Beschneidungsurteil: Juristisch und rechtsethisch fragwürdig

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In einer Mitteilung des Abraham-Geiger-Kollegs findet sich eine Stellungnahme des Göttinger Rechtswissenschaftlers Hans Michael Heinig zum Kölner Beschneidungsurteil, die Stellungnahme der World Union for Progressive Judaism und eine Buchempfehlung zum Thema…

von HANS MICHAEL HEINIG

Ist die religiös motivierte Beschneidung eines minderjährigen Jungen als Körperverletzung strafbar? Das Landgericht Köln hat die Frage in einer Entscheidung vom Mai 2012 bejaht (Az. 151 Ns 169/11). Erst Ende Juni wurde die Entscheidung von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. In der jüdischen Welt sorgt die Entscheidung für allerlei Irritationen. Folgt man dem Urteil, droht den in Deutschland lebenden Juden strafrechtliche Verfolgung, wenn sie der biblischen Tradition entsprechend Jungen acht Tage nach der Geburt beschneiden (Brit Mila). Die Zirkumzision ist im Judentum nicht irgendein randständiges Brauchtum, sondern für viele Juden ein wesentlicher Bestandteil jüdischer Identität . Die Brit Mila als Aufnahmeritual in die jüdische Gemeinschaft geht zurück auf die biblische Überlieferung des Bundschlusses Abrahams mit Gott (Gen 17, 10-14). Doch auch im Islam wird die Beschneidung praktiziert. Sie gilt in der abrahamitischen Tradition als essentieller Ausdruck muslimischer Religionszugehörigkeit. Das Landgericht Köln sieht in der Beschneidung mit Einwilligung der Eltern, aber ohne medizinische Indikation durch einen Arzt kunstgerecht vorgenommene Beschneidung eine nicht gerechtfertigte Körperverletzung. Der Angeklagte wurde im Ergebnis aber freigesprochen, weil die Rechtslage verworren sei und er einem unvermeidbaren Verbotsirrtum unterlag, so das Gericht. Doch grundsätzlich sei die Beschneidung strafbar.  Schaut man sich die Urteilsgründe genauer an, beschleichen einen Zweifel, ob das alles so richtig ist. Schaut man sich den religions- und kriminalpolitischen Subtext an, wachsen die Zweifel noch einmal erheblich an.

Zunächst zum Rechtlichen: der Streit um die Zulässigkeit der Jungenbeschneidung (die Strafbarkeit der Genitalverstümmelung von Mädchen steht außer Frage) dreht sich um die Frage, ob die Eltern rechtswirksam und damit rechtfertigend gemäß § 1627 BGB einwilligen können. Das Landgericht schließt das aus, weil die Beschneidung nicht dem Kindeswohl diene und begründet das mit drei Argumenten: Auf grundrechtlicher Ebene komme dem Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit ein absoluter Vorrang vor dem elterlichen Recht zur religiösen Erziehung zu. In der Rechtswertung sei die Beschneidung mit körperlicher Züchtigung, seelischen Verletzungen und anderen Entwürdigungen des Kindes (§ 1631 II BGB) gleichzusetzen. Und schließlich wird hervorgehoben, dass das Kind sich ja später von der Herkunftsreligion abwenden könnte; die Beschneidung stelle dann eine irreparable Beschädigung des Körpers dar.

Alle drei Begründungsschritte sind fragwürdig: Das Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit ist zwar von hoher Bedeutung und der Staat tut gut daran, sich schützend davor zu stellen. Doch schließt das eine grundrechtliche Kollisionslage, die nach den üblichen Regeln des Rechtsgüterausgleichs aufzulösen ist, nicht per se aus. In der Abwägung der Rechtsgüter ist dann auch die relativ geringe Intensität der körperlichen Beeinträchtigung und die hohe Bedeutung für die religiöse Identitätsbegründung (zumindest im Judentum) in Rechnung zu stellen. Die gesetzgeberische Wertung des § 1631 II BGB bietet hingegen kaum Erkenntniswert. Kinder sollen nicht verprügelt werden – Schmerzzufügung und Demütigung sind keine erlaubten Erziehungsmittel, sagt das Gesetz. Der soziale Sinn und das physiologische Geschehen einer kunstgerecht durchgeführten Zirkumzision sind dann doch was anderes. Bleibt schließlich das Argument des bleibenden Stigmas. Der Beschnittene bleibt für sein Leben „gezeichnet“. Das stellt aber doch die Freiheit nicht in Frage, die inkulturierte religiöse Tradition später abzustreifen. Hier scheint ein Argument durch, dass zum Standardarsenal der antireligiösen Eiferer gehört: Über religiöse Zugehörigkeit könne erst der Mündige selbst entscheiden, weshalb man Kinder von allen religiösen Einflüssen fern halten müsse, damit es zu keiner Vorprägung kommt. Die Religionssoziologie weiß es besser: Selbstbestimmung über religiöse Zugehörigkeit setzt in der Regel ein Vertrautwerden mit religiöser Tradition voraus. Auch ist nicht recht erkennbar, warum eine Beschneidung dem Interesse, als Erwachsener über seine Religion zu entscheiden, zuwiderlaufen soll: geschätzt mind. ein Viertel der männlichen Weltbevölkerung ist beschnitten. Es gibt viele Gründe für eine Beschneidung. Vorzüge und Nachteile der Beschneidung werden in Fachkreisen intensiv diskutiert. In der Bewertung der Beschneidung von Männern und Jungen kommen eine Fülle kulturgeschichtlich-religiöser, medizinischer und ästhetisch-lebenspraktischer Aspekte zusammen. Im Raum stehen über tausende Jahre gepflegtes religiös-kulturelles Brauchtum, lange Traditionen antireligiöser und antisemitischer Polemiken, das spannungsgelandene Feld der sexuellen Lust und sexuellen Tabuisierungen, kulturelle Wahrnehmungen von Körperlichkeit, der biopolitische Zugriff des Staates auf den Körper und die alte Frage, inwieweit die freiheitlich-demokratische Staatsgewalt Mittel zur Durchsetzung einer rationalistischen Aufklärung sein soll und darf.

Liest man die Entscheidung des Landgerichts Köln, verwundert vor dem Hintergrund dieser komplexen Gemengelage die Unbekümmertheit, mit der das Gericht zu Werke geht. Die hier vorgeführte Konzentration auf die rechtstechnischen Fragen ist sicherlich vornehmster Ausdruck eines funktional ausdifferenzierten Rechtssystems; eine gewisse historische und kulturelle Sensibilität, ein Sinn für das, was man mit einem Urteil anrichtet, wünscht man sich aber doch von der Justiz. So stellt sich etwa die Frage, ob es sinnvoll ist, ausgerechnet den Arzt zu kriminalisieren, der die Beschneidung durchführt. Denn mit der Abdrängung solcher tradierten Praktiken in die Illegalität droht die Einschaltung von Pfuschern und damit sind echte Gesundheitsrisiken für die Kinder zu besorgen. Welches Signal geht weltweit davon aus, dass ausgerechnet in Deutschland nun ein strafrechtliches Beschneidungsverbot bestehen soll? Dass Juden für die Beschneidung Deutschland verlassen müssen, um ihre Religion entsprechend den eigenen Lehren leben zu können? Was sagt die Entscheidung den Muslimen, die in hohem Maße integrationswillig sind, aber bestimmte religiöse Traditionen doch pflegen wollen? Rechtsethisch und strafrechtlich wirft die Beschneidung von männlichen Minderjährigen schwerwiegende Fragen auf. So leicht wie das Landgericht Köln sollte es man sich bei der Beantwortung dieser Fragen nicht machen.

Hans Michael Heinig ist Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht an der Universität Göttingen und leitet im Nebenamt das Kirchenrechtliche Institut der EKD.

12 Kommentare

  1. „Als Jude wird man nicht geboren, sondern wird dazu ‚gemacht’…“
    Ich weiss nicht mehr genau, wer dies einst sagte; War es Einstein, war es Siegmund Freud ? …ich kann es nicht mehr richtig herleiten.
    Aber richtig ist’s, denn die sog. ‚Brith milah‘ dürfte der handfeste und wörtlichste Akt dieser Erkenntnis gewesen sein…

  2. na ja…. selbst die „Schulmedizin“ soll, nach Meinung einer Posterin hier, angeblich die Beschneidungslehre vertreten…
    Ähmm … wo war noch diese gemeinte ‚medical school‘ ?

    In Belgisch-Kongo ? …oder Äquatorial-Guinea ? Hoffentlich nicht in Lambarene… 😉

  3. “”Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen,um überlieferte Bräuche,die für die Kinder schädlicht sind,abzuschaffen.”“

    Unterschrieben, es ist viel zu tun und es wäre angebracht, sich nicht nur per „posting“ zu engagieren.

    Nur eines: Die Beschneidung des Mannes ist für Kinder nicht schädlich, dies lehrt uns eine jahrtausende währende, sich immer wieder bestätigende Erfahrung, im Gegenteil.

    Eine Argumentation unter zuhilfenahme der UN Kinderkonvention dient im konkreten Fall ausschließlich dazu, religiöse Auffassungen von Muslimen und Juden zu kriminalisieren, Identität und Selbstverständnis von mehr als 1,3 Milliarden Menschen zu diskreditieren.

  4. Ich halte allen Verdammern des Kölner Urteil nur den
    Artikel 24Abs.3 der UN Kinderkonvention entgegen!

    „“Die Vertragsstaaten treffen alle wirksamen und geeigneten Maßnahmen,um überlieferte Bräuche,die für die Kinder schädlicht sind,abzuschaffen.““

    Besser kann man nicht gegen die Beschneidung argumentieren!

  5. „Denn mit der Abdrängung solcher tradierten Praktiken in die Illegalität droht die Einschaltung von Pfuschern und damit sind echte Gesundheitsrisiken für die Kinder zu besorgen.“

    Selbst unter den besten hygienischen Bedingungen durchgeführt von einem Medizinier ist die Beschneidung mit Risiken und Schmerzen verbunden.

    So verlor ein Junge aufgrund einer eben unter solchen Bedingungen durchgeführten Beschneidung seinen gesamten Penis.

    http://www.express.de/duesseldorf/horrorerlebnis-eines-zehnjaehrigen-bei-beschneidung-schlimm-verstuemmelt,2858,4742926.html

    Die Entrüstung, die man jetzt erleben kann, blieb jedoch aus.

    In England starb ein Baby infolge einer Beschneidung, die von einem Chirurgen und erfahrenen Mohel ausgeführt wurde.

    http://www.kilburntimes.co.uk/news/queen_s_park_baby_bled_to_death_two_days_after_being_circumcised_1_1419367

    Ganz gleich unter welchen Bedingungen. Die Beschneidung ist immer schmerzhaft für das Kind und immer risikoreich.

  6. „Die medizinische Indikation der Beschneidung ist von der Schulmedizin zweifelsfrei festgestellt, dazu noch mit weit geringeren Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen, wie sie bei Impfungen üblich sind.“

    Absoluter Quatsch!!!!!!!!!!!

  7. Ach ja @Medibibi, sicherlich hast du da recht. Der grosse CREATOR hat ganz bestimmt ’nen Fehler gemacht und irgendwas „zuviel“ kreiert. Mit medizinischem Weisskittelgehabe wird das natürlich korrigiert und dieses im Punktesystem ärztlicher Leistungen als „Halbgöttersegen“ folgerichtig honoriert!
    Im anglo-amerikanischen money-maker-system nennt man sowas ‚diseases monitoring’… und wenn’s notfalls nur „grüne Bazillen“ sind, die wegzutherapieren wären.

  8. Bluesmaker schrieb: „Denn die Betroffenen sind Kinder, die eine solche Entscheidung noch nicht für sich selbst treffen können!“

    Dann muss man konsequenterweise auch Impfungen unter Strafe stellen, weil Säuglingen und Kindern ohne deren Einverständnis geimpft werden.

    Der geneigte Leser wird jetzt behaupten Impfungen seien medizinisch sinnvoll, da läge der Unterschied.

    Die medizinische Indikation der Beschneidung ist von der Schulmedizin zweifelsfrei festgestellt, dazu noch mit weit geringeren Risiken und unerwünschten Nebenwirkungen, wie sie bei Impfungen üblich sind.

    Hoffentlich wird diese Diskussion dazu führen, dass man in Deutschland die Beschneidung von Neugeborenen genauso wie Impfungen als medizinisch notwendig betrachtet und als Krankenkassenleistung als Versicherter im Rahmen der Vorsorge erstattet bekommt.

    • Ich denke, der Vergleich zu Impfungen hinkt, obwohl es sicherlich auch genug Kritiker dieser medizinischen Vorbeugung gibt.

      Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass bei der religiös motivierte Beschneidung erst einmal die Religion im Vordergrund steht. Bei Juden – meines Wissens nach – noch mehr, als bei Moslems.
      Es findet also schon so eine Art religiöser Festlegung durch die Eltern statt.
      Die medizinischen Vorteile dürften hier eher im Hintergrund stehen, was auch dadurch deutlich wird, dass das Urteil von Gläubigen oftmals als Rassismus oder Antisemitismus gewertet wird.

      Ob eine Beschneidung nur medizinische Vorteile mit sich bringt, ist auch nicht völlig umstritten.
      Ebenso wie auch Impfungen umstritten sind. Stichwort Pockenimpfung.

      Entsprechen wünsche ich mir bezüglich dieser Themen eine ergebnisoffene Diskussion und keine die darauf abzielt, ein gewünschtes Ergebnis zu erwirken.

  9. Tja, echt genial: 67 Jahre nach der Shoa erfindet ein deutsches Gericht einen „gewaltfreien“ Weg, Deutschland „judenfrei“ zu machen…

    Mit „Pfui Spinne“ und wütendem Gruß!

    • Es bedarf schon einer guten Portion Verblendung oder aber Wille zur Polemik, um das Urteil in den Kontext zur Shoa zu stellen.

      Sieht man mal davon ab, dass das Urteil in Bezug auf die Beschneidung eines moslemischen Jungen ergangen ist, also das Judentum nicht einmal Teil des Prozesses war, hatten die Richter zwischen zwei fundamentalen Grundrechten abzuwägen: dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und der Religionsfreiheit.

      Da Letzteres auch beinhaltet, sich frei zwischen verschiedenen Religionen und dem Atheismus zu entscheiden und eine Beschneidung eine religiös motivierte irreversible Veränderung des Körpers darstellt, ist das Urteil aus einer säkularen, rechtsstaatlichen Sicht durchaus nachvollziehbar. Denn die Betroffenen sind Kinder, die eine solche Entscheidung noch nicht für sich selbst treffen können!

      Ob das Urteil mit Blick auf die Gesellschaft, der Geschichte oder dem Grundrecht der Religionsfreiheit insgesamt als glücklich zu bezeichnen ist, steht auf einem anderen Blatt.

      Die Art, ein rechtsstaatliches Urteil durch einen verkappten Antisemitismusvorwurf in den Schmutz zu ziehen, entlockt wiederum mir ein „Pfui Spinne!“.

      Gruß,
      Bluesmaker

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