1938 war ein gutes Jahr für die Wiener Möbelpacker. Nach der Annexion Österreichs durch Deutschland flohen Zehntausende aus der Stadt; die Nazis bemächtigten sich ihrer Betriebe, verlangten von ihnen Strafzahlungen, wenn sie ausreisen wollten, verboten ihnen, das Geld, das ihnen geblieben war, in Devisen umzutauschen, und raubten viele ihrer Kunstgegenstände…
Tim Bonyhady, Einleitung zu Wohllebengasse – die Geschichte meiner Wiener Familie
Üblicherweise konnten die Flüchtlinge jedoch ihre restlichen Haushaltsgegenstände mitnehmen, war den Nazis doch daran gelegen, den Anschein zu erwecken, die österreichischen Juden würden freiwillig ausreisen, zudem sollten sie von anderen Staaten aufgenommen werden. Und so waren nun Spediteure in einer Stadt höchst gefragt, in der man üblicherweise ein Leben lang seine Mietwohnung behielt.
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Wohllebengasse 4, 1040 Wien, Österreich
Die Neue Freie Presse, die führende Wiener Zeitung, brauchte über diesen neuen, auf Verfolgung aufbauenden Wirtschaftszweig nicht zu berichten, in dem nun viele Umzugsunternehmen neue Angestellte anheuerten und bald zu Spezialisten im Fluchtgewerbe wurden; schon die Anzeigenspalten erzählten die Geschichte. Vor dem »Anschluss« im März war in jeder Ausgabe der Presse höchstens eine kleine Annonce eines Möbelpackers, meist aber überhaupt keine zu sehen gewesen; binnen vierzehn Tagen danach erschienen drei Anzeigen von Speditionen, die den neuen Markt möglichst rasch nutzen wollten. Ende April brachte die Zeitung schon bis zu sieben Inserate, Ende Mai waren es elf.
Die bemerkenswerteste Lieferung, die aus Wien abging, gehörte zwei Schwestern, die eine unverheiratet, die andere geschieden, beide unbekannt außerhalb der engen Kreise der Wiener Gesellschaft, in denen sie sich bewegten. Dr. Käthe Gallia, eine der ersten Absolventinnen der Wiener Universität, hatte mehr als ein Jahrzehnt zuvor ihren Beruf als Chemikerin aufgegeben, um eine Familienfirma zu managen, die Gasöfen verkaufte. Ihre Schwester Margarete Herschmann-Gallia, genannt Gretl, war kurze Zeit mit einem Wiener Lederhändler, Dr. Paul Herschmann, verheiratet und wie die meisten verheirateten Frauen ihrer Klasse nie berufstätig gewesen.
Käthe zählte zu den ersten Opfern der Nazis. Zuerst verlor sie ihre Arbeit. Dann plünderten SS und Gestapo ihre Wohnung und setzten sie in Haft. Als sie schließlich nach beinahe zwei Monaten wieder freigelassen wurde, fassten sie und ihre Schwester den Entschluss, zusammen mit Gretls sechzehnjähriger Tochter Annelore aus Österreich zu fliehen. Die Vereinigten Staaten hätten sie aufgenommen, doch die Schwestern wählten Australien, weil auch andere Verwandte sich dorthin aufgemacht hatten. Anfang November 1938 waren sie bereit, sich den 50.000 Menschen anzuschließen, die seit dem »Anschluss« aus Österreich geflohen waren. Da Gretl und Käthe alle nötigen Bewilligungen und Freigaben hatten, erwarteten sie eine relativ unkomplizierte Ausreise. Sobald die Möbelpacker ihre Einrichtung verstaut hatten, würden sie den Zug in die Schweiz nehmen.
Die Schwestern rechneten nicht mit der sogenannten »Kristallnacht«, dem von Joseph Goebbels befohlenen Pogrom, das in den frühen Morgenstunden des 10. November im ganzen, erst jüngst größer gewordenen Deutschen Reich ausbrach und in Wien gewalttätiger verlief als beinahe überall sonst. Die Nazis brachten mindestens 27 Wiener Juden um, verletzten weitere 88 schwer und verhafteten rund 6550, sie plünderten mehr als 4000 Geschäfte und beinahe 2000 Wohnungen und steckten fast alle Synagogen und Bethäuser der Stadt in Brand. Einzige Ausnahme war der Stadttempel im ersten Bezirk, den die Nazis verschonten, weil ein Feuer dort auch andere Gebäude in Mitleidenschaft gezogen hätte und weil sie die Aufzeichnungen des Tempels benötigten, um festzustellen, wer nach ihrer Definition Jude war.
Als Gretl, Käthe und Annelore klar wurde, dass ein Pogrom stattfand, hatten sie Angst, ebenfalls von den Nazis aufs Korn genommen zu werden. Und selbst wenn es ihnen gelang, der Gewalt zu entkommen: Würden sie gezwungen sein, mit leeren Händen zu fliehen? Sie hätten sich keine Sorgen zu machen brauchen. Ihre Spediteure, die ein, zwei Tage vor der »Kristallnacht« mit der Arbeit begonnen hatten, machten am 10. und 11. November ganz normal weiter, sodass Gretl und Annelore am 11. abreisen konnten; Käthe folgte am 15. Während die Nazis in der ganzen Stadt Juden terrorisierten, hüllten die Packer die Möbel der Gallias in Decken, wickelten ihr Silber, Glas und Porzellan in Seidenpapier und machten es bereit für den Transport rund um den Erdball.
Ihre Transportkisten enthielten alle nur vorstellbaren Einrichtungs- und persönlichen Gegenstände, von Kronleuchtern bis zu Fußabstreifern, von Kuchenformen bis zu Ferngläsern, Spitzen und Leinen, Schlittschuhen und Skiern, Briefen und Tagebüchern, Rechnungen und Quittungen. Ein Klavier genügte nicht, Gretl und Käthe nahmen zwei mit: ein Pianino und einen Flügel. Und Bilder: Porträts, Landschaften, Seestücke, Stillleben, Genrebilder, eine Straßenszene, ein Interieur. Jede ihrer drei Garnituren Silberbesteck bestand aus mehr als 150 Teilen. Die größte ihrer drei Vitrinen war mehr als eineinhalb Meter breit und beinahe zwei Meter hoch, ihr größter Bücherschrank mehr als sechs Meter lang.
Einige dieser Sachen hatten die Schwestern von ihrem Onkel Adolf Gallia und seiner Frau Ida geerbt; diese hatten zu einer Zeit, als nur drei von hundert Wienern eine eigene Wohnung besaßen, in einem riesigen Gebäude an der Wiener Ringstraße, das ihnen gehörte, das prächtigste Appartement bewohnt. Fast alles andere stammte von den Eltern der Schwestern, Moriz und Hermine, die in der Wohllebengasse im vierten Bezirk gewohnt hatten, unweit vom Ring. Die Gasse war zwar nach einem Wiener Bürgermeister vom Anfang des 19. Jahrhunderts benannt, Stefan Edler von Wohlleben, doch das Wort symbolisierte auch zutreffend, welches Gepräge die weitläufige und elegante Straße ein Jahrhundert später aufwies.
In der Familie war es üblich, die feinsten Waren zu kaufen, die besten Sorten, die renommiertesten Marken. So war das Dinnerservice, das Gretl von ihrer Tante Ida erbte, eine der frühesten Garnituren von »Flora Danica«, dem berühmten, in Handarbeit hergestellten, mit dänischen Pflanzen handbemalten Porzellan aus der Manufaktur Royal Copenhagen, so war der von ihrer Mutter geerbte Flügel ein Steinway. Unter ihren Pelzen fanden sich Chinchilla- und Zobelstolas und ein Mantel aus Seehundfell. Ihre bemerkenswertesten Besitztümer aber waren die Gemälde, Möbel, das Silber, die Keramik und Glaswaren, die einmal Moriz und Hermine gehört hatten. Beinahe alles stammte aus der Zeit der Jahrhundertwende, als Wien eines der dynamischsten Kultur- und Geisteszentren weltweit gewesen war, eine der für die Entwicklung der Moderne maßgeblichen Städte, wo nicht nur, wie seit Jahrhunderten, herrliche Musik entstand, sondern auch große Kunst, Design, Architektur, Literatur, Wissenschaft und Philosophie.
Die Großfamilie Gallia gehörte während der kulturellen Hochblüte von 1898 bis 1918 zu den wichtigsten Mäzenen für hochwertige Kunst und das beste Design der Stadt. Bei ihrer Flucht 1938 nahmen Gretl und Käthe das meiste von dem mit, was Moriz und Hermine gesammelt und in Auftrag gegeben hatten. Ihre Kisten mit den Sachen aus der Wohllebengasse enthielten die bedeutendste Privatsammlung von Kunst und Design, die das nationalsozialistische Österreich verlassen konnte.
Ihr Bestimmungsort war ein Wohnblock in Cremorne, einem Vorort von Sydney; er war gebaut wie hundert andere in der Stadt, als wäre Design unwichtig, zahle Architektur sich nicht aus, und Ästhetik wäre für anderswo bestimmt. Das Material war die ortsübliche Kombination aus mattroten Ziegeln und grellbunten Terrakottafliesen. Der Zugang zur Eingangstür über einen schmalen Weg an der Seite des Gebäudes war unzweckmäßig, das Treppenhaus kalt und eng. Das einzig Bemerkenswerte an dem Gebäude – die Aussicht über den Hafen, die beinahe von Sydney Heads bis zum Stadtzentrum am Circular Quay reichte – verdankte alles der Natur und nichts der Kultur.
Eine Radierung im Vorzimmer von Wohnung Nummer 3 ließ erkennen, dass die Einrichtung hier anders aussah. Das kleine Bild zeigte einen Mann im Profil, die dichte Haarmähne aus der hohen Stirn nach hinten gestrichen, eine randlose Brille auf der Nase, die Fliege verrutscht, der Gesichtsausdruck entschlossen. Wäre der Dargestellte unbekannt gewesenes wäre immer noch ein fesselndes Porträt gewesen; doch es warsein Ruhm, der das Bild in Ausstellungen und auf Buchumschläge brachte. Es war erstmals 1903 in der Secession zu sehen gewesen, der von Gustav Klimt angeführten Gruppe von Malern, Architekten und Designern, welche die Wiener Kunst zu Ende des 19. und Beginn des 20.Jahrhunderts erneuert hatte. Das Bild stammte von Emil Orlik, einem prominenten Secessionsmitglied; er hatte seine Signatur und das Datum in kaum erkennbaren Bleistiftstrichen angebracht, als wäre seine Person vollkommen unwichtig. Der Dargestellte war Gustav Mahler, der es in dicker schwarzer Tinte signiert hatte.
Der Rest der Wohnung war voller Gemälde anderer österreichischer Maler, beinahe alle Mitglieder der Secession. Typisch war etwa das größte Zimmer mit Blick auf den Hafen. Das eindrucksvollste, auffälligste Bild hier war das lebensgroße Porträt einer Frau in Weiß. Wie Orliks Mahler-Radierung war das Gemälde 1903 in der Secession gezeigt worden, doch hatte es wegen des Malers und nicht wegen des Sujets Interesse erregt. Es gehörte zu der kleinen Gruppe von Porträts, die Gustav Klimt vom Ende der 1890er Jahre bis zu seinem Tod 1918 gemalt und von denen er im Durchschnitt nur eines pro Jahr vollendet hatte. Es stellte Hermine Gallia dar, die Mutter von Gretl und Käthe.
Die Möbel stammten fast alle von Josef Hoffmann, dem Architekten, der häufig die Einrichtungen für Klimts Mäzene entwarf. In der verglasten Veranda stand ein Ensemble mit Tischen, Stühlen und Vitrinen, alles weiß gestrichen mit Blattgoldverzierung. Die restlichen Zimmer waren mit schwarzen Möbeln vollgestellt, beinahe alles gebeizt, sodass die Maserung durchschimmerte. Hier fanden sich schwarze Tische, schwarze Stühle, schwarze Buffets, schwarze Uhren, eine schwarze Vitrine, eine schwarze Lampe, ein schwarzer Klavierschemel, dazu an den Wänden der beiden Schlafzimmer und des langgezogenen Flurs, der zum Bad und zur Toilette führte, sieben schwarze Bücherschränke mit Glastüren.
Auch die Teppiche in der Wohnung hatte Hoffmann entworfen, ebenso fast das ganze Silber in der schwarzen Kommode und auf den schwarzen Bücherschränken. Dieses Silber stammte aus der berühmten Wiener Werkstätte; Hoffmann war 1903 einer ihrer Mitgründer gewesen. Sein Ziel war es, »gutes, einfaches Hausgerät« zu schaffen im Gegensatz zu Sachen aus »schlechter Massenproduktion«; wenn Hoffmann allerdings von »einfach« sprach, meinte er Silber statt Gold und Halbedelsteine statt Diamanten. Die Kunden der Werkstätte waren reich, das verstand sich für ihn von selbst. So wie Klimt sich bewusst elitär gab, als er eine seiner ersten Ausstellungen in der Secession mit einem leicht abgewandelten Schiller-Zitat eröffnete – »Kannst du nicht allen gefallen durch deine That und dein Kunstwerk – Mach es Wenigen recht. Vielen gefallen ist schlimmer« -, so tat dies auch Hoffmann, als er die Werkstätte gründete. »Zwar fürchte ich, dass der Kampf ein ungleicher sein wird, ja dass es überhaupt nicht mehr möglich ist, die Masse zu bekehren«, erklärte er; »dann aber ist es umsomehr unsere Pflicht, die Wenigen, die sich uns zuwenden, glücklich zu machen.«
Die Keramik-, Glas- und Emailobjekte, die die beiden Vitrinen in der Veranda füllten, waren weitaus unterschiedlicher. Die meisten Stücke waren Royal-Copenhagen-Porzellan, dazu gab es Vasen von Galle und Lalique aus Paris, böhmisches und venezianisches Glas, dänische und französische Emailarbeiten und etliche Schalen, Vasen, Becher und Figurinen von Wiener Designern vom Anfang des 20. Jahrhunderts, darunter Hoffmann. Eine Vorliebe für Sentimentales, wenn nicht Kitsch, war deutlich erkennbar, nicht nur in einer Menagerie von Hündchen, Enten und Mäusen aus Royal-Copenhagen-Porzellan, sondern auch im größten, auffälligsten Objekt,geschaffen von Michael Powolny, jenem Wiener Keramikkünstler nach 1900, der eine besonders extravagant-dekorative Linie vertrat. Es war eine ovale Dose, am Deckel kniete auf einer Blumenwiese ein Ritter in goldener Rüstung und umarmte ein nacktes Mädchen mit langen gelben Haaren – eine Keramik-Version des berühmten Klimt-Gemäldes »Der Kuss«.
Die Bücher in den Schränken mit den Glastüren reichten von den deutschen Klassikern, die Moriz und Hermine sammelten, bis zu modernen britischen Autoren, die Gretl gekauft, und modernen australischen, die Käthe (wie Käthe sich in Australien umbenannt hatte, während aus Annelore Anne wurde) beigesteuert hatte. Auch Erstausgaben der bahnbrechenden, einflussreichsten Wiener Schriftsteller der Zeit um 1900 und danach – literarische Zeitgenossen von Klimt und Hoffmann -waren zu finden, darunter Werke des großen Polemikers und Satirikers Karl Kraus, des Kritikers, Essayisten und Dramatikers Hermann Bahr (selbsternannter Kopf der literarischen Bewegung »Jung Wien«) und des Romanciers und Dramatikers Arthur Schnitzler, den Sigmund Freud als seinen Kollegen in der Erforschung der »thörichte[n] und frevelhafte[n] Geringschätzung, welche die Menschen heute für die Erotik bereit halten«, bezeichnet hatte.
Die Wohnung war deshalb so bemerkenswert, weil große Teile der Einrichtung von Hoffmann als Gesamtkunstwerk entworfen worden waren, wie es sich die Wiener Secession und die Wiener Werkstätte zum Ziel gesetzt hatten. Moriz und Hermine hatten mehr als ein Jahrzehnt lang Hoffmanns Werke gekauft, das meiste aber, das er für sie schuf, stammte aus einem einzigen Auftrag: fünf der straßenseitigen Räume ihrer Wohnung in der Wohllebengasse einzurichten. Da Hoffmann nach eigener Einschätzung Gesamtinterieurs schuf, in denen jedes Element von Bedeutung war und nur an eine bestimmte Stelle passte, konnte man diese Einrichtungen nie komplett von einem Gebäude in ein anderes übertragen, schon gar nicht von einer Seite der Erde auf die andere.
Gretl und Käthe allerdings kamen dem bemerkenswert nahe, als sie nach der Landung in Sydney 1939 beschlossen, eine gemeinsame Wohnung zu nehmen, und die Hoffmann-Sachen, die jede von Moriz und Hermine geerbt hatte, wieder zusammenführten. Dreißig Jahre lang, solange das Appartement in Cremorne den Gallias Heimstätte war, gab es keine vergleichbare Wohnung in New York, Zürich oder London, Budapest oder Prag. Und auch in Wien selbst existierte nichts Derartiges, da die meisten HofFmann-Einrichtungen zerstört oder zerstreut worden waren. Die Einrichtung dieser Wohnung war der Triumph eines Möbelpackers, ein großartiger Teil des Wien der Jahrhundertwende, versetzt an die Botany Bay.
Ich kam zum ersten Mal als Baby in diese Wohnung. Anne nahm mich kurz nach meiner Geburt 1957 mit, und bald ging ich regelmäßig hin, meist mit meinem älteren Bruder Bruce. Erwachsene, die zu Besuch kamen, hatten die Räume als klaustrophobisch in Erinnerung, sie waren so vollgestopft und die meisten Möbel schwarz, ich aber fühlte mich als Junge dort absolut wohl. Ich hatte keine Ahnung, dass viele der Einrichtungsgegenstände Gretls und Käthes für Räume gestaltet worden waren, die mindestens zwei- bis dreimal, wenn nicht viermal so groß waren: Räume mit hohen Plafonds, an denen Kronleuchter gut zur Geltung kamen, Räume mit kannelierten Säulen und Marmorverkleidungen, die zu denen an den Möbeln passten, Räume, die mindestens ebenso sehr für Besuche wie für ein Familienleben geschaffen waren, Räume, in denen Hausmädchen in Dienstkleidung servierten. Ich wusste zwar, dass Gretl und Käthe Österreich als Flüchtlinge verlassen hatten, empfand aber nie, ihre Sachen seien am falschen Platz. Ich dachte, alles in der Wohnung sei am perfekten Ort, genau wie vorgesehen.
Ich hatte auch kein Auge dafür, in welchem Zustand viele Möbel waren. Falls es mir auffiel, dass nur die größere der beiden Anrichten eine marmorne Platte hatte, dann kam es mir jedenfalls nie in den Sinn, dass die kleinere ebenfalls eine gehabt haben musste; sie war beim Transport zerbrochen. Ich hatte keine Ahnung, dass der größte Tisch beschnitten worden war, um in das Wohnzimmer zu passen. Ich sah nicht, dass der Stoff an der Rückseite der einen Vitrine in der Veranda kirschrot war, der andere jedoch unter der Sonne von Sydney zu einem blassen Rosa ausgebleicht. Ich wusste nicht, dass der Küchentisch, den Gretl und Käthe mit einer roten Laminatoberfläche versehen und weiß gestrichen hatten, zu der für Hermines Schlafzimmer entworfenen weiß-goldenen Hoffmann-Garnitur gehört hatte. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass einige der Stühle einst mit burgunderrotem Maroquinleder gepolstert gewesen waren, andere mit leuchtend grünem Wollstoff, umfasst von einer schwarzweißen Kordel, wieder andere waren Hocker mit roter Seide und derselben schwarzweißen Einfassung. Ich nahm an, dass diese Stühle, so wie ich sie kannte, immer rote Vinylsitze gehabt hatten…
Wohllebengasse:
Die Geschichte der Gallias
Am 12. November 1938 – auf den Straßen lagen noch die Scherben der Pogromnacht – verließen drei Frauen Wien und machten sich auf die lange Reise nach Sydney…
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