Judentum: Ohne Dogmen – gegen Fundamentalismen

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Die jüdische Glaubenslehre ist, wie es Leo Baeck in seinem Werk über „das Wesen des Judentums“ schreibt, im stetigen Ringen ums geistige Dasein, Religionsphilosophie geblieben. Sie ist weder eine bloße Schulphilosophie geworden, die nur den geforderten Beweis zu führen hat, noch eine Tagesphilosophie, die der gesicherten Macht ihre Zierrate herstellt…

Aus Leo Baecks „Das Wesen des Judentums“

Judentum als Religionsphilosophie: Nachdenken über Gott und die Welt

Sie war das ideelle Dasein der Gesamtheit, die Angelegenheit aller, die das Bewusstsein hegten, zur Gemeinde zu gehören, aller, die gebildet sein wollten, und im Religiösen wollte zumeist jeder es sein. Fast jeder wollte mit seinen Gedanken die Welten befragen, die um ihn waren. Weniges ist für die jüdische Gemeinde während ihres Weges durch die Jahrhunderte so kennzeichnend geworden wie dieses Philosophieren. Dieses Suchen und Forschen, das Sinnen und Grübeln, das nie beendet sein will, hat dem Juden seinen Ausdruck, den sprechenden Zug seines geistigen Antlitzes gegeben.

Judentum ist mannigfaltig und undogmatisch

Im Prüfen und Wägen wurde dann bald dieser bald jener Gedanke herausgehoben, in Streit und Abwehr jetzt der eine und dann der andere Begriff weiter in den Vordergrund gerückt, und die Linien der Lehre schienen oft zu wechseln und zu schwanken. Länder und Zeiten gaben dazu ihre Verschiedenheit. So sehr die Grundsätze der Religion feststehen und im Gemeindebewußtsein gesichert bleiben, so wurde doch nicht immer dasselbe gleich stark und als gleich notwendig empfunden. Etwas Wogendes, ein Auf und Ab kommt damit in den jüdischen Gedankenkreis.

Man hatte die Philosophie, aber man musste dafür ein anderes entbehren: die Bestimmtheit einer umschriebenen und stetigen Glaubenslehre, den sicheren Aufbau der Bekenntnisformel. So gesehen hat das Judentum überhaupt keine Dogmen und infolgedessen ja auch eigentlich keine Orthodoxie.

Selbstverständlich leben in jeder positiven Religion klassische Sätze von Geschlecht zu Geschlecht fort. Eine „alte heilige Kunde der Glaubenswahrheit“, ein depositum fidei, ehrwürdige Worte, in denen der Klang von Offenbarung und Geschichte singt und schwingt. Aber ein Dogma im genauen Sinne ist das noch nicht. Dieses wäre erst vorhanden, wenn in festen Begriffen eine bestimmte Formel geprägt und von einer eingesetzten maßgebenden Autorität für verbindlich erklärt worden wäre, um den Heilsbesitz zu bezeichnen, von dessen Annahme Rechtgläubigkeit und Seligkeit abhängen. Alle diese Voraussetzungen fehlen im Judentum.

Man brauchte hier nicht die gesicherte, unverbrüchliche Formel; denn sie ist nur dort notwendig, wo im Mittelpunkt der Religion ein geheimnisvoller, weihender Glaubensakt steht, der allein das Tor der Erlösung öffnet, und der darum seine begriffliche, überlieferbare Darbietung verlangt… Das Judentum hielt sich immer in einer gewissen Nüchternheit, die mehr fordern als geben will. Darum hat es die Fülle der Gebote gesucht, aber die Sakramente und ihre Mysterien abgelehnt; soweit Ansätze zu ihnen vielleicht vorhanden waren, sind sie schon früh überwunden worden. So war es einfach nicht erforderlich, eine entscheidende Formel, ein den Besitz (der „absoluten Wahrheit“) verbürgendes Symbolum, zu schaffen und weiterzugeben.

Ebensowenig war es notwenig den Glaubensinhalt völlig und ein für allemal begrifflich zu umfrieden. Das Bedürfnis danach stellt sich nur dort ein, wo die Erleuchtung und die Erlösung einander gleichgestellt werden, wo nur das ganze Wissen, die Gnosis, zum Heile führt, und jeder Mangel und Irrtum den Weg versperrt. Wenn so der rechte Glaube zur Gabe wird, von der alles abhängt, dann bedarf er in der Tat seiner Geschlossenheit und Endgültigkeit, in der alles enthalten ist, dann muss sein Ausdruck vom Anfang bis zum Ende festgefügt und gesichert bleiben; jede Lücke und jede falsche Linie würde ein Verhängnis sein. Im Judentum haben die Glaubenssätze nie diese Bedeutung gehabt; sie galten nicht als die Bedingung der Seligkeit, noch standen sie daher unter dem Zeichen des Alles oder Nichts.

Geheimnis und Glauben

Während das „Wissen und das Geheimnis“ im Christentum etwas Reales ist, etwas, was im Sakrament greifbar wird, ist es im Judentum ein Ideelles. Es bezeichnet hier das Unerforschliche, das, was Gottes und nicht des Menschen ist, das, was nur geahnt werden kann. Vor dem Wesen Gottes breitet sich das Dunkel der Ferne, durch das kein Sterblicher hindurchschaut, und nur die Andacht mit ihrem Sinnen und ihrem Schweigen kann ihm nahen.

In die Welt des Menschen treten hier die Gebote; das Gute tun, das ist auch aller Weisheit Anfang. Die Menschenpflicht steht vor dem Wissen von Gott, und dieses selbst hat weniger den Sinn des Besitzens als den des Suchens und Forschens. Was die Gottheit vom Menschen fordert ist im Alltag gegeben. „Prinzipien der Lehre, der Torah“, sind daher, wie der Talmud sagt, die Grundsätze des frommen Handelns. Sie sind religiös festgelegt, und sie haben ihre bestimmten Antworten. Dem gegenüber bleibt die Glaubenslehre in vieler Hinsicht frei, sie verzichtet auf ihre einmaligen endgültigen Abschlüsse und Bindungen. So fehlt eine weitere wesentliche Bedingung der Dogmatik.

Es gibt gegen die Dogmatik kaum ein stärkeres Hemmnis, als die Bedeutung, den die fromme Tat im Judentum einnimmt. Die bestimmte, begriffliche Feststellung des religiösen Gutes setzt am ehesten dann ein, wenn der Glaube als Wissen aufgefaßt wird und dieses Wissen dann als Glaube wieder dem Volk dargereicht werden soll. An vielen Beispielen zeigt es die Geschichte der Kirche: Väter des Dogmas sind vor allem die Männer geworden, die von der Philosophie zur Religion herkamen und sie eines Tages in ihr wiederentdeckten. In ihrer Philosophie hatten sie ihre Wahrheit, die alte und jetzt die neue; nun sollte dieselbe in fertiger Form auch dem Volke als seine Glaubenslehre gewährt sein — als die Wahrheit für den Armen im Geist, wie Origenes sie benennt, und wie im Grunde auch Hegel sie noch versteht. Die Religion der Wissenden und die der Unwissenden sollten im Dogma eins werden.

Im Judentum war dieses Verbindende die Forderung des religiösen Handelns, sie erging von vornherein an alle, an die Großen wie die Kleinen, und forderte von ihnen das Gleiche; sie wollte „das Reich von Priestern und das heilige Volk“ schaffen. Ihr Raum und auch ihr Eifer dehnten sich so weit aus, daß für eine Dogmatik wenig oder nichts mehr übrig blieb.

Geistliche Autoritäten

Dazu kommt, dass die jüdische Glaubensgemeinschaft des Subjektes, welches Dogmen schaffen kann, entbehrt, zum mindesten seit sie die Zusammenfassung der Autorität verloren hat, die sie eine Zeit lang im Synhedrium und danach, innerhalb gewisser Grenzen, durch das sogenannte Gaonat besessen hatte. Verbindliche Bekenntnisformeln kann nur eine geistliche Behörde feststellen, die im Namen der Gesamtheit spricht und Gehorsam heischt und auch über die Mittel verfügt, sich gegen Widerstrebende durchzusetzen. Wer die Macht besitzt, bestimmt hier auch über die Wahrheit.

In ihrer ganzen harten Folgerichtigkeit zeigte sich diese Dogmenbildung in den ersten Jahrhunderten der Kirche bei den Parteien, die mit kaiserlichen Edikten oder mit den Waffen die Geltung eines Glaubenssatzes durchführten, und dann später nach der Reformation, als das Prinzip aufgestellt wurde, dass der Landesherr auch der Glaubensherr sei. Die kirchlichen Gewalten, sei es Bischof, Papst und Konzil oder ein weltliches Kirchenregiment, sind das Entscheidende. Sie hat es für das Judentum nicht gegeben; man hatte hier eine sichere Überlieferung mit ihrer Sukzession der Lehrer, aber keinerlei geistliche oder staatliche Hierarchie. Wenn zu manchen Zeiten eingesetzte Autoritäten bestanden, die freilieh immer sehr bald wieder schwanden, so haben sie doch nie Befugnisse besessen, die sich auf die Glaubensbegriffe erstreckten. So fehlten die Vollmachten, kraft deren ein Dogma, wofern das Bedürfnis nach ihm vorhanden gewesen wäre, hätte festgelegt werden können. Keine Behörde konnte für alle maßgebend die Grenzen abstecken. Der Wille und die Überzeugung, dem Judentum zuzugehören, blieb das Eigentliche und Bestimmende.

Die Glaubenslehre und der Kampf ums geistige Dasein

Bisweilen sind zwar trotzdem Versuche gemacht worden, feste Formeln zu schaffen. Im Talmud steht an wichtiger Stelle ein Satz, der das ewige Leben denen abspricht, welche gewisse Lehren leugnen; bezeichnender Weise hält er sich im Negativen zurück. Im Mittelalter haben karäische Lehrer unter der Einwirkung des Islam Glaubensartikel aufgestellt. Wohl unter dem gleichen Einfluss haben dann auch einige andere der religiösen Denker dieser Zeit, unter ihnen einer von dauerndem höchstem Ansehen, es unternommen, den Lehrinhalt des Judentums in eine Anzahl von Sätzen festzulegen. Aber zu Dogmen haben diese nie zu werden vermocht.

Die suchende Religionsphilosophie hat sich immer ihren Platz gewahrt, und selbst sie hat eigentlich stets mehr eine Methode als ein System gegeben. Wichtiger als die Ergebnisse blieben immer die Prinzipien. Gegen den Ausdruck war man duldsam und fast gleichgültig, und nur die Ideen hielt man fest. Das Judentum und mit ihm der Jude behielten ihren unorthodoxen Zug; sie haben nie im Frieden des Dogmas ausruhen können noch wollen.

Die Furcht vor der Freiheit

Es hat manchem darum hier etwas gefehlt, so sehr, dass draußen bisweilen die Meinung ausgesprochen worden ist, das Judentum sei alles, nur eben nicht eine Religion. Man sah sie hier nirgends, weil man die festen Begriffe, den bestimmten Wortlaut des Bekenntnisses nicht fand. Und auch drinnen, in der jüdischen Gemeinde, ist nicht selten, besonders in Übergangszeiten, dieses selbe als ein Mangel empfunden worden; man vermisste das Gefüge der Sätze, an das man sich halten konnte. Ohne das Dogma schien der Glaube seiner Sicherung zu entbehren, in der er deutlich dargestellt und überliefert werden konnte. Unzweifelhaft liegt darin auch manch Richtiges. Aber zum Wesen des Judentums gehört, dass diese Stütze und Bindung fehlt; ein Stück seines historischen Charakters ist ihm damit gegeben.

Ursprung und Geschichte haben ihm zu eigen werden lassen, dass es nicht das Dogma hat, aber dafür die Religionsphilosophie. Sie sollte das Gute bieten und die Gefahren vermeiden. Sie stand unter dem Gebot, den religiösen Besitz immer neu zu schaffen, und damit ist er schließlich doch am besten gesichert worden und zugleich davor bewahrt, dass die Formel und das System ihn umklammerten. Vor die Stelle der abgeschlossenen Begriffe trat immer die Forderung der unablässigen Gedankenarbeit.

Schon hierdurch hat sich das Judentum eine geistige Beweglichkeit und Frische erhalten. Das Dogma ist durch seinen fest umschriebenen Ausdruck einer bestimmten Wissens- und Kulturperiode verbunden, und damit verstrickt es sein Schicksal schließlich doch in das ihre. Von dieser Verquickung konnte sich das Judentum immer wieder frei machen, und es stand darum viel seltener als andere Religionen in einem Zwiespalt zwischen Glaubenslehre und Glaubenswahrheit. Weil sich seine Gedanken keiner Zeit bleibend zugesagt hatten, konnten sie vor die fordernde Gegenwart empfangend oder verweigernd hintreten und für den Geist der Zukunft dann wieder offen sein.

Talmud Torah, keneged kulam:
Drehe und wende sie (die Lehre) nach allen Seiten, denn alles ist in ihr enthalten

Der Kampf um das ideelle Dasein hat im Judentum die Fähigkeit, das eigene Leben immer wiederzugewinnen, entwickelt…
In dem Gebot zum Lernen und Forschen und seelischen Ringen erwuchs die Entschlossenheit, sich niemals den Gedanken der Macht oder der Zeit zu unterwerfen, der Wille, immer den eigenen Weg zu gehen. Der Mut zu sich selber wurde das Daseinsgesetz, er hat der israelitischen Religion das persönliche Leben gegeben.

>> Fortsetzung…

Einmalige Sonderausgabe des Gesamtwerkes. Das Vermächtnis eines der wichtigsten jüdischen Denker des 20. Jahrhunderts. Eine Einladung, Leo Baeck (wieder) zu entdecken.Für Leo Baeck waren Lehren und Tun eins. Das Judentum sah er als die stets gegenwärtige Verantwortung für die Welt und ihren Bestand. In Theresienstadt war er der Tröster und Helfer: H.G. Adler verglich ihn mit einem Leuchtturm im Tränenmeer der Verzweiflung; seine Gegenwart im Lager vermittelte vielen Menschen Mut und Hoffnung.
Der 50. Todestag von Leo Baeck war 2006 Anlass für die Herausgabe einer Sonderausgabe der Werke Leo Baeck. Zwei Arbeiten ragen aus dem Gesamtwerk heraus: Sein Frühwerk Das Wesen des Judentums (1905) und sein Spätwerk Dieses Volk. Jüdische Existenz (1955), das als ein großes Vermächtnis gelesen werden kann, in dem sich die Gedanken dieses Systematikers moderner jüdischer Theologie vollenden. Gleichzeitig ist diese Werkauswahl eine Einführung in die Lehre und auch das Leben Leo Baecks.
Das Werk: Band 1: Das Wesen des Judentums Band 2: Dieses Volk Band 3: Wege im Judentum Band 4: Aus Drei Jahrtausenden. Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte Band 5: Nach der Schoa – Warum sind Juden in der Welt? Band 6: Briefe, Reden, Aufsätze…

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