Jordantal: Existenz als Widerstand?

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Was bedeutet es, wenn schon das bloße Dasein ausreicht, um widerständig zu sein?…

Fährt man aus Ramallah kommend die Route durch die Berge ins Jordantal und nimmt nicht die gut ausgebaute Siedlerstraße 1, windet sich die Strecke ab einem gewissen Punkt um enge Kurven. Rechts ragen die typischen gelben Felsen auf, links fallen die Berge ebenfalls steil in ein Tal ab, das fast wie aus einem Winnetou- oder Kara Ben Nemsi-Film aussieht, wären da nicht immer wieder die Olivenbäume. Hat man den Hügelkamm zwischen der restlichen Westbank und dem Jordantal überwunden, wird die Landschaft relativ karg und trocken, obwohl der Winter mit seinen Niederschlägen noch gar nicht lange vorbei ist. Im Januar gab es sogar Schnee und örtlich heftige Überschwemmungen vom Gazastreifen über Israel bis ins Westjordanland. Davon kam hier aber nicht viel an.

Im Jordantal. Photo: Dr. Laura Maritano / medico Archiv

Heute besuchen mein Kollege Nizar Qabaha und ich eine der mobilen Kliniken, die die Palestinian Medical Relief Society (PMRS) in Al Fasa’il mit unserer Unterstützung betreibt. Anlass ist der Besuch einer Gruppe deutscher Journalisten, den das deutsche Vertretungsbüro in Ramallah organisiert hat. Das Auswärtige Amt fördert unser Projekt mit PMRS, mit dem wir u.a. den Zugang zu Basisgesundheitsversorgung in 55 Gemeinden in sieben Distrikten der Westbank sicherstellen. Die betroffenen Dörfer liegen alle in den sogenannten C-Gebieten, die vollständig unter israelischer Kontrolle stehen und in denen derzeit etwa 542 (temporäre, sogenannte “fliegende Checkpoints” und permanente) Checkpoints der israelischen Armee die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung teilweise massiv einschränken.

Etwas über 60% der Westbank sind C-Gebiete. Das Jordantal und die Gegend um das Tote Meer nehmen 30% des gesamten Westjordanlandes ein (inklusive der darin enthaltenen A- und B-Gebiete). Gemessen an der palästinensischen Gesamtbevölkerung in der Westbank von etwa 2,5 Millionen Menschen erscheint der Anteil der im Jordantal lebenden Palästinenser mit ca. 55.000 vergleichsweise gering. Allerdings sind 87% Prozent dieses Landes im Jordantal und am Toten Meer gemäß dem Osloer Abkommen als C-Gebiete klassifiziert worden und unterstehen damit voll und ganz Israel. Weitere 7%, die zwar zum B-Gebiet zählen und deshalb unter geteilter palästinensisch-israelischer Verwaltung stehen, wurden 1998 im Wye-Abkommen zum Naturschutzgebiet erklärt. Sie sind deswegen für die palästinensische Bevölkerung ebenfalls nicht nutzbar. Das belässt die Palästinenser mit rund 6% der Fläche im Jordantal und am Toten Meer, in denen sie entweder ganz (A-Gebiete) oder teilweise (B-Gebiete) über die weitere Entwicklung ihrer Gemeinden bestimmen können.

In den C-Gebieten hat die sogenannte israelische Ziviladministration das Sagen. Das entspricht einem quasi-zivilen Arm der Besatzungsmacht, der 1982 per Militärdekret geschaffen wurde und nach eigener Auslegung eigentlich für das Wohl der palästinensischen Bevölkerung sorgen soll. Nach Internationalem Recht muss Israel das auch, aber die Rechtsauslegung der israelischen Regierung unterscheidet sich gründlich von untereinander übereinstimmenden Meinungen internationaler Völkerrechtsexperten und anderer Regierungen. Während die Palästinenser in der Ziviladministration keine eigene Interessenvertretung haben, arbeiten sowohl Siedler als auch frühere Berufssoldaten in der Behörde. Israelische Siedlungen genießen dabei sowieso schon eine gewisse Planungshoheit, und 70% der C-Gebiete unterstehen den Regionalräten israelischer Siedlungen. Dadurch wird die Herrschaft der Siedlerbewegung auf ein Territorium ausgedehnt, das neun Mal so groß ist wie die tatsächlich mit Häusern bebaute Fläche der Siedlungen. Viele Besucher aus dem Ausland nehmen das nicht wahr, weil es nicht sichtbar ist.

Diese Tatsache ist besonders im Jordantal von Bedeutung, wo weniger als 10.000 israelische Siedler große Flächen palästinensischen Landes für den Anbau landwirtschaftlicher Produkte nutzen, die als “Made in Israel” profitabel in die EU, u.a. nach Deutschland, exportiert werden. So ist es keine große Überraschung, dass nur 1% der C-Gebiete für Entwicklungspläne zugunsten palästinensischer Gemeinden vorgesehen ist. Schon längst ist hier eine Politik der gezielten Rückentwicklung sichtbar geworden, die international kritisiert wird und die sich auch in den Bevölkerungszahlen widerspiegelt: Lebten 1967 vor dem Juni-Krieg noch geschätzte 200.-350.000 Palästinenser im Jordantal, sind es heute gerade noch etwa 55.000. Der Bevölkerungsschwund ist mit der normalen Urbanisierung moderner Gesellschaften allein nicht erklärbar – er ist auch eine direkte Folge der erfolgreichen Verdrängungspolitik israelischer Regierungen in den vergangenen Jahrzehnten.

Wie in anderen Gemeinden finden die Behandlungen und Beratungen für Patienten unserer mobilen Kliniken in einem Raum statt, den uns die Dorfbewohner zur Verfügung stellen. Nach dem Gespräch mit der Journalistendelegation weist mich mein Kollege Nizar auf ein Graffiti hin. In großen arabischen Buchstaben hat da jemand mit grauer Farbe “EXISTENZ IST WIDERSTAND” an die Wand gepinselt.

Seit dem Besuch in Al-Fasa’il denke ich immer wieder über diese Worte nach. Sie erscheinen einfach und nicht besonders schwer zu verstehen. Trotzdem gehen sie mir nicht aus dem Kopf. Vermutlich hat jemand aus dem Dorf sie an die Wand geschrieben. Ich finde diese Botschaft deshalb bemerkenswert, weil sie in ihrer Einfachheit etwas klar ausdrückt, wofür andere Leute mehrere Seiten an Papier produzieren müssen – so wie ich jetzt. Sie besagen, dass eine Gemeinde, stellvertretend für so viele andere auf der Westbank, durch ihr bloßes Dasein einen Akt des Widerstands vollzieht. Sie drücken auch aus, dass der Autor dieser Worte klar verstanden hat, worauf die Politik der israelischen Besatzungsbehörden abzielt: Palästinenser sind (in den C-Gebieten) unerwünscht. Sie werden als Fremde in und auf ihrem eigenen Land betrachtet und behandelt. Eigentlich sollen sie weg. Sie müssen weg. Wir leben aber nicht mehr in der grausamen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, und deswegen wäre eine organisierte gewalttätige Vertreibung bzw. Zwangsdeportation dieser Menschen in der heutigen Zeit nicht akzeptabel. Der internationale Aufruhr wäre zu groß. Auch in Israel gäbe es dagegen mit ziemlicher Sicherheit einige Proteste. Weniger systematisch ist die Vertreibungspolitik indessen nicht, wenn man sich die Bilanz der Ziviladministration ansieht. Sie wird lediglich in Zeitlupe vollzogen.

Existenz ist Widerstand. Ist es nicht traurig, dass das bloße Dasein ausreicht, um Widerstand zu leisten? Völlig gewaltfrei ist ja schön, aber wir sprechen nicht davon, dass sich ein Palästinenser an Bahngleise gekettet hat, um den nächsten Castortransport in die C-Gebiete zu verhindern. Wer auch immer die Worte geschrieben haben mag – die Person hat darauf hingewiesen, dass in der hiesigen Situation zumindest in den C-Gebieten eben gerade kein bewusster Akt des zivilen Ungehorsams notwendig ist, um aus Sicht der israelischen Besatzungsmacht Widerstand zu leisten. Die Anwesenheit reicht völlig aus.

Gleichzeitig finde ich die Worte stolz, weil sie unbeugsam klingen. Ich finde sie klug, weil sie die Sicht eines Menschen, wahrscheinlich eines Einwohners von Al-Fasa’il, auf die Besatzung darlegen: Wenn meine Existenz an diesem Ort schon Widerstand ist, was sagt dies über diejenigen aus, die mich von hier vertreiben wollen? Wie sehen sie und wofür halten sie mich? Warum soll ich überhaupt von hier weg? Wenn die Tatsache, dass ich Palästinenser bin, ausreicht, um mich von meinem Land vertreiben zu wollen, welche Beschreibung wäre dann zutreffend für das Regime, das eine solche Politik verfolgt? Wenn diverse Regierungen gleich welcher parteipolitischen Couleur dieses Landes gleichzeitig seit Jahrzehnten Angehörige der eigenen ethno-religiösen Mehrheitsgesellschaft auf besetztem Land ansiedeln und versuchen die ansässige Bevölkerung zu vertreiben (in der Zeit der kolonialen Imperien wurden diese Menschen verächtlich und romantisierend “Eingeborene” genannt), welche Art von Projekt haben dann verschiedene israelische Regierungen einschließlich der letzten und jetzigen unter Benjamin Netanjahu verfolgt?

Veröffentlicht von Riad Othman am 18.04.2013

3 Kommentare

  1. Interessant wäre allerdings, auf welchen Quellen die Angabe von 300.000 bis 320.000 Einwohnern vor dem 6-Tage-Krieg stammt. Gab es in Jordanien eine Volkszählung?

    Es sollen seit 1967 über 250.000 Personen vertrieben worden sein (wer?, wohin?, es müssten doch Hunderttausende Nachkommen dieser Vertriebenen geben, mit Namen von Dörfern). Zweck soll Annexion durch Siedlung gewesen sein – aber für die 250.000 Vertriebenen sollen 10.000 Siedler gekommen sein.

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