Schalom: Das unanständige Wort

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Die Hoffnung auf Frieden ist untrennbar mit den Zielen des Zionismus verbunden. Aber diese Hoffnung wurde zu oft enttäuscht. Was war mit der größten Hoffnung geschehen, dem Oslo-Abkommen und dem historischen Händeschütteln 1993? Rabin und Arafat. Dann der Mord, Camp David 2000. Man kann von gewöhnlichen Leuten nicht erwarten, dass sie untersuchen, was wirklich geschehen ist, und warum. Sie sehen nur, dass wir auf Frieden hofften – und Krieg bekamen…

Uri Avnery

ZU VIELEN WICHTIGEN Kämpfen werden in Israel Menschen mit Gewissen aufgerufen.

Unter anderem (in zufälliger Reihenfolge) :

  • Zum Kampf, um die Umwelt und die Zukunft des Planeten zu erhalten.
  • Zum Kampf für Demokratie gegen faschistische Trends.
  • Zum Kampf für die Menschenrechte und die Bürgerrechte
  • Zum feministischen Kampf
  • Zum Kampf für die Rechte von Schwulen und Lesben.
  • Zum Kampf für soziale Gerechtigkeit und soziale Solidarität.
  • Zum Kampf für gleiche Rechte für Israels arabische Bürger.
  • Zum Kampf gegen die Diskriminierung der orientalischen Juden.
  • Zum Kampf für die Trennung von Religion und Staat.
  • Zum Kampf für die Rechte der Tiere.
  • Etc. etc. etc.

Was haben diese gemeinsam?

Allen gemeinsam ist eine liberale, „progressive“ Weltanschauung.
Jeder einzelne Kampf verdient eine Hingabe aus vollem Herzen, besonders von jungen Menschen.
Aber alle dienen heute schließlich als Ersatz für die Hauptschlacht – den Kampf für Frieden mit dem palästinensischen Volk.

ES BESTEHT die Gefahr, dass all diese Kämpfe zu einer Zufluchtsstätte für junge Idealisten werden, die ihre Energie einer edlen Sache widmen wollen, aber keine Kraft mehr haben, sich am Hauptkampf zu beteiligen.
Da jeder einzelne dieser Kämpfe tatsächlich wichtig und für eine gute Sache ist, kann man mit diesen Aktivisten nicht streiten. Jede Menge von Organisationen sind jetzt auf diesen Gebieten aktiv und Tausende wunderbarer Menschen – Männer und Frauen, Alte und Junge widmen sich diesen Problemen. Auch ich wäre bereit, mich jedem einzelnen von ihnen zu widmen, gäbe es da nicht —-
Wäre da nicht die Tatsache, dass sie alle – alle zusammen und jeder einzelne für sich – dem Kampf für Frieden die Lebenskraft abziehen. So wie ich es sehe, steht der Frieden über allem anderen, weil der Erfolg aller anderen Kämpfe vom Ergebnis dieses einen Kampfes abhängt.

Der nicht enden wollende Krieg schafft eine Realität der Besatzung und der Unterdrückung, von Tod und Zerstörung, moralischer Degeneration und allgemeiner Brutalität. Kann in solch einer Situation irgend ein Ideal realisiert werden? Kann z.B. Feminismus in einem Land blühen, das in den Klauen eines hemmungslosen chauvinistischen Militarismus liegt? Können Tiere vor Folter gerettet werden, solange es an der Tagesordnung ist, dass Menschen gefoltert werden? Können Flüsse und Wälder, die Lebensräume für Vögel und Leoparden gerettet werden, wenn Wohnviertel mit weißem Phosphor bombardiert werden?

DIE HAUPTFRAGE ist natürlich, warum Menschen mit Gewissen der Vision des Friedens den Rücken kehren können.
Die Antwort hängt wohl auch damit zusammen, dass schon das Wort „Schalom“ eine Peinlichkeit angehängt wurde. Man sagt nur Naivlinge und Trottel würden diesem Traum noch anhängen. Träumer mit Hirngespinsten. Eine ehrbare Person, die noch ernst genommen werden möchte, wird lieber nicht in Gesellschaft solcher Phantasten gesehen werden wollen. Vom Frieden sollte in einer anständigen politischen Gesellschaft nicht gesprochen werden. Und so machen viele Leute verbal fast schon akrobatisch anmutende Übungen, um dieses Wort zu vermeiden. Politiker sprechen über das „Ende des Konfliktes“, über einen „permanenten Status“, die „politische Regelung“, nur um das Tabuwort zu umgehen.

Warum?

Zunächst einmal ist das Wort „Frieden“ so abgenützt worden, dass es fast keine Bedeutung mehr hat. Es ist so oft missbraucht worden, dass es verschlissen ist. Um einen klassischen Satz des britischen Philosophen Dr. Samuel Johnson zu paraphrasieren: „Frieden ist die letzte Zuflucht für einen Schurken.“ Oder um den Slogan des bösen Empire in George Orwells „1984“ zu wiederholen: „Krieg ist Frieden“.

Die Hoffnung auf Frieden ist so oft hoch gekommen und so viele Male in tausend Stücke zerschlagen worden, dass die Hoffnung selbst schon Verdacht und Ängste verursacht. Was war mit der größten Hoffnung geschehen, dem Oslo-Abkommen und dem historischen Händeschütteln 1993? Was war bei der triumphalen Reise des Ehud Barak nach Camp David 2000 geschehen? Man kann von gewöhnlichen Leuten nicht erwarten, dass sie untersuchen, was dort wirklich geschehen ist, und wem man die Schuld geben muss. Sie sehen nur die klaren Fakten: wir hofften auf Frieden, wir bekamen Krieg.

Die Dinge sind an einen Punkt gekommen, wo sogar Friedensbewegungen Angst haben, das Wort in ihren politischen Statements zu erwähnen. Auch sie suchen nach Ersatzwörtern.

Man ist inzwischen überein gekommen, dass man auf junge Leute nicht mehr zugeht, um mit ihnen über Frieden zu sprechen. Gott bewahre! Sie sind davon überzeugt, dass Krieg ein Dauerzustand und dass Frieden eine Illusion ist, nichts als eine leere Phrase der Alten. Sie glauben, dass sie und ihre Kinder und deren Kinder (falls sie hier bleiben) dazu verurteilt sind, immer und immer wieder in den Krieg ziehen zu müssen, bis ans Ende aller Zeiten. Sie wollen ihre Zeit nicht länger mit diesem Friedens-Unsinn vergeuden. Besser ist es, die letzten Leoparden in der Judäischen Wüste und die Adler auf den Golanhöhen zu bewahren, als nach der Friedenstaube zu suchen, die sie nie gesehen haben.

Die Linken sind stolz darauf, dass die Vision „Zwei Staaten für zwei Völker“ – einmal die Vision einer Handvoll von Verrückten, – nun zu einem weltweiten Konsens geworden ist. Tatsächlich, ein großer Sieg. Aber er wurde durch den Erfolg der Rechten übertrumpft, die „Wir haben keinen Partner für den Frieden“ in ein nationales Credo verwandelt haben.

In moderner Sprache: Frieden ist passé – alles andere ist aktuell.

IN DIESER WOCHE bemerkte der Journalist Gideon Levy bei einer TV-Talk-Show, dass in der gegenwärtigen Knesset kein einziges jüdisches Mitglied mehr ist, für das der Frieden das wichtigste Ziel sei.

Einige Leute erwähnen in diesem Kontext das neue Knessetmitglied Nitzan Horowitz. Jahrelang war er ein TV-Kommentator für internationale Angelegenheiten und begeisterte die Zuschauer mit seinem Enthusiasmus für jeden Kampf um Frieden und Freiheit in aller Welt. Sein emotionaler Stil und seine Tendenz, sich mit den Benachteiligten zu identifizieren, hat ihm die Zuneigung des Publikums gebracht.
Aber seitdem er im Parlament ist, scheint seine Flamme erloschen zu sein. Nun führt er einen geräuschvollen Kampf gegen den Preiskrieg zwischen den Buchläden. Und wie ist es mit Frieden? Was mit Besatzung? Bitte, Schweigen!

Doch dieses Verhalten trifft man bei der gesamten MeReZ-Fraktion, die in ihrer Glanzzeit als Vorhut des zionistischen Friedenslagers in der Knesset diente. Seitdem haben sich die Dinge zum Schlimmeren verändert. Um etwas von ihrer Stärke zurück zu erlangen, ignoriert sie die Sache des Friedens so weit als menschenmöglich. Wenn es gar keine andere Möglichkeit mehr gibt, erwähnen sie ihn flüchtig, so wie ein Jude die Mesusa im Vorbeigehen küsst oder wie ein katholischer Christ sich bekreuzigt und schnell weitergeht.

Shulamit Aloni

Es ist eine interessante Geschichte. Als Shulamit Aloni 1973 am Vorabend des Yom Kippur-Krieges die Partei gründete, war sie hauptsächlich als Aktivistin für die Bürgerrechte bekannt. Sie war besonders im Kampf für die Frauenrechte engagiert und gegen religiösen Zwang. Der Frieden war für sie ein sekundäres Ziel. Aber als Führerin von Meretz wurde sie immer mehr davon überzeugt, dass keines ihrer Ziele in einer Kriegsatmosphäre verwirklicht werden kann, und Frieden wurde für ihre Ansicht zentral. Als die Partei wuchs, wurde sie die führende zionistische Friedensfraktion.

In den letzten Jahren ist der Prozess rückwärts gegangen, wie ein Videofilm im Rückwärtsgang. Der Frieden wurde von der Agenda verbannt und ist nun fast verschwunden. MeReZ ist wieder eine Partei für bürgerliche Rechte geworden und sank von zwölf Knessetsitzen auf nur mehr drei.

Der Israel Fund und die NGOs

DIE ISRAELISCHE Rechte, die von rechtsgerichteten amerikanischen Milliardären, einige sind Juden, viele sind christliche Fundamentalisten, finanziert wird, hat in dieser Woche einen massiven Angriff gegen den liberalen Israel Fund gestartet, der all die oben genannten Kämpfe unterstützt.

(Übrigens: Gush Shalom hat noch nie einen Cent von dort bekommen. Der Fond vermeidet Friedensbewegungen wie die Pest. Aber das hat ihn nicht gerettet. Die Rechten verfolgen ihn trotzdem. Selbst wenn man „nur“ mit Menschenrechten zu tun hat, kann man diesem Los nicht entkommen. Die Flucht vor dem Frieden bietet keine Sicherheit.)

Das Ziel des Zionismus liegt im Frieden

DIE SACHE des Friedens wird unvermeidlich ins Zentrum der Bühne zurückkehren, weil er unser Schicksal entscheidet, das des einzelnen und das des Staates. Da gibt es kein Entkommen.
Natürlich sollte keiner der oben genannten Kämpfe aus anderen Gründen aufgegeben werden, selbst wenn der Kampf für das Ende der Besatzung und für den Frieden vor allem anderen stehen muss.

Ich schaue auf den Tag in der Zukunft, wenn all die Organisationen, die diese Kämpfe führen, wunderbare Aktivisten, ihren Enthusiasmus, ihre Talente, ihren Mut und besonders ihre Fähigkeit, sich einer Idee zu widmen, in eine einzige Kraft vereinigen werden, im gemeinsamen Kampf für das „Andere Israel“ , deren Speerspitze der Kampf für Frieden ist. In einer großen, vereinigten Bewegung werden alle diese verschiedenen Ziele einander stützen und nähren.

Zusammen werden sie die entscheidende Kampagne führen: den Kampf für die Zweite israelische Republik.

Übers. a.d. Englischen v. Ellen Rohlfs

2 Kommentare

  1. Stimmt das Ziel des Zionismus ist Frieden. Und als es zum OSLO-Abkommen, d.h. gegenseitige Anerkennung PLO-Israel kam, dachten viele Israelis, dass es endlich zum Frieden kommen würde. Doch dann entfesselte Arafat die Intifada 2000 und bestätigte die Rechten in Israel, die behaupteten, die PLO wünsche keinen Frieden mit Israel sondern lediglich eine Hudna.
    In Wirklichkeit leisteten die pal. Freunde Avnerys unbezahlbare Dienste für die israelischen Rechten.

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