. Vielleicht läßt die Krankheit zum ersten Male intensive Schuldgefühle im Menschen rege werden; nicht wenige finden hier zum ersten Male die Zeit zur Selbstprüfung.
Das mag, zum Teil wenigstens, auch damit Zusammenhängen, daß die normale Vitalität stark beeinträchtigt ist und daß der Mensch sich überhaupt über Dinge, über die er sonst achtlos hinweggehen würde, mehr Gedanken macht. Doch ein anderer Faktor kommt hinzu: das Leben, das vor dem Kranken liegt, drängt sich auf eine kürzere Frist zusammen; damit erhält aber auch die Vergangenheit eine ganz andere Bedeutung. Wer wenig von der Zukunft zu erwarten hat, lebt mehr in der Vergangenheit; eine begangene Schuld erscheint schwerer, weil weniger Möglichkeit gegeben ist, sie zu sühnen. Das ist auch da möglich, wo keine Angst vor himmlischen Strafen besteht; ein Drang nach Reinheit, nach Vollkommenheit, wie er in uns sich deutlich zu regen vermag, scheint mir das Ausschlaggebende zu sein.
Man hat so oft auf den Zusammenhang zwischen dem Ablauf der organischen Krankheit und dem seelischen Zustand des Kranken, und zwar besonders bei der Tuberkulose, hingewiesen. Niemand bestreitet heute mehr, daß die Krankheit oft in Perioden der Verstimmung und der Niedergeschlagenheit Fortschritte macht. ((Ich habe darauf besonders hingewiesen in meinem Buche „Die Psyche des Lungenkranken“ (Halle a.S., Carl Marhold 1925).)) Es sind nicht immer durch äußere Einwirkungen hervorgerufene Aufregungen, die den Kranken bedrücken, häufig sind es selbstquälerische Gedanken, die mit den Schuldgefühlen in engstem Zusammenhang stehen. Deshalb sind die Schuldgefühle, wo sie bestehen und eine gewisse Stärke besitzen, für den Ablauf der Erkrankung keineswegs gleichgültig, und der alte Satz eines erfahrenen Tuberkulosearztes, daß der Kranke oft weniger an seiner Tuberkulose als an seinem Charakter stirbt, besitzt auch heute noch seine Gültigkeit. Besonders verhängnisvoll für den Kranken ist es, wenn er sich selbst Bußen und Strafen auf erlegt, um seine Schuld zu sühnen; dann kann die Krankheit sich rasch ausbreiten. Gewiß sind diese extremen Fälle höchst selten, aber angedeutet sind Erlebnisse der hier berührten Art ungemein häufig. Wir wissen von ihnen so wenig, weil die meisten Menschen sich scheuen, über sie zu reden, und es bedarf schon einer sehr engen persönlichen Fühlung mit ihnen, damit sie sprechen.
Vielleicht wird man hier von einem kranken, überstrengen Gewissen reden. Und an dieser Stelle setzt die Kritik der Psychoanalyse ein; sie sucht die Schuldgefühle zurückzuführen auf ein zu strenges Über-Ich, das seinen Ursprung äußeren Einflüssen in der Kindheit, den Drohungen und Strafen des Vaters verdankt. Das Gewissen ist nichts als die Fortdauer jener äußeren Stimme, die gleichsam in den Menschen, in sein Ich hineingewandert ist Es kann ja keinem Zweifel unterliegen, daß eine große Anzahl von den Werturteilen, die der Mensch abgibt, von den Maßstäben, die er an sein Handeln anlegt, in ihrer inhaltlichen Ausprägung von außen stammt; nur so ist überhaupt die Übereinstimmung der sittlichen Überzeugungen in einer bestimmten Schicht, oder innerhalb eines Zeitabschnittes und Kulturkreises möglich. Man könnte indessen zweifeln, ob alle sittlichen Überzeugungen restlos auf äußere Einwirkungen, auf den gebietenden und verbietenden, drohenden und strafenden Vater zurückgehen. Aber seihst wenn man dies zugeben wollte, bleibt noch immer die andere, wesentlich schwerer wiegende Frage, wie es überhaupt möglich ist, daß der Mensch zur Bildung moralischer Überzeugungen und eines Gewissens kommen kann, ganz gleich wie die Forderungen inhaltlich auch beschaffen sein mögen. Dafür, daß sich bei ihm überhaupt so etwas wie ein Gewissen bilden kann, müssen doch die Bedingungen in ihm bereit liegen. Mögen auch Triebverdrängungen und Sublimierungen den Inhalt einzelner Forderungen mitbestimmen — daß Eindrücke und Erlebnisse überhaupt in dieser Weise „bearbeitet“ werden können, muß von anderen Momenten abhängen.
Das Gefühl der Schuld ist dem Menschen eigentümlich, die Krankheit kann es gelegentlich wecken und verschärfen, weil die Krankheit irgendwie als schuldgebunden erlebt werden kann. Dann ist ein zweifaches Verhalten möglich: Die Krankheit, jedes Leid kann hingenommen werden, geduldig und ergeben, in einer Erlebnisweise, die vielleicht dem russischen Menschen in besonderem Maße liegt, der, wie es bei Dostojewski heißt, das „Kreuz auf sich nimmt“. Oder aber es kann im Menschen der Wunsch entstehen nach einer inneren Wandlung, durch die er das Verzeihen Gottes erreicht, eine Wandlung, zu der Gott helfen muß, den er sich durch Reue und durch Gebet geneigt machen kann. Dann dämmert in dem Menschen etwas auf von dem Glauben an Gott, der nicht nur der strenge Richter ist, sondern auch der Allgütige, Allverzeihende, der den Menschen, der sich zu ihm bekennt, wieder aufnimmt.
VI.
Das Problem der Schuld kann aber noch wesentlich anders, reifer gefaßt werden. Die Schuld, für die der Mensch leidet, ist nicht mehr eine persönliche Schuld, sondern sie ist etwas, was mit dem Wesen des Menschen aufs engste verknüpft ist. Schon das Alte Testament erkennt dies an: Denn was besagt jenes großartige Bild von der Vertreibung der ersten Menschen aus dem Paradies anders, als daß um deren Verschulden willen die Menschheit hinausgestoßen wird in eine Welt, in der das Leid existiert Im Paradies wurde der Mensch nicht unter Schmerzen geboren, gab es weder Krankheit noch Tod. Noch schärfer faßt das Christentum den hier berührten Tatbestand unter dem Begriff der Erbsünde, die die ersten Menschen durch die Verletzung des göttlichen Gebotes begangen haben, und die in jeder Menschenseele fortlebt Zugleich mit der Erbsünde lebt im Menschen aber auch die Sehnsucht nach der Erlösung.
Allein in dieser Form erscheint uns die Lösung des Problems nicht annehmbar. Weshalb muß der einzelne Mensch, der Mensch von heute wegen einer Schuld leiden, die er selbst nicht begangen hat, die Jahrtausende zurückliegt. Ist diese Auffassung überhaupt noch mit dem Bilde eines allgütigen Gottes vereinbar? Sie kann nur aus der gesamten Vorstellungswelt jener entfernten Zeiten verstanden werden, in denen der Mensch überhaupt nicht als Individuum lebte, sondern immer nur in „irgendeiner Form der Allgemeinheit“ (Jakob Burckhardt), in denen die Gesamtheit alles, das Individuum aber nichts war, in denen sich die Schuld des einzelnen innerhalb der Gruppe, der er zugehört, forterbte. Aber richtig gesehen an diesem Bilde ist etwas anderes: Das Leben ist voller Leiden; aber es ist nicht mehr die Schuld des einzelnen, daß er an diesem Leiden teil hat, sondern das Leid gehört zum Leben, es ist eines seiner Wesensbestandteile, es ist tief in der Natur des Menschen verankert. Wir sind in diese Welt hineingestellt, und wir unterliegen den in ihr wirksamen Mächten. Diese Mächte sind es, die uns in ihren Bann ziehen und die uns in Schuld verstricken. Wir sind für unser Leiden nicht mehr persönlich verantwortlich.
Überall, wohin wir blicken, herrscht das Leid, von dem die Krankheit nur einen Teil bildet. Und gerade das wird dem Kranken — besonders dem Lungenkranken, der lange in Heilstätten, Sanatorien, Krankenpensionen, an Kurorten, wo sich Hunderte und Tausende von Kranken zusammenfinden, so deutlich: Junge Menschen, mitten aus der Arbeit herausgerissen, um Jugend und Leben betrogen, Menschen, die eben begannen, in Arbeit und Beruf Fuß zu fassen, sind hier festgehalten; Ehegatten sind voneinander getrennt, Mütter den Kindern entzogen. Schwere wirtschaftliche Sorgen, Sorgen um die Zukunft drücken nieder. Überall Schmerz und Leid, und erwartetes und unerwartetes Sterben. In jedem Raum vollzieht sich ein besonderes, höchst persönliches, und doch auch wieder allgemeines Schicksal.
Gewiß lassen sich zahlreiche Leiden beseitigen, aber neue Leiden entstehen, und das Leid als solches kann nicht aus der Welt geschafft werden. Der Mensch fühlt sich preisgegeben; er ist nicht mehr Spieler, er spürt, daß sich ein Schicksal an ihm vollzieht. Wir sind und bleiben Gefangene, die, in diesem Sinne, ausgestoßen sind und bleiben aus dem Paradies — in denen aber doch, gerade im Leid und im Gefangensein ungeschwächt die Sehnsucht nach Freiheit, Ewigkeit, Glück, Frieden lebt. In Platos Welt hat die Seele vor ihrer Verbindung mit dem Leib die ewigen Ideen geschaut, und die Sehnsucht, die die Seele in dieser Welt des Scheins empfindet, ist eine Rückerinnerung an die Ideen. Hier wie dort klafft ein Zwiespalt, ein tiefer Bruch, der den Menschen peinigt und das Verlangen nach dem Ewigen weckt.
Wir fühlen, daß durch unsere Natur ein Riß geht. Die Krankheit, das Leid gehört untrennbar zum Leben, ist eines seiner Wesensbestandteile. Und doch erscheint es auch wieder etwas dem Leben Fremdes — etwas, was nicht sein soll. Wir erleben deutlich die Norm, das Gebot, das Sollen, und fühlen uns doch immer -wieder zurückgehalten, ihm nachzuleben. Irgendetwas in uns hemmt uns. Wir spüren, daß die Normen nicht lediglich Tatsachen unseres Bewußtseins sind; sie erscheinen uns als etwas Fremdes, das von irgendwo andersher stammt und unserem Bewußtsein gegenübersteht. Was wir auch tun mögen, immer bleibt unser Tun hinter dem Anspruch zurück, der an uns gestellt wird, unser bestes Wollen wird durchkreuzt durch andere Motive. Auch hier wieder spürt der Kranke den Anspruch besonders deutlich, weil die vor ihm liegende Zeit zusammenschrumpft und weil die Kräfte geschwächt sind. Es bleibt so vieles zu tun und zu sagen, und alles, was wir tun und sagen, entspricht nicht dem Bild, das wir in uns tragen. Wir fühlen, daß wir nicht anders können und haben doch die Sehnsucht nach dem anderen. Wir fühlen uns getrieben und haben doch das sichere Gefühl, irgendwie mit an der Verantwortung zu tragen. Daß wir uns dieser Verantwortung immer wieder zu entziehen scheinen, läßt das Gefühl der Schuld in uns wach werden. Der ewige Zwiespalt aber, an dem wir leiden, erzeugt in uns den Gedanken, daß die Kräfte, denen wir hier und jetzt unterworfen sind, Gegenkräfte haben müssen, daß dem Zustand des Leidens ein anderer entsprechen, daß unsere Sehnsucht sich auf etwas Wirkliches beziehen muß.
Eng mit dem eben Erörterten verquickt ist eine weitere Frage, die Frage nach dem Sinne des Leidens: Weshalb muß ich leiden, was bedeutet das Leiden für mich, was bedeutet es überhaupt? Die naturalistische Weltansicht leugnet jeden Sinn der Welt, für sie ist auch die Frage nach dem Sinn des Leidens gegenstandslos. Der Kranke aber stellt diese Frage, mag sie auch vom Standpunkt seiner Weltanschauung aus inkonsequent sein. Nun muß man sich aber darüber im Klaren sein, daß die Frage nach dem Sinn des Leidens weitere Fragen in sich schließt. Das Leid kann nur dann sinnvoll sein, wenn das Leben als Ganzes einen Sinn hat. Und in Wahrheit steckt hinter der Frage nach dem Sinn des Leidens immer die Frage nach dem Sinn des Lebens. Was hat das Leiden für einen Sinn heißt letztlich doch: Was hat ein Leben voller Leiden für einen Sinn, eine Frage, die immer wieder gestellt wird. Weshalb leben wir überhaupt weiter, weshalb nehmen wir Schmerz und Leid, Sorgen und alles Schwere auf uns, wenn das Leben sinnlos ist? ((Vergl. hierzu die ergreifenden Ausführungen, die Tolstoi in seiner kleinen Schrift „Meine Beichte“ (Jena, Eugen Diederichs) macht.)) Hat es überhaupt einen Sinn, das Ende hinauszuschieben durch Kuren und Operationen? Wenn auch die Reflektion des Menschen nicht selten den Sinn des Lebens negiert — sein Verhalten bejaht ihn!
Nun findet aber die Sinnfrage in dem Fragen nach dem Sinn des Lebens keineswegs ihren Abschluß. Das Leben kann seinen Sinn nicht in sich selbst tragen, es kann ihn nur von etwas anderem empfangen, von etwas, was jenseits des Lebens steht. ((Vergl. hierzu auch Arthur Liebert, „Die geistige Krisis der Gegenwart“. Berlin 1922.)) So kommen wir in immer höhere Sinnschichten, und alles Fragen kommt zu seinem Ende erst im Glauben: Gott ist der letzte und höchste Sinn alles Seins.
Die Krankheit, das Leiden, das die ganze Existenz des Menschen in Frage stellt, scheint dem, was wir als den Sinn des Lebens fühlen, entgegengerichtet, sie scheint nur „von dieser Welt“, in der der Lebenssinn nicht zu finden ist. Der Zwiespalt, der durch unsere ganze Natur hindurchgeht, offenbart sich auch hier. Das Leiden wird als etwas empfunden, was uns überall hemmt und hindert; unsere Gedanken kreisen um sie, sind eingeengt, wir können nicht handeln, wir müssen auf uns selbst Rücksicht nehmen, bleiben an unserem Ich haften und wollen doch von ihm loskommen, wir fühlen in uns eine Bestimmung, wir fühlen auch, daß nicht selten das, was uns als quäl- und leidvoll im Leben erschienen ist, uns dieser Bestimmung näher gebracht hat als vieles andere. Unser Dasein kann sich unmöglich im Leiden erschöpfen, es muß etwas anderes geben, dem unsere Sehnsucht gilt. In den Sagen und Mythen aller Völker kommt dies zum Ausdruck: Der Held kämpft gegen die düsteren Mächte, Gott gegen den Teufel, das Licht gegen die Finsternis. Was hier als Vision geschaut ist, ist Symbol, Ausdruck eines Urerlebnisses, das dem Wesen des Menschen verhaftet ist. Wir haben Augen, um zu sehen, Ohren, um zu hören — die Sinnesorgane weisen auf etwas außerhalb ihrer Befindliches, die Struktur unseres Organismus entspricht der Struktur der Welt; sollte nicht die Sehnsucht, die so tief im Menschen verankert ist, auch auf etwas außerhalb des Menschen Befindliches weisen?
VII.
Es wäre falsch, für diese Sehnsucht und für die Überzeugung, daß ihr irgendetwas Objektives entsprechen müsse, die Angst vor dem Tode verantwortlich machen zu wollen. Vielleicht ist die Angst vor dem Tode überhaupt etwas, was den gesunden Menschen oder den Menschen, dem der Tod fern ist, mehr quält als den, der sich unmittelbar dem Tode gegenübersieht. Es gibt Situationen, in denen der Tod nahe zu sein scheint: Der Kranke fühlt die Kräfte hinschwinden, das Blut zurückweichen, die Herztätigkeit erlöschen, das Leben entweichen — und gerade in diesen Momenten kann die Angst vor dem Tode auch bei solchen Menschen, denen sie sonst keineswegs fremd ist, fehlen, ja sie fühlen Gleichgültigkeit und Ruhe. ((Vergl. hierzu meine in Kürze erscheinende Abhandlung: „Zur Psychologie des Sterbens“.)) Auch Wilhelm Wundt berichtet das in seinen Lebenserinnerungen von sich selbst aus jungen Jahren. Die Angst kommt, wie bei dem Reiter über den Bodensee, erst hinterher. Naturgemäß gibt es auch Menschen, die sich anders verhalten, wie es ja überhaupt keine allgemeingültige Formel für die Haltung des Menschen in den verschiedenartigen Verhältnissen gibt, jedoch müssen Todesgefahr und Todesangst nicht immer miteinander verknüpft sein.
Aber der Gedanke an den Tod beschäftigt den Kranken doch mehr als den Gesunden, er hat größeren Einfluß auf seine Lebenshaltung. Simmel hat einmal treffend ausgeführt, daß jene Vorstellung vom Tode, die in ihm ein von außen herantretendes Ereignis oder lediglich das Ende des Lebens sieht, vollkommen irrig sei. Der Tod ist nicht der Sensenmann, der an die Tür klopft und sein Opfer holt, nicht die Parzen durchtrennen den Lebensfaden, der bis dahin gesponnen worden ist, vielmehr wohnt der Tod von Anfang an dem Leben inne, er gibt dem Leben sein Gepräge. Wenn Voltaire sagt, Geborenwerden sei ein Verbrechen, auf dem die Todesstrafe stehe, so steht eben das Verbrechen am Anfang des Lebens und das ganze Leben leidet unter seinem Druck. Und wenn Schleich sagt, daß das eigentliche Problem nicht das des Lebens, sondern das des Todes sei, so gilt dies nicht nur für das biologische Geschehen, sondern auch für jenen geistigen Ablauf, den wir eben unser Leben nennen, d. h. den Inbegriff unseres Erlebens.
Ohne den Tod wäre das Leben von Grund auf anders. Währte das Leben ewig, dann würde kein Moment, ja auch kein Ereignis seine Bedeutung besitzen. Was heute unterlassen wird, könnte morgen nachgeholt werden, was wir an Möglichkeiten versäumt haben, wäre nicht endgültig vorüber, jedes Unterlassen, jeder Fehler könnte ausgeglichen, jedes Vergehen gesühnt werden, die Zeit, die uns zur Verfügung stünde, wäre unendlich. Erst dadurch, daß dem Leben ein Ziel gesetzt ist, und daß der Mensch nicht weiß, wann für ihn der Augenblick des Todes gekommen sein wird, gewinnt der einzelne Augenblick, gewinnt auch die einzelne Handlung Wert und Bedeutung: Was heute nicht geschieht, kann ewig ungeschehen bleiben, denn dauernd treten neue Anforderungen an uns heran, und wir wissen nicht, ob wir morgen noch ihnen werden genügen können. Mit unserem Wollen kommen wir an kein Ende wie mit unserem Tun, es bleibt uns immer versagt, das Letzte auszusprechen und zu tun, weil sich hinter jedem Gesagten und Getanen neue Aufgaben türmen. Erst dadurch, daß der Tod — nicht hinter oder über, sondern — in unserem Leben steht, gewinnt das Leben seine Unruhe und seine Unsicherheit, fühlen wir uns gedrängt, den Augenblick zu nutzen, der für uns einen unermeßlichen Wert gewinnt. Jedes Aufschieben des zu Tuenden wird zur Schuld, die nicht mehr gesühnt werden kann, jede versäumte Möglichkeit ist endgültig dahin. Und auch hier wieder fühlen wir den Zwiespalt zwischen dem Nicht-anders-können und der Verantwortung, die wir haben. Dürften wir das Leben noch einmal unter den gleichen Voraussetzungen beginnen, so würden wir es unserer Meinung nach anders gestalten — aber gleichzeitig fühlen wir, daß wir gebunden sind, und daß wir es doch nicht anders hätten gestalten können. Erst der Tod läßt jenes Gefühl des Nichtfertig-Seins, des Nichtfertig-Werdens in uns reifen. Nicht nur unsere Aufgabe: im Leben bleibt unvollendet, auch wir selbst bleiben es.
Jedes Leben ist ungewiß, unsicher und unruhig. Jeder, auch der Gesündeste weiß nicht, ob er die nächste Stunde überleben wird — aber er rechnet damit, er glaubt daran ebenso fest wie er daran glaubt, daß morgen, wieder die Sonne auf geben wird. Wer aber lebensbedrohender Krankheit unterliegt, die ihn dauernd in all seinem Tun hemmt, der steht unter einem ganz, anderen Druck: Das Leiden kann sich jeden Augenblick verschlimmern, Unvorhergesehenes kann eintreten, er kann zusammenbrechen. Der Tod, der für den gesunden, lebenskräftigen Menschen immer noch in einer gewissen Feme steht, rückt in wesentlich greifbare Nähe. Dadurch wächst die Unsicherheit und Ungewißheit — oft ins Groteske. Jede Lebensminute gewinnt einen ganz, anderen Akzent, jede einzelne Handlung wird von einer anderen Bedeutung.. Der Mensch hat gearbeitet und gestrebt, um irgendein Ziel zu erreichen; endlich ist er ihm nahe, da wirft ihn die Krankheit nieder, und das Ziel scheint nicht nur ferner denn je, sondern für alle Zeiten entschwunden. Der Kranke hat sich erholt, glaubt endlich das Schlimmste überstanden zu haben, da kommt ein schwerer Rückfall. Er ist in seinem Lebensgefühl so unmittelbar bedroht, daß er überhaupt nicht mehr wagt, irgendwelche Pläne zu machen, denn er lebt in der Furcht, daß die Krankheit sie doch nicht zur Ausführung wird kommen lassen. Der Mensch zehrt aber zum großen Teil von seinen Plänen, sie helfen ihm auch über augenblickliche Schwierigkeiten hinweg — wovon kann aber der Kranke zehren?
Die Spanne Zeit, die dem Menschen gelassen ist, schrumpft zusammen, aber die Aufgaben bleiben. Der gerade bei dem Tuberkulösen so oft bemerkte Lebens- und Reizhunger ist nichts als eine Kompensationserscheinung: Mitnehmen und genießen, was das Leben eben noch bietet, so lange man noch zu genießen fähig ist; nicht über das Unmittelbare hinaussehen, um nicht von den quälenden Gedanken erdrückt zu werden! Und doch drängen sich diese immer wieder auf.
Das Leben erscheint in einem ganz anderen Licht. Vielleicht muß man, um es richtig sehen zu können, zu ihm eine gewisse Distanz haben. Wer mitten im Tanzsaal steht und sich mit den Tanzenden bewegt, ist befangen und wird sich der Oberflächlichkeit und Eitelkeit des Treibens nicht bewußt; wer vom Balkon aus auf die Tanzenden herabsieht, schaut in ein Getriebe und Geschiebe, das unsinnig anmutet. Nur der Nüchterne bemerkt die Trunkenheit der anderen. Wer im Banne des Lebens sich befindet, muß handeln, muß sich zur Wehr setzen, muß sich drängen lassen und selbst wieder drängen. Erst wer außerhalb des Lebens steht, kann das Leben in seiner Flachheit und Eitelkeit, die Menschen in ihrer wirklichen Gestalt sehen. Der Kranke, der am Leben nicht mehr vollen Anteil hat, der ihm fernstehen muß, der sich dem Tode näher weiß als die übrigen, erwirbt einen schärferen Blick für das Leben. Alles gewinnt für ihn ein ganz anderes Gesicht, immer wieder sieht er, daß das meiste, wonach Menschen streben — Besitz, Ansehen, Macht, Ehre, Genuß — einer ernsten Prüfung nicht standhalten kann. Alles erscheint vergänglich, und es erhebt sich stärker als sonst die Sehnsucht nach dem Ewigen. Zugleich mit ihr spürt aber der Mensch doch auch, daß das Leben sich nicht in dem erschöpfen kann, was wir gewöhnlich „das Leben“ nennen. Es drängt sich doch immer wieder die Frage auf: war das alles, kann das alles sein, eine Frage, die nicht nur die Sehnsucht nach „dem anderen“ weckt, sondern uns dieses „andere“ auch ahnen läßt. Es ist nicht mehr Angst oder Hoffnung, die Vorstellung von Strafe oder Lohn, die den Menschen von hier aus zum Glauheu führt, sondern das unableitbare Erlebnis der Sinnhaftigkeit alles Lebens. Und mit diesem in engstem Zusammenhang steht ein anderes Erlebnis; der Mensch erlebt nicht nur Normen und Ideale, sondern auch das Sollen, die Forderung, ihnen nachzuleben. Solange er das nicht tut, ist nicht „sein Friede voll“; der Drang nach Vollkommenheit ist im Menschen vorhanden und, wie mir scheint, nicht weiter auflösbar.
Unser Fragen nach den Ursachen des Geschehens führt uns immer weiter, eine letzte Ursache zu suchen. Kant suchte diese Frage in der Weise zu lösen, daß er den Kausalnexus von der äußeren Wirklichkeit gleichsam in das Subjekt verlegt, in ihm nur eine Kategorie des Denkens sieht Aber so müssen wir fragen, sollte die Struktur unseres Bewußtseins nicht der Struktur der Welt, der „Wirklichkeit“ entsprechen? Wir alle haben das Erlebnis der Sinnhaftigkeit, das sich uns in Leid und Krankheit besonders deutlich aufdrängt, das ähnlich wie das Kausalproblem in immer höhere „Sinnschichten“ führt und uns nach einem letzten und höchsten Sinn des Lebens suchen läßt, den Drang nach Vollkommenheit — sollte nicht auch hierin die Struktur unseres Bewußtseins der Struktur der Welt entsprechen?
VIII.
Was das Leben bietet, wird von den meisten Menschen als selbstverständlich hingenommen. Um zu einer anderen Einstellung zu kommen, bedarf es dreierlei: der Muße, einer gewissen Distanz vom Leben und einer Erschütterung seiner Grundlagen. Diese Erschütterung aller Lebensgrundlagen kann die ernste und schwere Erkrankung bringen; sie reißt zugleich den Menschen aus seinem bisherigen Leben, aus dem Kreise der Freunde und Arbeitsgefährten, der gewohnten Berufstätigkeit heraus und schafft dadurch eine Distanz und eine Muße, die der tätige Mensch nicht findet. Und dann sind es eben immer wieder die gleichen, die uralten, ewig gleichen Fragen, die sich dem Menschen aufdrängen: die Frage nach dem Ursprung alles Seins und die Frage nach seinem Sinn — nach dem Sinn unseres Lebens im besonderen.
Wenn Schiller sagt, der Tod sei ein ganz allgemeines Schicksal, also könne er ein Übel nicht sein, so besticht dieser Satz wohl zunächst, aber er scheint doch mehr ein Selbsttrost des schwer mit der Krankheit ringenden Dichters als eine allgemeine Wahrheit zu sein. Der Tod wird, darüber dürfen uns auch vereinzelte Ausnahmen nicht täuschen, von dem Menschen als ein Übel, als ein Leid — ja vielleicht als das Übel schlechthin empfunden. Und doch: Wie oft drängt sich dem Kranken in seiner Ungeduld und Unsicherheit die Frage auf, ob es überhaupt einen Sinn habe, das Leid zu ertragen, alle Mühen der Kur auf sich zu nehmen, nur um das Leben zu verlängern; denn bestenfalls schiebt er ein Ende, das doch unweigerlich kommen wird, hinaus; weshalb erst all das Leid noch, all das Schwere, Bedrückende?
Hierin drücken sich zwei Grundfragen aus, die wir alle stellen: die Seinsfrage und die Sinnfrage, die Frage nach dem Wesen des Lebens und die Frage nach seinem Sinn. Die Frage nach dem Wesen des Lebens und nach seinen Gesetzen, nach seinen Ursachen, nach den Ursachen auch des Sterbens führt uns zu einer Überprüfung dessen, was wir wissen und was wir wissen können. Es war oben schon davon die Rede, daß das Weltbild, welches die Naturwissenschaft zeichnet, nie die Wirklichkeit restlos widerzuspiegeln vermag. Es ist hier nicht der Ort, näher auf die Enge und Begrenztheit unseres Wissens einzugehen, die dem Kranken vielleicht besonders bewußt wird.
Der Kranke fühlt deutlicher noch als jeder andere, daß jedes Wissen um das Kommende uns versagt ist: Wir glauben, daß wir den morgigen Tag erleben werden. Aber weil der Kranke gefährdeter ist als der Gesunde rechnet er mehr mit der Ungewißheit; sie macht es ihm, wie wir früher zeigten, schwer, Pläne zu fassen, sie läßt ihn für den Tag leben. Der schwindsüchtige Student in Dostojewskis „Idiot“ fühlt gerade diese Seite der Ungewißheit besonders deutlich. Was wissen wir darüber, ob wir geheilt werden oder ob das Ende nahe ist? Es gibt in jedem Stadium der Krankheit unvorhergesehene Zwischenfälle, die rasch zum Tode führen und ebenso unerwarteten Stillstand, Rückbildungen bringen können, die praktisch als Heilungen anzusehen sind. Jeder Arzt weiß das, und jeder Kranke ist sich dessen bewußt. Die meisten vertrauen, auch in der schwersten Verfassung, auf eine günstige Wendung. Was sie bewirkt, was dem Leben einen neuen Impuls gibt — wir wissen es nicht.
Die andere Frage, die Frage nach dem Sinn des Lebens, führt noch viel weniger zu einer sicheren Einsicht. Aber gerade im Leiden drängt sich die Frage nach dem Sinn des Lebens besonders deutlich auf. Wir sind hinausgestoßen in eine Welt des Leidens, wir fühlen das Leid überall; aber kann der Sinn unseres Lebens, des Lebens überhaupt, der Welt im Leid bestehen, ist es möglich, daß wir dahin leben, dem Leid preisgegeben, nur um zu leiden? Wäre das Leben mit dieser Grundeinstellung überhaupt tragbar? Wir sehen wohl im Leben nicht wenige Menschen, die jeden Sinn des Lebens leugnen, aber auch sie versuchen, ihrem eigenen Leben irgendeinen Sinn zu geben. Wir erinnern an das Goethesche Wort: „Das Leben ist noch nicht etwas, es ist nur die Gelegenheit, es zu etwas zu machen“. Nicht nur diese Gelegenheit fühlen wir, sondern auch die Notwendigkeit, die Forderung.
Das Leben erscheint eng begrenzt, der Kranke fühlt diese Grenze deutlicher. Vieles, dem er vorher Wert beimaß, tritt zurück, anderes, an dem er vorbeisah, tritt stärker hervor, Licht und Schatten verteilen sich anders. Irgendwie lebt in jedem die Angst, irgendwie hofft jeder auf das Wunderbare. Mehr denn je erscheinen Leben und Tod, erscheint die Welt als ein Geheimnis, mehr denn je fühlt sich der Mensch abhängig von Mächten, deren er nicht Herr werden kann. Mehr denn je aber steigt auch das Bewußtsein in ihm auf, daß diese Welt, die wir die Wirklichkeit nennen, nicht unsere Existenz erschöpft. In dem Drang nach Erkenntnis, in dem Erlebnis des Schönen, in dem Gefühl der Verantwortung und Verpflichtung, des Sollens, erschließt sich uns eine andere Wirklichkeit, an der wir irgendwie teilhaben; vor allem erleben wir diese Wirklichkeit aber in dem Drang zum Guten und in der aus diesem Drang geborenen Güte des anderen, der helfend in unser Leben eingreift.
Die tiefsten Einwirkungen, die wir empfangen, sind solche, die von anderen Menschen ausgehen. Zu den ergreifendsten Erlebnissen, zu jenen, die den Menschen vielleicht wie nichts mit dem Leid versöhnen können, gehört es, im Leiden wirkliche Hilfe zu finden, die nicht aus einem persönlichen Interesse des Helfenden erwächst, sondern eine interessenfreie, wahrhaft menschliche Hilfe, die nichts anderem entspringt als dem Bedürfnis zu helfen.
Niemand ist für Hilfsbereitschaft in gleichem Maße empfänglich wie der Kranke. Die Sorge um die wirtschaftliche Existenz quält ihn, er weiß nicht, ob er sich und die Seinen erhalten und das zur Gesundung erforderliche tun kann; da springt irgend jemand helfend ein. Er ist der Verzweiflung nahe, da hat er Gelegenheit, sich auszusprechen, seine Sorgen jemandem anzuvertrauen; ein verständnisvolles und teilnehmendes Wort, ein von Erfahrung und Güte eingegebener Rat hilft ihm zur Überwindung der Verzweiflung, gibt ihm neuen Mut, er fühlt sich trostlos und unruhig, die Gegenwart des anderen reißt ihn aus seinem Grübeln heraus.
Es kommt ein Weiteres hinzu: Der Kranke fühlt sich einsam. Nun ist Einsamkeit überhaupt ein Gefühl, das der moderne Mensch in höherem Maße hat als der Mensch früherer Zeiten, der noch an die Scholle gebunden war und fest in einer Gemeinschaft stand. Wir alle sind bis zu einem gewissen Grade entwurzelt, und haben ein Heimweh, das schwer zu stillen ist. Aber beim Kranken ist dies vervielfältigt, besonders dann, wenn er aus der gewohnten Umgebung herausgelöst ist. Gewiß ist er mit anderen Menschen zusammen, aber mit Menschen, die ihm fremd sind und mit denen er wenig gemeinsam hat — außer der Krankheit. Aber sie gerade führt den Einzelnen dazu, sich mit sich selbst zu beschäftigen; irgendwo ist die Egozentrizität der Menschen so groß wie gerade an den Lungenkurorten, wo im Zentrum des ganzen Lebens die Krankheit steht. Das gemeinsame Leiden verbindet nicht, wie man annehmen sollte, es trennt vielmehr, es macht stumpf und gleichgültig. Und da ist es zu verstehen, wenn das Erlebnis der Güte besonders stark wirkt: niemand ist für sie empfänglicher als der Kranke.
Wir sehen im Leben so wenig von wahrer, echter Güte und von wirklichem Helfertum; schon dem Kinde wird oft vorgerechnet, was für es geschieht, wie viel Mühe es den Eltern bereitet, wieviel Kosten es verursacht und wie viel Dank es den Eltern schuldet. Leicht schleicht sich hier das Gefühl ein, daß alles, was die Eltern tun, Anlage eines Kapitals ist, das sie eines Tages mit Zinsen zurückverlangen werden. Das Kind lernt so nie den Wert der wirklichen um ihrer selbst willen getanen Liebestat kennen. Und wie selten begegnen wir im Leben einem Menschen, der in uns den Eindruck erweckt, daß menschliche Teilnahme und Wärme, menschliche Güte sein Tun leitet. Begegnen wir ihm, dann haben wir immer das Gefühl, daß hier etwas Anderes wirkt als das, was in den meisten Menschen lebendig ist, daß es etwas von dem offenbart, was wir als die Bestimmung des Menschen empfinden.
Dieses Helfertum ist auch da, wo sich der Helfende dessen nicht bewußt ist, wo er vielleicht ganz unreligiös — oder besser gesagt unkirchlich — lebt, in seinen tiefsten Wurzeln religiös. Wo es nichts anderes gibt, als diese Welt, die uns gefangen hält, da ist für echte Güte kein Platz, da geht jeder seinen Weg, verfolgt jeder seine Interessen, denen er auch dient, wenn er dem anderen hilft. Nur wo irgendeine Bestimmung im Leben empfunden wird, hat Güte Raum — Güte, die uns dieser Bestimmung entgegenbringt.
Wir haben uns allzusehr daran gewöhnt, den Menschen nur nach dem zu beurteilen, was er „leistet“, was er an Werken schafft. Aber aus der Ferne gesehen, die die Todesnähe schafft, versinkt der Wert vieler Leistungen. Gewiß ist und bleibt es unsere Pflicht, unsere täglichen Aufgaben zu er-
füllen, aber das Wesentliche liegt auch hier in der Gesinnung, aus der heraus sie erfüllt werden. Diese Gesinnung offenbart sich in ihrer ganzen Bedeutung jedoch erst da, wo es kein äußerlich sichtbares Werk mehr zu schaffen gilt,, sondern wo es heißt, sich als Mensch dem Menschen zu offenbaren.
Aus diesem Erleben fließen dem Kranken neue Kräfte zu, die ihn ablenken vom Alltäglichen und die Gewißheit in ihm reifen lassen, daß noch andere Kräfte am Werk sind als die, denen er unterliegt und die das Leid über uns bringen, Kräfte, in denen sich ein Leben spiegelt, das nicht von dieser Welt ist: Die menschliche Güte ist nur Teil und Abglanz einer größeren allumfassenden Güte und Liebe.
Durch alle scheinbare Sinnlosigkeit hindurch fühlen wir einen Sinn, eine Bestimmung, von der wir uns entfernen oder der wir entgegenreifen. Wir fühlen uns in engster Abhängigkeit von der Welt, von der wir nur einen Teil bilden und die ebensowenig sinnlos sein kann wie unser Leben.
Wir müssen uns davor hüten, in dem Glauben nichts zu sehen als einen Trost, als ein Beruhigungsmittel, das uns über unsere Ängste hinwegbringen soll. Der Glaube will, durch Zweifel und Kämpfe hindurch, immer wieder neu erworben werden, und er soll sich den Forderungen gegenüber, die an uns gestellt sind, bewähren.
Wir müssen uns auch davor hüten, das Leid zu rationalisieren; das tun wir, wenn wir es als Strafe oder als Mittel zur Läuterung unseres Wesens auffassen. Wir sehen nur, daß das Leid mit dem Leben, mit der Welt untrennbar verbunden ist, aber im übrigen erscheint es uns ebenso unverständlich wie Ursprung und Wesen der Welt. Wir kennen den Sinn des Lebens nicht und sollen ihn nicht von unserem menschlich-endlichen Standpunkt aus deuten. Es gibt für unser Erkennen und für die Sinndeutung eine Grenze, über die wir nicht hinauskommen. Hier beginnt die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen.