Jüdische Demokratie: Ein seltsamer Fall?

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Israels Charakter als jüdischer und demokratischer Staat wird in der nationalen und internationalen Debatte immer wieder angefochten. In der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Azure hat nun der israelische Rechtsgelehrte und frühere Minister Amnon Rubinstein einen grundlegenden Aufsatz veröffentlicht, der zu dem Ergebnis kommt, dass sich die beiden Elemente des israelischen Staatsverständnisses keineswegs ausschließen müssen. Als Voraussetzung dafür führt der Autor eine national-kulturelle und eben nicht religiöse Interpretation der jüdischen Identität ins Feld…

Amnon Rubinstein

„Obwohl die Bedenken hinsichtlich Israels zweifältiger Identität zahlreich und verschiedenartig sind, haben sie doch eines gemeinsam: Sie alle setzen voraus, dass der Staat jüdisch im religiösen Sinne des Wortes ist. Ich werde jedoch zu zeigen versuchen, dass wir, wenn wir Israels Jüdischkeit als wesentlich national oder kulturell statt religiös definieren – und damit zu Herzls ursprünglicher zionistischer Vision zurückkehren -, entdecken würden, dass viele (wenn nicht alle) dieser Bedenken sich als null und nichtig erweisen würden und ein jüdischer Staat in letzter Konsequenz in keiner Weise mit dem liberal-demokratischen Staat in Widerspruch steht.“

„Ziel des Zionismus ist immer gewesen, die Juden in ein normales Volk zu verwandeln, „eine Nation wie alle anderen“. Wird Israel jemals ein säkularer jüdischer Staat werden? Herzl, Jabotinsky und Ben-Gurion hofften dies ganz gewiss, aber die bisherige Erfahrung Israels hat das Gegenteil bewiesen. Einerseits beeinträchtigt der andauernde Konflikt mit den Arabern die Fähigkeit des Landes, in einem fortschrittlichen, liberalen Sinne demokratisch zu werden. Ja, Israel ist eine Demokratie mit Schwachstellen. Aber andererseits haben alle Demokratien Schwachstellen, jede auf ihre eigene Weise. Wenn Israel mit anderen Staaten verglichen werden soll, dann nicht mit solchen, die in Frieden und Sicherheit leben, sondern mit solchen, die von Krieg und Gewalt betroffen sind. An diesem Standard gemessen, schlägt sich Israel erstaunlich gut. Dennoch bleibt die Notwendigkeit, die israelische Demokratie zu perfektionieren, bestehen. Die Notwendigkeit, den säkular-nationalen Zionismus von den Fesseln der ultraorthodoxen Sichtweise auf das Judentum zu befreien, ist in der Tat eine Angelegenheit von größter Bedeutung geworden. Die jüdische Tradition, die unter den Bedingungen von Exil, Verfolgung und Leid formuliert wurde, muss neu interpretiert und den Bedürfnissen einer modernen, pluralistischen Gesellschaft angepasst werden.

Dies ist keine leichte Aufgabe. Der Oberste Gerichtshof hat darauf bestanden, dass die beiden leitenden Attribute „jüdisch“ und „demokratisch“ auf solch eine Weise verstanden werden müssten, dass sie kompatibel miteinander sind. Nach dem ‚Grundgesetz: Würde und Freiheit des Menschen‘ hat das Gericht die Macht, die gesamte Gesetzgebung der Knesset juristisch zu prüfen, die diesem Gesetz nachfolgt, aber nicht die, die ihm vorangegangen ist. Doch ist es genau die letztere, die im Kontext unserer Diskussion problematisch ist. Damit Israel vollends demokratisch werden kann, müssen radikale Änderungen in der Gesetzgebung vorgenommen werden, die gegenwärtig immun gegenüber juristischer Überprüfung ist. Diese müssen die Einführung der Zivilehe und Zivilscheidung beinhalten; ein Einwanderungsgesetz, das die Rechte von Nichtjuden berücksichtigt; ein Konversionsgesetz, dass nicht exklusiv orthodox ist; ein Gesetz, das alle Denominationen des Judentums anerkennt; und ein Grundgesetz, dass die Religionsfreiheit schützt.

Dies sind Angelegenheiten, die die israelische Gesellschaft und ihre Politiker in den kommenden Jahren werden anpacken müssen. Die Aussichten, dass solche Rechtsreformen in der nahen Zukunft stattfinden werden, sind angesichts des wachsenden Einflusses der ultraorthodoxen Gemeinde gering. Gleichzeitig erlebt Israel jedoch den Aufstieg eines aktivistischeren säkularen Sektors, der durch die Einwanderer aus der früheren Sowjetunion verstärkt worden ist. Trotz gegenteiliger rechtlicher Definitionen durchlaufen viele nichtjüdische Einwanderer eine Art von säkularer Konversion: Sie besuchen jüdische Schulen, dienen in der Armee und werden praktisch ununterscheidbar von säkularen israelischen Juden. Ob dieser Prozess das Wesen jüdischer Identität ändern oder am Ende absterben wird, bleibt abzuwarten.

Eine national-kulturelle Interpretation jüdischer Identität, wie sie hier vorgeschlagen wird, würde einen weiteren Vorzug haben: Sie würde nicht nur einige der schwierigsten Probleme der israelischen Gesellschaft entflechten, sondern auch die Spannungen mildern, die ihre Beziehungen mit dem palästinensischen Volk und der israelisch-arabischen Minderheit charakterisieren. Eine nicht-religiöse, nicht-messianische Betrachtung des jüdischen Staates würde gemeinsam mit einer Betonung seiner demokratischen Aspekte die Unterstützung für eine Zwei-Staaten-Lösung festigen – und das Erreichen eben dieser erleichtern. Und sie würde gewiss die Lage der israelischen Araber verbessern, die sich dann nicht von anderen nationalen Minderheiten unterscheiden würden, die in einer liberalen Demokratie leben.

Wollen wir also zur Anfangsfrage zurückkehren: Kann Israel sowohl jüdisch als auch demokratisch sein? Die Antwort ist – wie dieser Essay hoffentlich gezeigt hat – alles andere als einfach. Wenn wir genug Mut dazu haben, zu versuchen, eine Art von ehrenvollem Modus Vivendi mit unseren arabischen Nachbarn zu finden; wenn wir die Verantwortung auf uns nehmen, die jüdische Tradition in einer liberalen, toleranten Weise neu zu interpretieren; und – am wichtigsten – wenn wir die Weitsicht besitzen, den jüdischen Nationalismus zu einem Konzept zu erheben, das vollends kompatibel mit einem wahren demokratischen Ethos ist – dann ist die Antwort am Ende ‚Ja‘.“

Azure 41/Sommer 2010