Wieder in die Altstadt

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Im Juli 1994 komme ich mit meinem Kollegen Sven wieder nach Israel. Wir sind zu zwei Konferenzen eingeladen, zu einem Treffen der Deutsch-Israelischen Forschungsgemeinschaft und anschließend zum Second Congress on Prejudice, Discrimination and Conflict. Beide, das Meeting und der Kongress finden in Jerusalem statt. Ich wusste es doch: „Next Year in Yerushalayim“ (übrigens ein traditioneller Wunsch am jüdischen Sederabend, dem ersten Abend des Pessachfestes)…

Von Wolfgang Frindte
Aus meinem israelischen Tagebuch

Sven und ich wohnen in einem schicken Hotel in der Jerusalemer Neustadt, relativ weit weg vom Zentrum. Am Tag vor der ersten Konferenz laufen wir den langen Weg zur Altstadt, gehen zum Kotel, zur Grabeskirche und anschließend auf den Tempelberg. Um unterwegs nicht unter Hunger leiden zu müssen, habe ich mir vom Hotelbuffet einige Äpfel, ein halbes Brot und ein großes Stück Käse genommen und ein Brotmesser ausgeliehen; natürlich mit der festen Absicht, dass Brotmesser auch wieder ins Hotel zurück zu bringen.

Wir treffen in der Altstadt auf Touristen, auf Einheimische, auf Gläubige aus aller Herren Länder; wir treffen eine bunte Welt. Sven ist ein großer, blonder, junger Mann, auf den das Stereotyp eines Südschweden ganz gut passt. Er trägt schwarze Jeans, ein weißes Muskelshirt, eine schmale sehr intellektuell wirkende Brille und genießt die bewundernden Blicke der israelischen Frauen. Ich trabe etwas neidisch hinter her, füge mich aber meinem Schicksal.

Am Kotel berührt ein frommer, älterer Jude meinen Kollegen Sven am Arm und flüstert ihm zu: „There’s a spiritual war. Be careful. They want to kill us all“. Es herrscht hier ein geistiger Krieg. Seid vorsichtig. Sie wollen uns alle umbringen. Ich höre, wie Sven zurück flüstert: “Who wants to kill you and us?“ Der ältere Herr wiederholt nur: “There’s a spiritual war. They want to kill us all. Because this is the midpoint of the earth”. Der Mittelpunkt der Erde? Das habe ich doch schon einmal gehört. Vor einem Jahr meinte der Franziskanermönch in der Grabeskirche, hier, wo die Christen am Grabe Jesus beten, sei der Nabel der Erde. Etwas irritiert verlassen wir den Platz vor dem Kotel und erreichen über eine hölzerne Brücke – rechts vom Kotel – den Tempelberg.

Die hölzerne Brücke, 2017

Auf der hölzernen Brücke werden wir von israelischen Soldaten kontrolliert. Auch mein Rucksack, in dem sich neben Fotoapparat auch Brot, Käse und das große Messer befinden, wird der Kontrolle unterworfen. Eine junge Soldatin findet das Messer, nimmt es heraus und fragt mich: „What should that?“, was soll das?  „Äh, for bread cutting“, zum Brotschneiden. Die Soldatin schaut Sven an. Der lächelt und meint, er habe mit dem Messer nichts zu tun, ich sei der Boss und für alles verantwortlich, auch für die Verpflegung. Das Messer, die Soldatin blickt nicht mich, sondern Sven an, müsse sie uns abnehmen. Wir könnten es nach unserem Besuch auf dem Tempelberg gern wiederhaben. Und so dürfen wir die israelische Kontrolle passieren.

Am Tor zum Tempelberg erwarten uns etwas finster dreinschauende arabische Sicherheitsbeamte. Sie fordern Sven auf, sich einen grünen Umhang um seine Schultern zu legen. Mir bleibt diese Verkleidung erspart. Nun lächele ich Sven an und bin wieder mit mir im Reinen. Dann stehen wir vor der al Aqsa Moschee.

Eingang zur al Aqsa Moschee, 2015

Vor der Moschee wurde 1951 der damalige jordanische König Abdallah, der Großvater des späteren und 1999 verstorbenen Königs Hussein I., von einem arabischen Attentäter getötet. Und es sollte bekanntlich nicht der letzte Mord auf dem Tempelberg bleiben. Während ich dies schreibe – im Juli 2017 – wurden zwei israelische Soldaten von drei Arabern auf dem Tempelberg ermordet. Die daraufhin von der israelischen Regierung erfolgte kurzfristige Sperrung des Tempelberges führte zu weiteren Eskalationen, deren Folgen noch nicht abzusehen sind.

Die Grundmauern der Moschee, des drittwichtigsten Heiligtums der Muslime, gehen auf einen Bau aus dem Jahre 638 n. Chr. zurück. So, wie dieses riesige Haus sich uns darbietet, hat es in den letzten Jahrhunderten viele Veränderungen erlebt. In den Reiseführern wird gern auf die scheinbar fränkische Fassade des Bauwerks verwiesen, die im 13. Jahrhundert von einem Neffen des Sultans Saladin geschaffen worden sei.

Bevor wir in die Moschee eingelassen werden, fordern uns die arabischen Wächter gestenreich und deutlich auf, die Schuhe auszuziehen und unsere Rucksäcke nebst Fotoapparat in ein Schränkchen neben den Eingang zu stellen. Wir betreten die riesige Halle, ausgelegt mit dicken Teppichen, aus denen – oder täusche ich mich – Fußschweiß entströmt. Vor und neben uns knien Männer und murmeln ihre Gebete Richtung Osten. Diese Bereiche sind durch Stricke von uns abgegrenzt. Einige Frauen sitzen abseits in kleinen Grüppchen. Kinder spielen mit den Teppichfransen. Wir, die Nichtmuslime, dürfen diese Bereiche nicht betreten. Ja, G’tt ist groß und für alle da; Allah offenbar nicht. In den letzten Jahren bleibt den Nichtmuslimen übrigens der Zugang zur Moschee und zum Felsendom gänzlich versagt.

Wirklich beeindruckt bin ich vom Felsendom. Den Weg von der al Aqsa Moschee zum Felsendom ist gesäumt von Zypressen, unter deren Schatten Männer, Frauen und Kinder sich ausruhen. Auf dem Weg von der Moschee zum Felsendom steht der große Reinigungsbrunnen. Während die Juden vor dem Beten (und auch vor dem Essen) ihre Hände waschen, möglichst drei Mal und mittels eines Kruges, säubern die Muslime vor dem Gebet ihre Füße. Und Christen nutzen das Wasser zur Taufe. Auch dies markiert die religiösen Unterschiede – einfach gesagt.

al Aqsa Moschee mit dem Reinigungsbrunnen und Felsendom, 2015

Der Felsendom wurde zwischen 687 und 691 n. Chr. im Auftrage des Kalifen Ab del-Malik errichtet. Das Äußere des achteckigen Doms, der farbige Marmor der unteren Platten und die überwiegend blauen Kacheln darüber, wurde im Jahre 1561 gestaltet und später mehrfach restauriert. Säulen und Bögen aus Marmor, goldbelegte Mosaike und wertvolle Teppiche finden sich im Inneren des Felsendoms. Sicher ist er eines der schönsten Bauwerke Jerusalems.

Der Dom steht auf dem Felsen Morija, auf dem schon Abraham gebetet haben soll und seinen Sohn Issak opfern wollte und der König Salomon den ersten Tempel errichten ließ. Ein Fingerabdruck vom Erzengel Gabriel findet sich wohl auch auf dem Felsen, über den sich der Dom wölbt. Auch Mohammed, der Prophet der Muslime, sei am Felsen aufgetaucht, um, von Medina kommend, mit seinem Pferd Buraq in den Himmel zu reiten. Ein älterer Herr zeigt uns den Abdruck, den das Pferd, um sich in den Himmel aufzuschwingen, auf dem Felsen im Inneren des Doms hinterlassen haben könnte. Und, um die Bedeutung des Doms zu unterstreichen, ergänzt der Mann: „This place is centre of the humanity“. Hier sei die Mitte der menschlichen Welt. Zentrum der Menschheit, Nabel der Erde, Mittelpunkt der Erde. Drei Weltsichten, so nahe beieinander, in Jerusalem nicht mehr als 500 Meter voneinander entfernt, und doch so fern.

Wissenschaftler für Frieden

Am Abend des zweiten Tages unseres Aufenthalts in Jerusalem beginnt die Konferenz der Deutsch-Israelischen Forschungsgemeinschaft. Vor dem gemeinsamen Abendessen hören wir, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Israel einen Vortrag über die Einwanderung der Juden nach Israel. Nach dem Vortrag setzt sich der Vortragende, dessen Namen ich leider vergessen habe, an unseren Tisch. Wir stellen uns gegenseitig vor und als er hört, dass wir, also Sven und ich, aus der ehemaligen DDR kommen, wird er neugierig. Aus welcher Region, aus welcher Stadt? Ah, Jena, unweit von Weimar, der Stadt der deutschen Denker und Henker. Thüringen, der Thüringer Wald. Und ob wir Meiningen in Thüringen kennen würden. Ja, natürlich, die kleine Stadt im Süden unseres Freistaats. Aus dem kleinen Meiningen, so unser Gesprächspartner, stamme auch Peretz Bernstein, 1890 als Shlomo Fritz Bernstein in Meiningen geboren, in Eisenach aufgewachsen, zunächst nach Holland ausgewandert, dann 1936 nach Palästina geflüchtet und 1971 in Jerusalem gestorben. Ob wir diesen Namen schon einmal gehört haben? „Nein, keine Ahnung“. Bernstein gehörte 1948 zu Unterzeichnern der israelischen Unabhängigkeitserklärung. Später habe er in Israel verschiedene Ministerämter bekleidet. Ob man ihn in Meiningen kennt, ihn vielleicht auch als Ehrenbürger geehrte habe. Wir äußern erneut unser Nichtwissen.

Jahre später nach diesem Gespräch an einem Sommerabend in Jerusalem stoße ich bei meinen Forschungen zum Antisemitismus wieder auf den Namen Fritz Bernstein. 1926 veröffentlichte Bernstein eine beeindruckende, aber leider fast vergessenen Schrift mit dem Titel „Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung – Versuch einer Sozialpsychologie des Judenhasses“. Ein Nachdruck dieser Schrift erschien 1980 mit einem Nachwort des britischen Sozialpsychologen Henri Tajfel. Für Bernstein ist der Antisemitismus ein Sonderfall einer überaus verbreiteten primitiven gruppenseelischen Tatsache: des Gruppenhasses. Um dem Antisemitismus begegnen zu können, so schlussfolgert Bernstein, müssten die Juden einen eigenen Staat gründen.

Aber zurück in den Jerusalemer Sommer des Jahres 1994. Die zweite Konferenz, der Kongress zu Vorurteilen, Diskriminierung und Konflikt, wird organisiert von Psychologen der Bar-Ilan-Universität und gesponsert von der US-amerikanischen Winston Familie. Sven und ich berichten über unsere jüngsten Studien zur Gewalt und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. In unseren Vorträgen fragen wir auch nach den Möglichkeiten, die wir als Wissenschaftler haben, um das friedliche Miteinander der Menschen zu fördern. Bekanntlich beklagt Immanuel Kant, der große Königsberger, in seiner kleinen Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (1795) u.a., dass die Herrschenden die Erkenntnisse der Philosophen (man könnte auch allgemein sagen: der Wissenschaftler) über die Wege und Möglichkeiten eines öffentlichen Friedens nicht zur Erkenntnis nehmen.

Manchmal hören die Autoritäten der Staaten aber doch auf den Rat der Wissenschaftler, respektive Psychologen. Und diese Geschichte geht so: Während des Kongresses treffe ich drei Männer: Yehuda Amir von der Bar-Ilan-Universität, Herbert Kelman von der Harvard Universität, den ich schon ein Jahr zuvor in Ashland, Virginia, kennen und schätzen gelernt habe, und Jossi Beilin, Mitglied der Knesset und damals stellvertretender Außenminister Israels. Yehuda Amir wurde 1926 in Wien geboren und starb 1996 in Israel. Herbert Kelman wurde 1927 ebenfalls in Wien geboren. Beide, Amir und Kelman, emigrierten rechtzeitig aus Österreich. Der eine ins damalige Palästina, der andere in die USA. Beide sind bzw. waren Sozialpsychologen und sie lehrten mich, dass wir Sozialpsychologen nicht in unseren Labors bleiben dürfen, sondern dass wir uns engagiert in die Friedensarbeit einbringen müssen.

Yehuda Amir wurde vor allem durch seine Forschungen zur sogenannten Kontakthypothese bekannt. Diese Hypothese geht auf eine vor fast 60 Jahren von dem US-amerikanischen Sozialpsychologen Gordon Allport (1954) gemachte Beobachtung zurück, nach der Kontakt negative Einstellungen gegenüber bestimmten sozialen Gruppen reduzieren kann. Bereits in der frühen Publikation von Allport werden vier optimale Bedingungen genannt, unter denen Kontakt Vorurteile zu reduzieren vermag: a) Die Gruppen, die in Kontakt treten, sollten den gleichen Status haben. b) Die Gruppen sollten aktiv am Erreichen eines gemeinsamen Zieles arbeiten. c) Das gemeinsame Ziel soll durch Intergruppen-Kooperation (und nicht durch Wettbewerb) erreicht werden. d) Unterstützung durch anerkannte Vermittler und entsprechende Normen und Werte erleichtern die Akzeptanz von Intergruppenkontakt. In hunderten von empirischen Studien konnte inzwischen tatsächlich bestätigt werden, dass intergruppaler Kontakt zu positiveren Einstellungen gegenüber fremden Gruppen führen kann. Mittlerweile weiß man aus der Forschung, dass auch indirekter Kontakt (z.B. „wenn meine Freunde mit Muslimen befreundet sind“) und stellvertretender Kontakt (z.B. durch Darstellung positiver intergruppaler Kontakte in den Medien positive Effekte auf die Qualität der Beziehungen zwischen mehr oder weniger verfeindeten Gruppen haben können.

Auch Herbert Kelmans Arbeiten hängen eng mit der Kontakthypothese zusammen. Nach dem Sechstagekrieg entwickelte und organisierte er mit seinen Kolleginnen und Kollegen an der Harvard Universität interaktive Problemlöseworkshops. In diesen Workshops treffen sich Vertreter feindlich gesinnter Gruppierungen, um im Dialog und mit Hilfe professioneller Vermittler nach Möglichkeiten zu suchen, die bestehenden Konflikte friedlich zu lösen. Wenn, so Kelmans Auffassung, zum Beispiel die Konfliktpartner im Nahen Osten, die Israelis und die Palästinenser, wirklich Frieden wollen, so müssen sie über strategischen Optimismus und realistische Empathie verfügen. Sie sollten also daran glauben, dass Frieden nicht gleich, aber langfristig möglich sei, und sie müssen fähig sein, sich auch in die Perspektive des Konfliktgegners versetzen können und dessen Sicht auf den Konflikt zunächst einmal akzeptieren. Nur so sei eine gemeinsame Friedensarbeit realistisch.

Jossi Beilin ist einer der führenden israelischen Köpfe, die die geheimen Verhandlungen mit den Palästinensern 1993 in der Nähe von Oslo geleitet haben. Die Verhandlungsführung stützte sich ganz wesentlich auf die Forschungen von Yehuda Amir und Herbert Kelman. Beide haben, und das wird auf der Konferenz deutlich, als Politikberater auf der Seite der Israelis keine unwichtige Rolle beim Zustandekommen des Oslo-Abkommens gespielt hat. Und das wäre die Pointe der Geschichte, die ich angekündigt habe: Die Sozialpsychologen Yehuda Amir und Herbert Kelman haben Beilin in seinen Geheimverhandlungen beraten und er, der Politiker, hat die Erkenntnisse der Psychologen über die Wege und Möglichkeiten einer friedvollen Konfliktlösung zwischen Israelis und Palästinenser nicht zur Erkenntnis genommen werden, sondern auch in den Verhandlungen berücksichtigt. Manchmal hören offenbar auch Politiker auf Philosophen und Psychologen.

Während der zweiten Konferenz lerne ich auch Devora kennen. Amnon Barak, der Chef der Deutsch-Israelischen Forschungsgemeinschaft hat sie auf uns, auf die deutschen Psychologen, aufmerksam gemacht. Sie ist auf der Suche nach Kooperationspartnern. Sie arbeitet am Ray D. Wolfe Centre for Study of Psychological Stress an der Universität Haifa und sucht nach deutschen Partnern für eine Forschungskooperation. Zu welchem Thema und mit welchen Zielen, so meine Frage. Immerhin sei ich kein Experte für Stressforschung, sondern Sozialpsychologe, der sich u.a. mit der Entstehung und den Folgen von Vorurteilen beschäftige. Dieses Thema, entgegnet Devora, sei auch für sie nicht uninteressant. Sie habe z.B. mit Kollegen darüber geforscht, ob sich Holocaust-Überlebende und deren Kinder in ihren politischen Einstellungen, Weltsichten und Vorurteilen von Menschen in Israel unterscheiden, die eine solche Biographie nicht erlitten haben. Und so kommen wir ins Gespräch. Mehr als zwei Stunden sprechen wir über diese und andere Themen, vereinbaren, unseren Austausch schriftlich fortzusetzen und nach einem möglichen gemeinsamen Forschungsthema, das in Israel und Deutschland bearbeitet werden könnte, zu suchen. Am Ende unseres Treffens erwähnt Devora noch, an der Universität Haifa mit einer Kollegin zusammenzuarbeiten, die aus Deutschland komme. Ich frage, eine Deutsche, die sich momentan zu Forschungen in Israel aufhalte? Nein, nein, eine israelische Psychologin, die bereits 1936 aus Deutschland geflüchtet sei und seit Jahren schon an der Universität in Haifa arbeite. Ihr Name sei Miriam Rieck. Ein Jahr später werde ich Miriam Rieck kennenlernen. Sie wird bis zu ihrem Lebensende mein Leben begleiten, wohlwollend zu lenken und zu unterstützen versuchen und mir so etwas wie eine zweite Mutter sein. Aber diese Geschichten müssen noch warten und werden später erzählt.

Am vorletzten Abend des Kongresses zu Vorurteilen, Diskriminierung und Konflikt hält Beilin eine eindrucksvolle Rede. Er berichtet über Oslo, das Abkommen und seine Folgen. Auch die Konsequenzen aus der Grundidee „Land für Frieden“ spielen eine zentrale Rolle. Offen und ungeschminkt spricht Beilin über den notwendigen Abzug israelischer Truppen aus dem Westjordanland und aus dem Gazastreifen, über die palästinensische Selbstverwaltung, über die PLO als Repräsentant der Palästinenser und über die Notwendigkeit einer guten Nachbarschaft und eines großen Friedens mit den arabischen Staaten.

Die Reaktionen bzw. die nach dem Vortrag folgenden Diskussionen sind so kontrovers, wie ich sie schon ein Jahr zuvor an der Hebrew Universität erlebt habe. Als ein US-amerikanischer Politikwissenschaftler in der anschließenden Diskussion zu Beilins Vortrag davon spricht, auch die Golanhöhen müssten im Interesse eines künftigen Friedens an Syrien zurückgegeben und Jerusalem müsse internationales Territorium werden, wird es ziemlich laut im Saal. Einer der Sponsoren ruft, für solche Aussagen sei der Politikwissenschaftler nicht eingeladen worden. Es sei eine Schande, wenn man denke, die jüdischen Heiligtümer einer internationalen Kontrolle zu unterwerfen zu können.

Dem Volk aufs Maul geschaut

Am Abend vor unserem Abflug nach Deutschland geraten Sven W. und ich auf dem Weg zu meinem palästinensischen Restaurant am Jaffa-Tor in eine große Demonstration. Zehntausende ziehen durch die Jerusalemer Neustadt. Ich sehe nicht nur israelische Fahnen, sondern auch schwarze mit dem Totenkopf. Dann kommen uns Menschen mit Plakaten entgegen, auf denen Yitzhak Rabin in SS-Uniform dargestellt ist. Die hebräische Schrift kann ich ob meiner mangelnden Sprachkenntnisse nicht lesen. Wie ich später erfahre, war dort u.a. „Rabin ist ein Mörder“ und „Rabin ist ein Verräter“ zu lesen.

Im Zentrum der Jerusalemer Neustadt, es muss in der Nähe der King-Georg-Straße gewesen sein, treffen Befürworter und Gegner des Oslo-Abkommens aufeinander. Die Stimmung ist gespannt. Einige ältere Männer haben Karabiner geschultert, alte Gewehre, die wohl noch aus dem Unabhängigkeitskrieg zu stammen scheinen. Ich bahne mir den Weg durch die demonstrierenden Massen. Man macht mir höflich Platz.

Die Reden, die die Repräsentanten der Gegner den anderen entgegenwerfen, klingen ziemlich wütend. Auf einer erhöhten Terrasse vor einem Hochhaus sehe ich, so ich mich recht erinnere, Yitzhak Shamir, den späteren israelischen Ministerpräsidenten, und höre ihn reden. Ich weiß, dass Shamir gegen die praktische Umsetzung der Losung „Land für Frieden“ ist. Auf der anderen Straßenseite, so meine Erinnerung, stehen Yitzhak Rabin und Shimon Peres auf einem Balkon und versuchen die Massen vom Oslo-Abkommen und den damit verbundenen Friedensmöglichkeiten zu überzeugen. Es wird ihnen wohl nicht gelingen.

Im November 1994, Sven und ich sind längst wieder in Deutschland, erhalten Yitzhak Rabin, Shimon Peres und Yassir Arafat den Friedensnobelpreis. Noch ein Jahr später wird der israelische Ministerpräsident Yitzhak Rabin bei einer politischen Großveranstaltung in Tel Aviv von einem israelischen Studenten aus der Bar-Ilan Universität erschossen.

September 1995: „Angst essen Seele auf“

Anfang September 1995 bin ich auf dem Weg nach Eilat, um mit Freunden für drei Wochen im Sinai zu wandern. Drei Tage machen wir Station in Jerusalem. Wir übernachten im Hotel des Schachspielers und essen im palästinensischen Restaurant von Mahmud am Jaffa-Tor. Vor dem Hotel steht ein israelischer Soldat mit Maschinenpistole. Nachdem er uns, unser Gepäck und die Pässe überprüft hat, lässt er uns passieren. Der Schachspieler scheint mich wiederzuerkennen. „Nu, was machen de Nazis in Deutschland? Lebense noch?“ Ich antworte: „Ja, sie scheinen noch ziemlich lebendig zu sein“. Und dann erzähle ich ihm meine Erlebnisse von der Großdemonstration aus dem vergangenen Jahr im Zentrum der Jerusalemer Neustadt. Er sieht mich an, winkt ab und beginnt eine außergewöhnlich lange Rede: „Rabin und Peres haben uns verraten. I don’t understand these boys. Wie könnense glauben, Arafat will Frieden. Noch immer wollense uns ins Meer treiben. Die Araber wollen uns hier nich. Und bald gibt es wieder Krieg. Da haben Sies mit den deutschen Nazis immer noch besser. Die sind zumindest Deutsche. Ihr könntse einfach ins prison stecken. Dann iss Ruhe im deutschen Karton. Was glaubense wohl, warum der Soldat vor meinem Hotel steht. Aus Daffke sicher nich“.

Ich erinnere mich und lese später nach, dass das Adverb daffke aus dem Jiddischen entlehnt und später als Substantiv ins Berlinerische übertragen wurde (siehe auch Lea Rosten, 2002, S. 156): daffke = „so und nicht anders“, „trotzdem“ und später „zum Trotz“.

Ich frage den Schachspieler: „Daffke? Was haben Sie mit der Berliner Mundart zu tun?“ Er: „Sie würden sagen, ick sei mit Spreewasser getauft. Ich bin 1930 in Berlin geboren. Dann sind mer geflüchtet, über Wien, Athen und Zypern nach Haifa. Mit den Nazis hatten wirs nich so und die mit uns auch nich. Und jetzt haben wirs nich mit den Arabern. De Politiker bei uns sagen, die Intifada iss vorbei. Isse aber nich. Hunderte Juden habense in diesem Jahr wieder umgebracht. So, und hier habense die Roomschlüssel. Wennse in die Stadt gehen, passense schön auf. Sie sind mir nämlich kostbar, weil Sie bezahlen“. Er zwinkert mit den Augen, nickt meinen mitreisenden Freunden zu und entlässt uns.

Das Adverb daffke ist übrigens aus dem Jiddischen entlehnt und wurde als Substantiv später ins Berlinerische übertragen.

Später im palästinensischen Restaurant am Jaffa-Tor begrüßt uns der Wirt Mahmud freudig. Ob er mich wiedererkennt, ist nicht sicher. Die Freude dürfte einen anderen Grund haben: Wir sind zu zehnt. Über so viel zahlende Gäste freut man sich auch in Deutschland. Dieses wirtschaftlich lukrative Geschehnis bringt mir schließlich die Anrede „My old German friend“ ein. Immer dann, wenn ich in den nachfolgenden Jahren nach Jerusalem komme und hier einkehre, begrüßt mich Mahmud in dieser Weise. Auch wirtschaftliche Beziehungen können Freundschaften knüpfen.

Aber jetzt, im September 1995, ist die wirtschaftliche Lage der Wirte und Händler in Jerusalem nicht sehr rosig. Die Touristenzahlen scheinen rückläufig und die Unsicherheiten angesichts der politischen Lage groß zu sein. Mahmud meint, die Israelis würden es mit dem neuen Abkommen nicht ehrlich meinen. Sie, also die Israelis, wollen allein bestimmen, welche Entwicklung der Friede im Nahen Osten nehmen solle. Sind das die Realitäten oder nur ihr konstruierter Widerschein?

Am dritten Tag unseres Aufenthalts in Jerusalem holt uns ein Bus vom Hotel ab, um uns in die Nähe von Eilat zu bringen, in den Kibbutz Lotan in der Aravah im Jordantal. Der kürzeste Weg von Jerusalem nach Eilat führt über den Highway Nummer 1 zur Jordansenke. Nach knapp 70 Kilometern ist man etwa 400 Meter unterm Meeresspiegel. In der Nähe von Beit HaArava, kurz hinter der Abbiegung nach Jericho, trifft der Highway auf die Straße Nummer 90. Links führt diese Straße in den Norden am Kinneret, dem See Genezareth, vorbei und weiter bis an die libanesische Grenze; dort, wo der Jordan entspringt. Rechter Hand führt die Straße Nummer 90 zum Toten Meer und nach Eilat, der südlichsten Stadt Israels.

Wir staunen allerdings, als wir feststellen, dass unser Busfahrer, der uns erzählt, in Eilat geboren zu sein, den Bus die Jerusalemer Berge hinab, an Latrun vorbei in Richtung Tel Aviv steuert. Wir werden nervös. Mein Freund Jacob, der auch unser Reiseleiter ist, diskutiert mit dem Busfahrer über die doch erkenntlich falsche Route. Auch ich schalte mich ein, zeige dem Busfahrer auf meiner Landkarte den Weg über Highway 1 ins Jordantal. „No, we are on the right way“, so des Busfahrers Reaktion. Ich entgegne, dass wir auf dem jetzigen Weg sicher nicht unser Zwischenziel, die Festung Massada, erreichen werden. Jacob verlangt, sofort zu wenden und den Weg über Jerusalem zum Toten Meer zu nehmen. Und wieder: „No, we are on the right way”. Jetzt werde ich aber wirklich wütend, halte ich mich doch schon für einen Israelerfahrenen Menschen, nicht ganz, aber doch ein wenig. Ich: „Why you are doing this wrong way?“ Er: „We are driving over Be’er Scheva and Arad to the Dead Sea. The other way is wrong. Because, this way is too dangerous”. Ich zu Jacob: “Was hat der denn? Was ist da gefährlich?“. Der Busfahrer, obwohl – nach eigener Aussage – nicht des Deutschen mächtig, scheint den Inhalt meiner Fragen an Jacob verstanden zu haben: „In this area to much Arabs, to much enemies, to much danger, to much terror“. Zu viele Araber, zu viele Feinde, zu viel Gefahr, zu viel Terror finden sich also auf dem eigentlichen Weg ins Jordantal.

In den Reiseführern wird der Weg von Jerusalem zum Toten Meer über den Highway Nummer 1 noch immer als sicher und bequem beschrieben. Klaffen hier möglicherweise Wirklichkeit und Wahrnehmung auseinander? Wollen die Araber im Allgemeinen und die Palästinenser im Besonderen die Juden noch immer ins Meer treiben, wie der Schachspieler meint. Sind die Israelis tatsächlich nicht an einem gemeinsamen, für alle nützlichen Frieden interessiert? Und bedroht der palästinensische Terrorismus den Highway Nummer 1?

Kommt da etwas zusammen, was nicht zusammengehört? Woran liegt das? Sicher, unsere Wahrnehmung von Gefahren und die tatsächlichen Gefahren und Bedrohungen haben nicht immer etwas miteinander zu tun. Die Wahrnehmung von Bedrohungen im Allgemeinen und die Wahrnehmung und Interpretation von Kriegsgefahr durch fremde Gruppen richten sich meist nicht nach quantitativen Häufigkeiten von bedrohlichen Ereignisse und kriegerischen Vorkommnissen. Werden Personen z.B. aufgefordert, Häufigkeits- bzw. Wahrscheinlichkeitseinschätzungen abzugeben, so richten sie sich oftmals nach bereits vorgegebenen Informationen, Ausgangswerten oder einem „Anker“.

Daniel Kahneman und Amos Tversky (1972), die in Israel geborenen und in den USA tätigen Psychologen, nennen das Heuristik der Verankerung. Für die Erforschung derartiger Heuristiken hat Daniel Kahneman übrigens 2002 (gemeinsam mit dem Wirtschaftswissenschaftler Vernon L. Smith) den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft bekommen. Amos Tversky ist leider schon 1996 in Stanford, Kalifornien gestorben.

Auch in unserer Wahrnehmung und Interpretation von existenziellen Gefahren stützen wir uns, nicht immer, aber immer öfter, auf derartige Ankerheuristiken. Den Anker liefern dabei sogenannte Schlüsselereignisse. Zu Schlüsselereignissen werden Geschehnisse dann, wenn über sie in außergewöhnlicher Weise berichtet wird. Mit anderen Worten: Nicht die tatsächlichen Gefahren im Allgemeinen, sondern besonders prominente Ereignisse beeinflussen unsere Wahrnehmung. Die Deutschen der Jetztzeit sehen möglicherweise Parallelen zu ihren Welten und deren Wahrnehmung (Stichwort „Flüchtlinge“ und Angst vor dem Islam).

Offenbar orientieren sich auch der Schachspieler, der palästinensische Wirt und unser Busfahrer vor allem an medialen Spiegeln, in denen die Nachteile und Gefahren der in Oslo verhandelten Beschlüsse hervorgehoben werden. Zumindest wäre das eine Interpretation für den nachlassenden Optimismus.

Auch in den nachfolgenden Jahren bin ich immer wieder in Jerusalem gewesen. Aber dem Optimismus, den ich – trotz vieler kontroverser Auffassungen – 1993 angesichts der Osloer Vereinbarungen verspürte, begegnet ich nie wieder. Kein Frieden nirgends. Und trotzdem: Next Year In Yerushalayim!  

Im nächsten Teil: Tel Aviv – die weiße Stadt am Meer

Wolfgang Frindte ist Sozialpsychologe und war Professor für Kommunikationspsychologie am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Jena. Von 1998 bis 2005 war er Gastprofessur für Kommunikations- und Medienpsychologie am Institut für Psychologie der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und 2004 Fellow am Bucerius Institut der Universität Haifa. Zu seinen Buchveröffentlichungen gehören u.a. „Inszenierter Antisemitismus“ (2006), „Inszenierter Terrorismus“ (2010, mit Nicole Haußecker), „Der Islam und der Westen“ (2013), „Muslime, Flüchtlinge und Pegida“ (2017, mit Nico Dietrich) und „Halt in haltlosen Zeiten“ (2020, mit Ina Frindte).

Literatur
Allport, W. Gordon (1954). The nature of prejudice. Reading: Addison-Wesley.
Bernstein, Fritz (1980, Original: 1926). Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Königstein/Ts.: Jüdischer Verlag.
Bin Gorion, Micha Josef (1914). Die Sagen der Juden. Frankfurt a. M.: Rütten & Loening.
Buber, Martin & Rosenzweig, Franz (1987). Die fünf Bücher der Weisung (Verdeutschung). Heidelberg: Lambert Schneider.
Elon, Amos (1999. Jerusalem – Innenansicht einer Spiegelstadt. Hamburg: Wunderlich Verlag.
Gur, Batya (2000). In Jerusalem leben – Ein Requiem auf die Bescheidenheit. Frankfurt a. M.: Schöffling und Co.
Herzog, Chaim & Gichon, Mordechai (2000). Die biblischen Kriege. Augsburg: Bechtermünz.
Kant, Immanuel (1977, Original: 1795). Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Werke in zwölf Bänden. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
Landmann, Salcia (1997). Die klassischen Witze der Juden. Berlin: Ullstein.
Oz, Amos (2008). Eine Geschichte von Liebe und Finsternis. Berlin: Suhrkamp.
Rosten, Lea (2002). Jiddisch – eine kleine Enzyklopädie. München: Deutscher Taschenbuchverlag.