Unglücklich war der Streit um den angekündigten Abschied von Charlotte Knobloch, der Präsidentin des Zentralrats der Juden. Die letzte Holocaust-Überlebende an der Spitze des Zentralrats geht, und bei den Jüdinnen und Juden in Deutschland beginnt eine neue Ära. Es ist nicht mehr die jüdische Minderheit mit ihrer kurzen Blüte, die die Republik in den vergangenen zwei Jahrzehnten so verblüfft, aber meist erfreut beobachten konnte. Sondern eine jüdische, sagen wir, Gemeinschaft, die zukünftig wieder ärmer, kleiner und unwichtiger, aber auch pluraler, gegenwartsbezogener und freier sein wird. Der voraussichtliche neue Zentralratspräsident Dieter Graumann passt da ganz gut hinein…
Ein Kommentar von Philipp Gessler, taz v. 09.02.2010
Zunächst zur Armut: Etwa 80 Prozent der Mitglieder jüdischer Gemeinden in Deutschland sind seit Mitte der Achtzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion zugewandert. Das Problem dabei ist, dass über 70 Prozent dieser Zugewanderten erwerbslos sind. Schlimmer noch: Über 80 Prozent sind abhängig von staatlichen Transferleistungen. Das aber ist desaströs für die Gemeindesteuern, denn Erwerbslose zahlen keine Steuern – ein Problem, das die jüdische Gemeinde mit den christlichen Kirchen teilt.
Auch die Mitgliedszahlen werden bald wieder sinken: Zwar ist die Zahl der Gemeindemitglieder seit 1989/90 wegen der Zuwanderung aus Osteuropa von damals etwa 30.000 auf heute 120.000 gestiegen. Ein Drittel der zugewanderten Juden aber ist älter als 60 Jahre. Hinzu kommt, dass die Sterberate in der jüdischen Gemeinschaft derzeit sechs- bis siebenmal höher ist als die Geburtenrate. Von den etwa 200.000 Jüdinnen und Juden, die als „Kontingentflüchtlinge“ seit zwei Jahrzehnten in die Bundesrepublik eingewandert sind, fand nur etwa die Hälfte Aufnahme in den Gemeinden – zum Teil, weil vor allem orthodoxe Gemeinden deren jüdische Identität anzweifelten, zum Teil, weil die oft arbeitslosen Immigranten in ihrem Integrationsstress nicht auch noch ein Engagement in der Gemeinde am Bein haben wollten.
Zugleich zeichnet sich ab – der jüngste Fall Knobloch ist dafür ein Beispiel -, dass die neue jüdische Gemeinschaft in Deutschland weiter an politischer Bedeutung verliert. Gott sei Dank sind auch die Zeiten vorbei, da der Zentralrat von manchen noch als die entscheidende moralische Instanz der deutschen Politik angesehen wurde – über den Koscherstempel, den nichtjüdische Politiker bei manchen zweifelhaften politischen Aktionen oder Aussagen erhofften, wurden in letzter Zeit völlig zu Recht viele bissige Kommentare gemacht. Dabei wäre die jüdische Stimme für die Pluralität der Gesellschaft nach wie vor wichtig. Nun wird sie leiser werden.
Das muss aber nicht nur schlecht sein; darin kann auch etwas mehr Gelassenheit liegen. Überhaupt wird die jüdische Gemeinschaft weiter an Vielfalt gewinnen, in den großen Gemeinden ist dies schon jetzt zu beobachten. Langsam zerbröseln wird wohl auch das Konzept der Einheitsgemeinde, also die Vertretung aller Juden einer Stadt oder Region unter einem organisatorischem Dach. Das gilt zudem, weil das verbindende Leid des Holocausttraumas mit dem Verschwinden der Opfergeneration nur noch indirekt wirken wird. Schon jetzt sind viele jüdische Gemeinden in sich sozial und kulturell so disparat, dass sie fast nur noch in der Holocaust-Erinnerung zu einer Stimme finden. Ob die Religion zukünftig identitätsstiftender wird als bisher, ist angesichts auch einer zunehmenden spirituellen Vielfalt in den Gemeinden fraglich.
Die Gegenwart und Zukunft wird und muss demnach wichtiger werden im Denken und Handeln der Juden in Deutschland. Zum einen, weil der Holocaust als Kitt immer weiter in die Geschichte entrückt, zum anderen, weil die großen geschichtspolitischen Debatten um die NS-Zeit schon geführt scheinen. In den jüdischen Schulen der deutschen Großstädte wächst eine neue jüdische Generation heran, die mit der Verfolgungsgeschichte logischerweise immer weniger anfangen kann, auch wenn sie in der Familientradition weiter leben mag.
Grund für Optimismus
Übrigens könnte diese Entkoppelung auch für die Israel-Solidarität der jüdischen Gemeinden gelten. Der jüdische Staat hat an Strahlkraft verloren. Im Gegenteil: Viele Israelis bemühen sich mit Hinweis auf die Herkunft ihrer Vorfahren um einen deutschen Pass für ihre Kinder, als Eintrittskarte für den sichereren EU-Raum, damit etwa im Fall einer noch konkreteren iranischen Bedrohung wenigstens ein Teil der Familie in Sicherheit ist. Die seit ein paar Jahren gepriesene Hippness der Stadt Berlin für junge Israelis tut ihr Übriges.
Schließlich wird das neue deutsche Judentum in Deutschland freier sein: Freier von den Albträumen der Vergangenheit, freier aber vor allem von den Anforderungen und Erwartungen der Politik. Die finanzielle Förderung des jüdischen Lebens durch die öffentliche Hand wird geringer werden – dafür aber auch die Gängelung, ja häufige Bevormundung der Gemeinden. Darin liegt eine Chance auch für Dieter Graumann, der nicht mehr das natürliche Pathos des Holocaustüberlebenden mit sich herumschleppt und sich als Vermittler in der jüdischen Gemeinschaft und im politischen Feld schon bewährt hat.
Der bisherige Zentralratsvize wird versuchen müssen, mit der übergroßen Mehrheit russischsprachiger Migranten einerseits und der Minderheit der Alteingesessenen andererseits die ersten Schritte eines langen Weges zu gehen: hin zu einem Judentum, in dem die dominante russische mit der deutsch-jüdischen Kultur der Vorkriegszeit vielleicht eine Symbiose finden wird. Sicher ist, das neue deutsche Judentum wird mit dem der Zeit vor dem Holocaust nicht mehr viel zu tun haben. Puschkin wird eher zur Pflichtlektüre gehören als Heine.
Aus dieser wilden russischen, deutschen, israelischen, polyglotten und pluralen Mischung wird eines Tages ein neues deutsches Judentum entstehen. Es ist eine Aufgabe, mit der mindestens eine Generation zu tun haben wird. Die Anfänge, die schon heute zu beobachten sind, stimmen optimistisch.
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