Ulrich Venzlaff: Wegbereiter der Psychotraumatologie

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Ulrich Venzlaff, geb. 1921 in Luckenwalde (Brandenburg), begann 1948 seine wissenschaftliche Laufbahn an der Universitäts-Nervenklinik Göttingen, die damals unter dem Direktorat des Professors Gottfried Ewald stand. Ewald zeichnete sich dadurch aus, dass er im Dritten Reich als praktisch einziger deutscher Universitätspsychiater in dieser Position gegen die Euthanasie Stellung bezogen hatte. Infolgedessen unterstützte Ewald später auch weitestgehend Venzlaffs unorthodoxe Gutachteraktivitäten angesichts von ehemaligen Nazi-Verfolgten…

Hellmuth Freyberger, Hannover und Harald J. Freyberger, Stralsund/Greifswald im Vorwort des Handbuchs der Psychotraumatologie

In diesem Kontext »ereignete sich 1952 ein Fall, der Geschichte machte« (Pross, 1988): Nachdem Venzlaff bei einem ehemaligen Nazi-Verfolgten eine »verfolgungsbedingte Neurose« erkannt hatte, geriet das zuständige Entschädigungsamt in Aufruhr wegen der »Gefahr einer nachfolgenden Lawine von Rentenansprüchen«. Der daraufhin vom Entschädigungsamt für ein Gegengutachten bemühte Tübinger Psychiater Professor Ernst Kretschmer begründete in seitenlangen, rein theoretischen Ausführungen – ohne den betroffenen ehemaligen Verfolgten persönlich gesehen zu haben, dass es eine »verfolgungsbedingte Neurose« nicht geben könne, da die Ausgleichsfähigkeit des Organismus bei schweren psychischen Traumen unbegrenzt sei.

Nunmehr sorgte die Entschädigungskammer des zuständigen Gerichtes insofern für eine große Überraschung, als sie das Gutachten des damaligen Assistenzarztes Venzlaff bejahte und jenes von Kretschmer als nicht überzeugend zurückwies. Im Jahre 1956 habilitierte Venzlaff mit einer wissenschaftlich bahnbrechenden Schrift zu den Psychoreaktiven Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen. Der von ihm in diesem Kontext geprägte Begriff »erlebnisbedingter Persönlichkeitswandel« war eine der ersten Konzeptualisierungen für anhaltende Folgen schwerer Traumatisierungen, die wesentliche strukturelle Aspekte der Persönlichkeit betreffen und die u.a. in der ICD-10 unter der diagnostischen Kategorie einer anhaltenden Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung wieder aufgegriffen wurden.

Das Besondere dieser in den 1960er Jahren von ihm vertretenen Position stellt sich für einen jüngeren Leser angesichts der heute unbestrittenen Relevanz der Psychotraumatologie kaum mehr dar. Aber tatsächlich stand einer kleinen Gruppe von wissenschaftlich arbeitenden Psychiatern und Psychotherapeuten, zu denen neben Venzlaff u.a. von Baeyer, Hafner, Kisker und Matussek gehörten, eine Mehrheit deutscher Universitätspsychiater gegenüber, die die Relevanz von Traumatisierungen nahezu vollständig verleugneten und die Karrieren ihrer inhaltlichen Gegner zu behindern versuchten (Freyberger & Freyberger, 2007). Kurt Eissler führte dies 1963 zu der dieses besondere affektive Klima kommentierenden Bemerkung, dass die betroffenen traumatisierten Menschen eigentlich eine Entschädigung für die Aufregungen und Erniedrigungen erhalten müssten, die sie im Zuge der entsprechenden Wiedergutmachungserfahrungen erlitten.

Von 1969 bis 1986 leitete Venzlaff das Niedersächsische Landeskrankenhaus Rosdorf bei Göttingen. Nach seiner Pensionierung gab er gemeinsam mit Klaus Foerster das umfassende Handbuch Psychiatrische Begutachtung heraus, das mehrere Auflagen erlebte und noch heute als Standardwerk gilt. Der Name Ulrich Venzlaff ist bis heute mit der thematischen Auseinandersetzung mit den Folgen von Realtraumatisierungen verbunden, so dass er als einer der Nestoren der Psychotraumatologie in Deutschland gelten kann.

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Literatur

  • Eissler K.R. (1963). Die Ermordung von wie vielen seiner Kinder muss ein Mensch symptomfrei ertragen können, um eine normale Konstitution zu haben? Psyche, 17, 279-291.
  • Freyberger H.J. & Freyberger H. (2007). Zur Geschichte der Begutachtungspraxis bei Holocaust-Überlebenden. Trauma & Gewalt, 1, 286-292.
  • Pross C. (1988). Wiedergutmachung. Der Kleinkrieg gegen die Opfer. Frankfurt a.M.: Athenäum.
  • Venzlaff U. (1958). Die Psychoreaktiven Störungen nach entschädigungspflichtigen Ereignissen (Die sog. Unfallneurosen). Berlin, Heidelberg: Springer.
  • Venzlaff U. & Foerster K. (2009). Psychiatrische Begutachtung. Ein praktisches Handbuch für Ärzte und Juristen. Hrsg. von Foerster K. & Dreßing H. 5., neu bearb. u. erw. Aufl. München, Jena: Elsevier, Urban & Fischer.

 

1 Kommentar

  1. […] Die Autorinnen und Autoren, allesamt führende Traumaexperten und -therapeuten, bieten eine systematische Zusammenfassung der in Forschung und Klinik gesammelten aktuellen Erkenntnisse und geben einen einzigartigen Ãœberblick über alle Facetten der Traumatologie – inklusive einem ausführlichem Register. Und dass die Herausgeber mit Ulrich Venzlaff nicht nur ein Wegbereiter der Psychotraumatologie, sondern auch einen mutigen und anständigen Menschen ehren, macht sie doppelt sympathisch. Doch wer war Ulrich Venzlaff, der sich für eine Entschädigung von im KZ Traumatisierten gegen die Elite der deu… […]

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