Zum Tode der Psychoanalytikerin Anna Ornstein

2
1122
Foto: Psychosozial-Verlag

Anna Ornstein, 1927 in Ungarn geboren, war eine jüdische Überlebende der Shoah. Nach ihrer Befreiung – da war sie 18 – machte sie in Heidelberg ein Studium der Medizin. 1952 ging sie mit ihrem fünf Jahre älteren Ehemann Paul Ornstein, gleichfalls ein jüdischer Überlebender der Shoah, in die USA und wurde dort, in Cincinnati sowie Chicago, eine bekannte Psychoanalytiker. Immer wieder schrieb sie, als Überlebende, Zeitzeugin und Psychotherapeutin, über die Shoah. Hierfür wurde sie in psychoanalytischen Fachkreisen bekannt. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit hingegen blieb sie, trotz ihrer auch auf deutsch erschienenen Publikationen und Bücher, letztlich unbekannt. Nun ist Anna Ornstein 98-jährig in den USA verstorben.

Von Roland Kaufhold

„Anna Ornstein, Psychoanalyst Who Survived the Holocaust, Dies at 98“ titelte The New York Times in ihrem Nachruf. Trotz des „unspeakable horror“, den Anna Ornstein in ihrer Jugend durchleben musste, habe sie in ihrer neuen Heimat, den USA, „embraced a school of psychotherapy that stresses empathy and the belief that everyone can change for the better“ hebt The New York Times in ihrem Nachruf hervor.

Im Jahr 2009 hatte ich Anna Ornsteins eindrückliches, schmales, sehr persönliches Werk Das Apfelgehäuse besprochen. Anlässlich ihres Todes habe ich ihr Werk noch einmal neu gelesen.

Jugend in Ungarn

Anna Ornstein, geborene Brünn, wird 1927 in Ungarn als jüngstes Kind einer jüdischen Familie geboren. Sie wächst im nordungarischen Dorf Szendro auf. 1942 zieht sie nach Debrecen. In diesem Dorf leben 4000 Menschen, darunter 40 jüdische Familien. In ihrem Dorf gibt es keine Oberschule, keine staatliche Bücherei und kein Krankenhaus. Ihr Vater — die Nationalsozialisten sollten ihn später ermorden — besitzt eine Sammlung deutscher Klassiker und liest eine deutsche Wochenzeitung, „um nicht das gute Deutsch zu vergessen, das er sprach“, wie sie sich in Das Apfelgehäuse (2004, S. 21) erinnert. Besonders beeindruckt ist die 15-jährige Anna von den Zigeunern, denen sie in ihrem Dorf immer wieder begegnet.

Im Frühjahr und Herbst lagern diese, als Zwischenstation ihrer Reisen, auf den Stufen des Elternhauses. Deren lange andauernden musikalischen Hochzeitsfeste hinterlassen in Anna unauslöschbare Spuren: „Wir wollten nicht nach Hause gehen, bevor die Musik ganz zu Ende war …“ (S. 21) 14-jährig hört sie von dem Heranrücken der nationalsozialistischen Armee, es sind ungesicherte Informationen, und doch spürt sie bald, dass es keinen Ausweg mehr gibt.

Als Jugendliche in Ungarn interessiert sich Anna für zionistische Ideen. Eine Übersiedlung in das damalige Palästina erscheint ihr als eine mögliche Lebensperspektive. Und doch sehnt sie sich nach einem gleichberechtigten Leben als Jüdin in Ungarn. Sie erinnert sich:

„Unsere Zukunftsvisionen schienen auf zwei parallelen Wegen zu verlaufen, die schwer miteinander zu vereinbaren waren: auf der einen Seite träumten wir von einem jüdischen Staat, von unserer Auswanderung nach Palästina; auf der anderen Seite lernten wir Latein und Algebra, als ob sich die Türen der ungarischen Universitäten demnächst plötzlich für jüdische Jungen und Mädchen öffnen sollten.“ (2004, S. 25)

1942, da ist sie 15, zieht Anna mit einer Tante nach Debrecen. Dort besucht sie zwei Jahre lang das jüdische Gymnasium in Debrecen, trifft sich wöchentlich mit einer zionistischen Jugendgruppe. Mit großer Hingabe tanzt sie gemeinsam mit ihren Freundinnen stundenlang den ursprünglich aus Rumänien stammenden jüdischen Volkstanz Hora.

März 1944: Besetzung Ungarns

Am 19. März 1944 besetzen deutsche Truppen Ungarn und somit auch ihre Stadt. Debrecen hatte vor dem Krieg ein großes jüdisches Zentrum. Insgesamt 13.084 Juden wurden wohl aus Debrecen deportiert.

Ihre jüdische Schule wird geschlossen. Nun beginnt eine Lebensphase der schlimmsten Bedrohungen und Verluste: Die Familie wird in verschiedene Konzentrationslager verschleppt. Ihr Vater und ihre beiden Brüder verschwinden, werden später von den Deutschen ermordet. Einzig Anna und ihre Mutter überleben das Grauen mehrerer Konzentrationslager.

Der Abschied: Das letzte Treffen mit Bruder und Vater

Ihre Erinnerung an ihr letztes Treffen mit ihrem Bruder Paul, in „Der Abschied“ (Ornstein 2004, S. 29-31) beschrieben, verblasst in ihr nie, wird im Alter eher noch stärker. Sie treffen sich noch einmal auf einem Bahnhof, unter den Augen eines uniformierten Bahnbeamten, umarmen sich:

„Was ich heute vor mir sehe ist der Rücken dieses hellbeigen Wollmantels, und was tief in meine Erinnerung eingebrannt ist sind die Worte, die ich damals dachte: „Dies ist das letzte Mal, dass ich dich sehen werde.“ Ich blieb noch eine Weile und sah ihm zu, wie er zu seinem Zug kroch. (…) Mein Bruder Paul kam nicht zurück von der Ostfront. Bis heute weiß ich nicht, wie und wo er starb.“ (2004, S. 30f.)

Ihre Erinnerungen an ihren 1883 geborenen Vater – seinen Namen nennt sie in ihren Erinnerungen an Auschwitz nicht – sind gleichfalls von einer berührenden Dichte und Wärme:

„Wenn ich an meinen Vater denke, denke ich zuerst an seine Hände. Vater hatte weiche, warme Hände. Als ich ein kleines Mädchen war, machte ich gerne eine feste Faust und vergrub meine kleinen Hände in seiner Handfläche, so dass er sie wärmen konnte.“ (S. 53) Die grausame, willkürliche Ermordung ihres gebildeten, zutiefst an der deutschen Sprache interessierten Vaters hinterlässt in Anna Ornstein eine unheilbare Wunde — von der sie ihren Kindern und Enkeln bei den regelmäßigen familiären jüdischen Festen erzählt:

„Nach all diesen Jahren habe ich die Wahrheit über seinen Tod immer noch nicht akzeptiert, dass dieser liebevolle und ruhige Mann unter einer Dusche starb, die statt Wasser giftiges Gas auf ihn ergoss.“ (S. 54) Und in ihrer Erzählung „Die Schaufel“, die sie wohl Ende der 1980er Jahre nach ihrem ersten Besuch in Auschwitz nach ihrer Befreiung verfasst hat, hebt sie hervor: „Ich weiss, wann und wo mein Vater starb, aber ich tue mich sehr schwer damit, zu akzeptieren wie er starb.“ (S. 114)

„Der Rucksack“ – Bruder Bandi

Es ist März oder April 1944, die Frühlingssonne scheint in Ungarn. Anna ist 17, ihr zarter, belesener Bruder Endre, man nannte ihn Bandi, ist 20. Ungarn ist bereits seit einigen Wochen von den Deutschen besetzt. Annas Bruder Paul ist an der Ostfront, ihr Vater steht unter Hausarrest und auch der zartgliedrige jüdische Bruder Bandi hat den Befehl erhalten, ins Arbeitslager zu gehen. Ihre Mutter und Anna packen kunstvoll der Rucksack ihres Bruders. Dass sie ihn noch einmal wiedersehen werden, sie ahnen, dass die Wahrscheinlichkeit hierfür eher gering ist. Das Bild des Rucksacks und Bandis hat sich in Anna eingebrannt: „Bandi „war ein dünner Junge. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er dasteht mit herausstehenden Rippen. Ich sehe ihn gehen in seiner langsamen, nachdenklichen Art.“ (S. 37) Bandi war der Intellektuelle. Bereits als Anna elf ist empfiehlt ihr Bandi, nun Tolstois Krieg und Frieden zu lesen.

Die Szenen der Abschied von Bandi sind aus Annas Erinnerungen ausgelöscht. 1956, da ist Anna 29, erfährt sie, wo und wie ihr Bruder ums Leben gekommen ist. Das Konzentrationslager Mauthausen war bereits befreit, als Bandi an Typhus stirbt, kurz bevor die Amerikaner kamen: „Seine Freunde sprachen von ihm mit Liebe. Es tat gut, zu wissen, dass sie bei ihm waren, als er starb, dass er nicht allein war.“ (S. 38)

Weitere 15 Jahre später, 1971, erfährt Anna Ornstein von einem Cousin aus Budapest Weiteres über die Umstände seines Todes. Bis zum Spätherbst 1944 war Bandi in Ungarn geblieben. Als Bandi von dem Plan hört, dass seine Einheit außer Landes geschickt werden soll, plant er mit einem Freund zu fliehen. Die beiden Jungen beabsichtigen, sich in einer Wohnung im Ghetto Budapests zu treffen. Es ist Ausgangssperre, als Bandi das Haus betritt. Die Pförtnerin entdeckt ihn, ruft die Polizei: „Die beiden Jungen wurden abgeführt und noch in der Nacht fortgebracht. Die Hausmeisterin erhielt für ihre Dienste von den Behörden 30.000 ungarische Pesos.“ (S. 39) Anna Ornstein ist 44, als sie diese grausamen Details erfährt.

Überlebenskampf und Augenblicke des Glücks

Der größte Teil der Erzählungen in Das Apfelgehäuse kreisen um ihren Überlebenskampf in Auschwitz, wohin sie im Juni 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter verschleppt worden war. In nüchterner, direkter Weise beschreibt sie den von den deutschen Nationalsozialisten systematisch betriebenen Prozess der Entmenschlichung, der Reduzierung des Lebens der wehrlosen jüdischen Häftlinge auf das rein körperliche Überleben:

„Unseren Körpern war jedes bisschen Haar genommen: auf dem Kopf, unter den Armen, in der Scham. Radikale Nacktheit — nannte es Des Pres („The Survivor“, 1976, RK). Diese Worte beschreiben es genau. Sie erfassen das Wesen dieser Erfahrung. Konzentrationslager waren Orte, sagt er, an denen `das menschliche Selbst seiner seelischen wie körperlichen Vermittlung beraubt wurde, bis buchstäblich nichts als der blosse Körper übrig blieb, Zeit und Schmerz zu überdauern. (…) In den Nazi-Lagern verloren sie sogar ihre Namen und ihre Haare.´ Der Übergang von der Zivilisation in das Äusserste vollzog sich innerhalb von Stunden.“ (S. 57f.)

In vergleichbarer Weise haben die Konzentrationslager – Überlebenden Ernst Federn und Bruno Bettelheim diesen Überlebensprozess aus psychoanalytischer Perspektive beschrieben (Federn 2014, Kaufhold 2001).

Ornstein erzählt aus der Perspektive einer Jugendlichen, verbunden mit dem Wissen einer Erwachsenen. Sie beschreibt ihren Überlebenskampf in Auschwitz, immer in der rettenden Anwesenheit ihrer Mutter. Mehr ist ihr nicht mehr geblieben, nur noch ihre Mutter. Sie schreibt über die Zwangsarbeit, die Demütigungen, den täglichen Hunger, den Gefühlen der Unwirklichkeit. Aber sie erinnert auch die kleinen Augenblicke des Glücks, der Hoffnung.

Die Tätowierung

Die Erzählung „Die Tätowierung“ (Ornstein 2004, S. 69-72) beginnt sie mit den Worten:

„Es war ein frischer Herbstmorgen. Weil es noch sehr früh war, war es kalt, aber wir spürten, dass es ein `guter Tag´ werden würde: trocken und nicht allzu kalt. Früh morgens — ich glaube, es war während des Zählappells — wurde uns gesagt, dass wir heute Tätowierungen erhalten sollten.“ (S. 69)

Für Anna Ornstein war dies eine — scheinbar paradoxe – Erfahrung: Sie fühlt sich erstmals wieder als Individuum, schreibt sie in ihrem Shoah-Werk Das Apfelgehäuse im Rückblick, entwickelt wieder ein Gefühl der Identität; verbindet hiermit die Hoffnung, am Leben bleiben zu können.

Das Apfelgehäuse

In der titelgebenden Erzählung „Das Apfelgehäuse“ berichtet Anna Ornstein von ihrem größten Glück in Auschwitz: Während ihres Aufenthaltes in der Krankenstation von Auschwitz — die Verlagerung in die Krankenstation war mit der konkreten Gefahr verbunden, von den Deutschen ermordet zu werden — findet ihre Mutter auf der Strasse in der Nähe des Lagers ein Apfelgehäuse, und bewahrte dieses für Annas 18. Geburtstag auf. Eine beglückende, lebenslang in ihr lebendige, sie ermutigende Erfahrung:

„Und was für ein Geschenk das war! Es waren noch ein paar Bissen dran geblieben. Ich wollte, dass sie ihn mit mir zusammen aß, aber sie bestand darauf, dass es mein Geburtstag war und so aß ich ihn alleine auf. Noch immer esse ich Äpfel lieber als alles andere Obst. Meine Familie zieht mich damit auf, wie ich einen Apfel mit so offensichtlichem Genuss esse und ihn immer ganz aufesse, so dass nichts weggeworfen wird. Was meine Familie vielleicht nicht verstehen kann ist, dass ich mich darauf freue, das Gehäuse zu essen, dass ich das Gehäuse am liebsten esse. Es zu essen hebt meine Lebensgeister und erneuert meinen Glauben an Wunder.“ (S. 89)

1945: Budapest

Die Befreiung am 8. Mai 1945 erlebt Anna Ornstein, gemeinsam mit ihrer Mutter, als eine unglaubliche Erfahrung. Die 18-jährige sieht den deutschen Lagerkommandanten auf einem Pferd fliehen – ein sicheres Zeichen für das Ende des Krieges. Sie schlagen sich nach Budapest durch, und erfahren von der Ermordung ihres Vaters und ihrer beiden Brüder.

Anna und ihre Mutter bleiben in Budapest, ihre Mutter kümmert sich dort in einem Waisenhaus um 40 jüdische Kinder, deren Eltern nicht mehr aus den Lagern zurückgekehrt waren, kocht für sie, versorgt sie. Eine berührende, heilende Erfahrung. Schrittweise gelingt es ihrer Mutter dabei, die doch gerade erst selbst Auschwitz überlebt hat, die Signale dieser Kinder, dieser Überlebenden zu verstehen. Es lohnt sich, Annas Schilderungen über die Arbeit ihrer Mutter mit diesen überlebenden Kindern der Shoah im Original zu lesen:

„Sie waren ausgehungert und hatten traurige Augen. Sie hatten Läuse im Haar, ihre Haut war trocken und aufgestoßen. Wir dachten, sie müssten ständig hungrig sein und deswegen gut essen. Stattdessen hatte jedes Kind ein oder zwei Lieblingsgerichte und fragte bei jeder Mahlzeit danach. Beim Essen versuchten sie, mit ihrer Vergangenheit verbunden zu bleiben, mit etwas Vertrauen. (…)

Es war in einem Waisenhaus für 40 jüdische Kinder, deren Eltern aus den Lagern, oder von wo immer sie währen der Belagerung waren, nicht zurückgekehrt waren. Die Kinder waren von nicht-jüdischen Familien versteckt worden und nun wurden  sie nach dem Ende des Krieges der jüdischen Gesellschaft zurückgegeben. Einige von ihnen hatten die letzten Tage der Belagerung der Stadt im Kanalsystem für das Abwasser verbracht.

Mutter war zuständig für das Waisenhaus, das in einer schönen Villa in einem Außenbezirk von Budapest untergebracht war. Mutter war es wichtig, dass die anderen Erzieherinnen dieselbe Einstellung zu den Kindern hatten wie sie. Dies sollte keine Einrichtung, dies sollte ein Zuhause sein. Oberstes Gebot war es, das Vertrauen jedes einzelnen Kindes zu gewinnen und ihm zu vermitteln dass es sicher aufgehoben war.

Die Kinder fragten selten nach ihren Eltern und sprachen selten von ihrem Leben vor der Zeit der Besatzung. Oder wir waren es wahrscheinlich, die sich scheuten, ihnen die Fragen danach zu stellen. Alpträume gab es sicher…“ (2004, S. 100)

Es gelingt ihrer 1898 geborenen Mutter und deren jüdischem Umfeld, die meisten dieser Kinder nach Palästina zu schmuggeln — ein, zwei Jahre vor der Staatsgründung Israels. Als Anna Ornstein im März 1946 ihren Freund Paul — den sie bereits seit ihrer Jugend kennt — heiratet ist dies auch für ihre Mutter eine zutiefst beglückende Erfahrung. Nun findet sie wieder den Mut und die Energie, ihr Leben fortzusetzen.

Tante Mari Neni

Über ihre 1899 geborene Tante Neni – Tante Marie – schreibt Anna Ornstein in sehr zarter, literarischer Weise. Immerhin ist diese, neben ihrer Mutter, die Einzige der Familie, die überlebt hat:

„Sie war eine kleine Frau. Ich sehe sie auf unser Haus zugehen, in kleinen, energischen Schritten; immer in Eile. Sie zu sehen war schon an sich eine Freude; allein ihre Anwesenheit vermittelte Freude, etwas, was jetzt so schwer zu finden war.

Ich kann mich an ein Leben ohne sie nicht erinnern. Sie war bei meiner Geburt anwesend wie bei der Geburt all meiner Cousins und Cousinen.“ (S. 49) So beginnt Anna Ornstein ihre kleine Erinnerung an „Mari Neni“ (S. 49-52).

Tante Mari bringt immer wieder Freude in Annas Leben. Selbst als sie 1945 aus dem Ghetto gebracht und in einen Viehwaggon zusammen getrieben wurden hörte sie Mari Nenis Stimme, die nach Annas Vater rief.

25 Jahre später, 1971, besucht Anna mit ihren eigenen drei Kindern die 72-jährige Neni in Szendro: „Wir umarmten uns, und ich ließ meinen Tränen freien Lauf, als ich ihr kleines faltiges Gesicht küsste. Sie spürte meinen Schmerz.“ (S. 50)

Dann sieht Neni, die kein Englisch spricht, Annas 11-, 13- und 18-jährigen Kinder, begrüßt diese sprachlos inniglich. Beide Frauen spüren, dass Annas Kinder die ihnen unbekannte Neni als eine Vergangenheit verstehen, „die wir gemeinsam erlebt hatten und deren einzige Überlebende wir nun waren.“ (S. 51) Neni erzählte ihr Anna nun von Annas Eltern, vor allem von ihrem Vater, der so sehr gewünscht habe, dass Anna eine Ärztin werde:

„Die Geschichten von meinem Vater handelten vor allem von seiner Empfindsamkeit und Zaghaftigkeit. (…) Mari Neni starb 1984. Mit ihr habe ich das letzte Mitglied meiner Familie verloren …“ (S. 51)

1946 – 1952: Heidelberg

Im kommunistischen Ungarn sehen die Ornsteins als Juden für sich keine Zukunftsperspektive. Anna Ornstein und ihre Mutter fliehen aus dem kommunistischen Ungarn über Wien nach Deutschland. Die Möglichkeiten zur Emigration waren sehr begrenzt — so landeten Anna und Paul also zum Studium ausgerechnet in Heidelberg. Dort bleiben sie sechs Jahre, bis sie ihr Medizinstudium abgeschlossen haben. In Heidelberg  bilden sie eine winzige Gruppe jüdischer Studenten, „eine Art Insel, die uns Sicherheit, Liebe und Freundschaft bot“ (S. 143). Zu deutschen Mitstudenten haben sie in diesen Jahren nahezu keine privaten Kontakte.

Es sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass seinerzeit mehrere jüdische Psychoanalytiker und Schriftsteller in Heidelberg lebten, als Übergangsort, die vergleichbare Erfahrungen machten, so Menachem Amitai, Herta Seidemann sowie Ruth Klüger.

Ihre Mutter, die Überlebende, bereitet in Heidelberg die Mahlzeiten für alle jüdischen Studenten zu. Die meisten von diesen haben gleichfalls den Holocaust überlebt, „bevor sie nach Heidelberg zum Studium gekommen waren.“ (S. 102)

Ihre medizinische Dissertation schließt Anna Ornstein mit der Studie „Über epileptische Anfälle im Verlaufe der multiplen Sklerose“ ab.

1952: Psychiaterin und Psychoanalytikerin in den USA

1952 gehen Anna und Paul Ornstein in die USA, die rasch zu ihrer zweiten, Schutz bietenden Heimat werden.

Der Vater von Anna Ornsteins Ehemann hingegen emigriert nach Israel. Dieser hatte Mauthausen überlebt und war im Sommer 1945, am Ende seiner Kräfte, nach Ungarn zurück gekehrt. 1948, kurz nach der Staatsgründung Israels, geht er nach Israel. Der junge demokratisch-jüdische Staat wird zu seiner neuen seelischen Heimat, wo er auch 28 Jahre später, 1976, verstarb.

Dieser respektiert die Entscheidung seines Sohnes Paul und dessen Frau, in den fernen USA zu leben und bat diese niemals, ihn in Israel zu besuchen: „Gleichzeitig ließ er nicht nach in seiner Entschlossenheit, am Aufbau des jüdischen Staates Israel mitzuwirken. Pauls Mutter und seine drei Brüder starben in Auschwitz, Judith war 18, als sie bei einem Bombenangriff in Budapest ums Leben kam.“ (Ornstein 2004, S. 33)

In den USA lassen sich Anna und Paul Ornstein in Cincinnati nieder und erlangt dort an der Universität eine Professur für Kinderpsychiatrie. Ihre psychiatrische Facharztausbildung hatte ihr Interesse für die Psychoanalyse geweckt. Wie zuvor ihr Ehemann macht sie von 1964 bis 1969 eine psychoanalytische Ausbildung am Chicagoer Institut und wird hierdurch zu einer Vertreterin der psychoanalytischen Selbstpsychologie.

Gemeinsam mit ihrem Ehemann Paul, der gleichfalls an der Universität Cincinnati Psychiatrie und Psychoanalyse lehrt, gehört sie zu dem Kreis von Psychoanalytikern um Heinz Kohut (s.u.).

Innerfamiliär über die Shoah erzählen

Anna Ornstein, die drei Kinder bekommt – Sharone, Miriam und Rafael – , erhält durch ihre Kinder den Impuls, im Rahmen des jährlichen Pessachfestes in jüdischer Tradition über die Shoah zu erzählen. Damit bildete sie unter Shoahopfern eher eine Ausnahme. Den Meisten gelang ein Erinnern und gemeinsames Erzählen erst im hohen Altern, in der Begegnung mit ihren Enkeln. Als Eltern kleiner Kinder fühlte die große Mehrheit von ihnen die tiefe Verpflichtung, ihre Kinder vor diesem Schrecklichen zu schützen und deshalb nicht davon zu sprechen. Das Verdrängen der Traumata erschien als eine schutzbietende Notwendigkeit.

Ihrem Ehemann Paul, der gleichfalls mit Glück die Shoah überlebt hatte, hatte sie bereits kurz nach ihrem Überleben und ihrem gemeinsamen Wiedertreffen von ihren furchtbaren Erfahrungen in Auschwitz erzählt:

„Als Anna und ihre Mutter 1945 aus dem Konzentrationslager zurückkamen erzählte sie mir mehrere Wochen lang ausführlich von ihren Lagererfahrungen und ich ihr von meinen in einer Einheit von Zwangsarbeitern. Bald nahm der gemeinsame Aufbau unseres Lebens und die Zukunftsplanung eine zentrale Stellung ein“, schreibt Paul Ornstein im Vorwort zu Das Apfelgehäuse (S. 7).

Als ihre drei Kinder dann größer wurden erzählte sie ihren Kindern insbesondere beim Pessachfest auch von ihrer Familie und wie sie in ihrem kleinen ungarischen Dorf vor der Shoah aufgewachsen war. „Und wann immer die Kinder danach fragten“, fügt Paul Ornstein im Vorwort erläuternd hinzu, erzählte Anna „auch von einzelnen Momenten ihrer Lagererlebnisse. Sie erzählte auch Freunden offen davon, wenn sie gefragt wurde. Es war nie ein Hauptthema.“ (S. 7)

Als Anna Ornstein dann Jahrzehnte später Oma wurde, erlebte sie das Glück über diese Enkelkinder noch intensiver. Ihre Lebensfreude und ihr Stolz über ihr eigenes Überleben nahmen noch weiter zu und verliehen ihr die Kraft zur Erinnerung noch einmal. In dem Kapitel „Die Stimme der Erinnerung“ (Ornstein 2004. S. 15-19) hebt sie hervor: Wenn sie heute ihre Enkel erlebe, deren Lebendigkeit, sei sie „besonders dankbar für die Erinnerungen und Bilder, die mir von meinen Eltern und Brüdern geblieben sind. Wenn ich meine Enkel anschaue, werden meine Erinnerungen an die Vergangenheit anstatt schwächer immer stärker.“ (ebd., S. 15)

Im Überleben liege immer auch „ein Triumph“ (S. 16). Anna Ornstein hatte das Glück, diesen Triumph zu verspüren – in ihrer neuen Heimat, den USA. Und sie hebt hervor:
„Wir sind ein Verbindungsglied in der Generationenkette des jüdischen Volkes. In uns und durch uns lebt vieles aus dieser grauenhaften Zeitspanne unserer Vergangenheit. Dadurch dass wir unsere Erinnerungen für die nächste Generation relevant machen erhalten wir diejenigen am Leben an deren Tod wir immer weiter erinnern wollen.“ (S. 18)

Ihre eigenen, brutalen Erfahrungen, ihre niedergeschriebenen Bücher, Briefe, Bilder und Geschichten, die sie ihren Enkeln zu erzählen vermochten – dieses Zugehörigkeitsgefühl habe für sie und ihren Ehemann Paul einen „großen Überlebenswert.“ (S. 19)

Zionistische Ideale als Schutz und Identität

Paul und Anna hatten das Glück, so betont Paul Ornstein in seinem Vorwort zum Buch seiner Ehefrau Anna, in Ungarn gemeinsam schrittweise das Scheitern der Assimilation der Juden zu erleben. Das Scheitern dieser Assimilation lief parallel zu der Stärkung des massiven Antisemitismus, der binnen weniger Jahre zum deutschen Vernichtungskrieg gegen die Juden führte.

Paul Ornstein führt über ihre frühe gemeinsame jüdische Identitätsbildung in Ungarn aus:

„Anna und ich wuchsen glücklicherweise mit diesen zionistischen Idealen auf. Für unsere Generation junger Juden waren diese Ideale ein emotionales Gegenmittel, da wir in Ungarn keine Zeit ohne Diskriminierung, ohne Gängelung („Harassment“) und schwere wirtschaftliche Schwierigkeiten kannten. Für uns war es also leicht, dem ungarischen Patriotismus früherer Generationen von Juden abzuschwören und eine starke zionistische Identifikation zu nähren und einer Zukunft außerhalb der Grenzen des nazifizierten Ungarns entgegen zu sehen. Dieser Ausblick gab uns innere Kraft, die täglichen Erniedrigungen, sogar den körperlichen Schmerz und Hunger auszuhalten. In den Arbeitslagern konnte diese geistige Widerstandskraft lebensrettend sein (…) Zu wissen, wer wir waren, der Stolz darauf, jüdisch zu sein, hatte unter diesen Umständen Überlebenswert Es war dieses Geschenk, das unsere Familien uns mitgegeben hatten, das es Anna ermöglichte, zu überleben und die Fülle ihrer Liebe zum Leben, ihre Träumen und Ambitionen zu bewahren.“

Und Paul Ornstein fügt generalisierend hinzu: „Der Geist der Geschichten über die Gefangenschaft und Befreiung sind ein Beleg für den Wert dieser Werte für das emotionale Überleben eines ungarischen jüdischen Mädchens unter vielen.“ (S. 11)

In sehr persönlichen Worten erzählt die über den letzten gemeinsamen Lebensabschnitt mit ihrer Mutter: „Wenn ich ihr zuschaute, wie sie meine Kinder badete, fütterte, ihnen vorlas, sie zu Bett brachte oder mit ihnen spazieren ging, dachte ich bisweilen, dass die Liebe und der Stolz, die sie für die Kinder empfand — und der Stolz und die Liebe für die Kinder unserer Freunde — ihr vielleicht half, den tiefen Schmerz über den Verlust ihrer eigenen beiden Söhne zu überwinden. Heute weiß ich jedoch, dass dieser Schmerz nicht mit der Zeit verheilt.“ (S. 103)

Und: „Mutter starb 1961 im Alter von 63 Jahren. Sie ist das einzige Mitglied meiner Familie, das ein Grab hat. Die Trauer um sie und all die anderen aus meiner Familie, ist ein lebenslanger Prozess; in dem Schmerz, sie verloren zu haben, sind sie für immer bei mir.“ (ebd.)

1995 ein Wiedertreffen der jüdischen Heidelberger Gruppe

In ihrer das Buch Das Apfelgehäuse abschließenden Erzählung „Ein Wiedersehen“ berichtet Ornstein von einem gemeinsamen Wiedertreffen im Juli 1995 mit der kleinen Gruppe jüdischer Studenten, die kurz nach dem Krieg gemeinsam in Heidelberg studiert hatten. Sie waren alle beruflich erfolgreich, die meisten hatten Überlebende geheiratet, hatten Kinder und Enkel:

„Die Unterhaltungen waren fieberhaft und voller Emotionen. Wir wollten nicht nur herausfinden, wie viele Kinder und Enkelkinder jeder hatte, sondern stellten auch Fragen, die wir uns in Heidelberg nicht gestellt hatten: Wie kam es, dass wir so wenig darüber wussten, wie jeder Einzelne von uns überlebt hatte?“ (S. 138) Besonders berührt war sie von der Tatsache, dass all ihre Kinder und Enkel scheinbar seelisch nicht unter den traumatischen Erfahrungen ihrer Eltern gelitten hatten:

„Offenbar hatten die meisten von uns ihren Kindern ein Gefühl von Kontinuität vermitteln können, und unsere Erfahrungen hatten ihnen nicht die Fähigkeit genommen, sich ein wertvolles, kreatives Leben zu erschaffen.“ (S. 139)

Und: „Meine Kinder und die Kinder meiner Freunde haben mir erzählt, dass es die besondere Eigenschaft ihrer Eltern als Überlebender war, die sie am meisten beeindruckt hat; von uns hatten sie gelernt, dass die täglichen Freuden des Lebens niemals als selbstverständlich hingenommen werden dürfen. Ich denke, dass unser Überlebenskampf unsere Kinder womöglich gelehrt hat, das Leben aufrichtiger zu schätzen, und ihnen gezeigt hat, dass Anteilnahme das ist, was im Leben wirklich zählt.“ (S. 140)

Das Alter

Im Jahr 2000 ziehen die Ornsteins, sie sind nun bald 70 Jahre verheiratet, in das Gebiet von Boston, um mit ihren Kindern und Enkeln – am Ende waren es sieben – näher zusammen zu leben. Dort lehrt Anna Ornstein an der Harvard Medical School Psychiatrie und arbeitete als Supervisor am Massachusetts Institut for Psychoanalysis.

Im Jahr 2007 publiziert Anna Ornstein in der (von L. M. Hermanns herausgegebenen) Reihe „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen“ (Bd. VI, Verlag Brandes & Apsel) den autobiografischen Beitrag „Den Traum meiner Eltern leben“ (S. 79-100).

2017 verstirbt ihr Ehemann Paul im Alter von 92 Jahren: „Paul Ornstein, 92, Psychoanalyst and Holocaust Survivor, Dies“ titelt die New York Times. Als es 2018 an amerikanischen Schulen zu einer Serie von antisemitischen Skandalen kommt trifft sich die 90-jährige Anna Ornstein immer wieder mit Schülern, um mit diesen über ihre Erinnerungen an die Shoah zu sprechen. Sie spricht auch über die „Kristallnacht“ 1938, den Antisemitismus und ihren lebenslangen Versuch, ihre Shoah-Erlebnisse seelisch zu integrieren.

Im Jahr 2020 schreibt sie in einem Aufsatz im The Bulletin of the Boston Psychoanalytic Society and Institute, dass sie die  Wahl Trumps und dessen permanenten, stark affektgesteuerten Ausfälle an die dunkelsten Tage ihrer Jugend erinnerten:

“From the beginning, there has been a search for scapegoats” she wrote. “In Europe, the Jews were the targets. In this country, Muslims and immigrants have become the hated minorities, and the ever-present antisemitism has been reactivated.“”

Auch wenn sie keine unmittelbare Wiederkehr des Faschismus befürchte, so sei sie doch heute voller Ängste.

„Den Traum meiner Eltern leben“

Im Jahr 2007 erschien der Band VI der von Ludger M. Hermanns herausgegebenen Buchreihe „Psychoanalyse in Selbstdarstellungen“ mit Lebenserinnerungen von vier  Psychoanalytikern, darunter von Anna sowie von Paul Ornstein. Anna Ornstein war da 80, Paul Ornstein war 83 Jahre alt.

Anna Ornstein, die erst spät vom Wunsch ihres ermordeten Vaters erfuhr, dass seine Tochter eine Ärztin werden sollte – was sie dann ja auch in Heidelberg und den USA realisierte – , überschrieb ihre Erinnerungen demgemäß mit „Den Traum meiner Eltern leben“.

Ich möchte einige Ausführungen hieraus ergänzend einfügen:

Anna Ornstein zeichnet die familiäre Abgesondertheit ihrer Familie in ihrem Dorf Szendro nach, welche ihrem Judentum geschuldet war. Der „ausgeprägte Antisemitismus“ (Ornstein 2007, S. 79) in ihrer Jugend habe ihr vermittelt, dass sie keinerlei Chance auf ein Universitätsstudium als Jüdin in Ungarn habe.

Als Mädchen bewunderte sie ihre beiden Brüder, die später ermordet werden sollten: „Sie waren gute Schwimmer, also wurde ich eine gute Schwimmerin. (…) Oft denke ich an meine Brüder und frage mich wie sie ihr Leben gelebt hätten, wenn sie die Chance dazu gehabt hätten.“ Ein Trauerprozess fördere, was Freud beschrieben habe, die „Internalisierung von Werten, Idealen und Standards derer (…), die wir verloren haben.“ (Ornstein 2007, S. 80) Ihre Familie erinnert sie als nicht-orthodox, weltzugewandt, umfassend an Bildung interessiert. Ihr Wechsel im Jahr 1942 zum jüdischen Gymnasium in Debrecen war ihr nur möglich, weil sie dort bei ihrer Tante wohnen konnte. Dafür musste sie eine Zusatzprüfung machen: „Ich war in Ekstase angesichts der Möglichkeit, in eine Schule mit richtigen Schulstunden zu gehen und von richtigen Lehrern unterreichtet zu werden, die in ihren jeweiligen Fächern als Experten galten.“ (Ornstein 2007, S. 83)

Nach nur zwei Jahren, nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen im März 1944, war ihre Schulzeit vorbei: „Wir waren in der Falle. Juden durften keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen; sie wurden auf der Strasse verhaftet, in ihren Häusern, wo immer sie gerade waren.“ (Ornstein 2007, S. 83) Bereits als Jugendliche erahnte sie, dass es „für die Deutschen sogar wichtiger war, die Juden zu deportieren und zu vernichten, als den Krieg zu gewinnen.“ (Ornstein 2007, S. 83) – ich nehme mit ungläubigen Erstaunen zur Kenntnis, dass diese „banale“, schreckliche historische Wahrheit bis heute verleugnet wird – gerade auch angesichts des heutigen massiven Antisemitismus in Europa und weltweit in Folge des über Jahre vorbereiteten Hamas-Pogroms vom 7.10.

Sie sehe noch heute vor ihrem inneren Auge die Bilder der Nachbarn, die teilnahmslos oder mit innerer Freude die Verschleppung ihrer jüdischen Nachbarn verfolgten, erinnert sich Anna.

Die Weisheit ihrer 46-jährigen Mutter habe ihnen ihr Leben gerettet. Obwohl diese in einem KZ-Steinruch Sklavenarbeit leisten musste erkannte ihre Mutter intuitiv, dass nur eine nahezu absolute Anpassung an die barbarische Realität ihnen eine Überlebenschance bot (vgl. Federn 2014). Anna Ornstein beschreibt viele Szenen, in denen ihre Mutter und sie selbst durch äußerstes Glück dem Tode entkamen: „In Auschwitz zu überleben war eine Sache des Zufalls.“ (Ornstein 2007, S. 85) Sie werde ihre Mutter zeitlebens „immer für ihren Mut und ihre Tapferkeit bewundern.“ (ebd.)

Im KZ seien sie beide sehr diszipliniert gewesen, hätten sich dem Terror angepasst – um ihre geringen Überlebenschancen zu erhöhen.

Bei ihrer Befreiung teilte ihnen ein russischer Soldat auf jiddisch mit, dass er 100te Lager wie ihres gesehen habe und dass er deshalb nichts für sie tun könne. Sie müssten sich selbst durchschlagen.

Ornstein beschreibt weitere Details ihres Überlebens und Neuanfangs In Ungarn sowie in Heidelberg. Immer wieder hatten sie und ihr Mann Paul Glück und fanden, vereinzelt, Freunde und Weggefährten sogar unter den Deutschen. In Heidelberg wurde sie und ihr Mann Mitglied einer jüdischen Studentenvereinigung, „in der wir warmherzige und loyale Beziehungen mit anderen jüdischen Kollegen entwickelten, die, ähnlich wie wir verschiedene Konzentrationslager überlebt“ hatten (Ornstein 2007, S. 90). Es waren Beziehungserfahrungen, die ihnen die – angestrebte – Übersiedelung und den Neuanfang in den USA erleichterten.

Ihre fünfjährige berufsbegleitende psychoanalytische Ausbildung ab dem Jahr 1964, da hatten sie bereits drei Kinder, erlebten sie als ein unglaubliches Glück. Sie beschreibt anschaulich den Einfluss mehrerer ihrer psychoanalytischen Lehrer (Michael Balint, Margaret Mead, Heinz Kohut, Maurice Levine). Mit Stolz beschreibt sie, dass ihre Kinder später gleichfalls in ihrem Berufsfeld als Psychiater und Psychotherapeuten tätig werden sollten.

Die Entwicklung der psychoanalytischen Selbstpsychologie im Umfeld von Heinz Kohut ab Ende der 1960er Jahre erlebt sie „als einen der großen Glücksfälle meines beruflichen Werdeganges.“ (Ornstein 2007, S. 93) Seine therapeutischen Weiterentwicklungen prägten ihre professionelle Identität als Kindertherapeutin nachhaltig. Verschiedentlich waren er und seine Frau Betty auch zu Gast bei ihnen. Sie begann nun selbst, an Kohut orientierte psychoanalytische Studien zu schreiben, von denen einzelne später ins Deutsche übersetzt wurden. Entscheidend für ihre Patienten sei das Gefühl, „sich zutiefst verstanden zu fühlen.“ (Ornstein 2007, S. 94)

Später schrieb Ornstein auch eigene Studien über das Überleben und den Heilungsprozess extremer Bedingungen. Und sie schrieb auch Kurzgeschichten über ihr eigenes Überleben in den Konzentrationslagern, die dann später in Das Apfelgehäuse einflossen. Ab Mitte der 1970er Jahre folgten weltweite Einladungen für psychoanalytische Gastvorträge, die sich u.a. auch zurück nach Deutschland brachten. 17 Jahre lang wurden die Ornsteins nach Deutschland eingeladen und fühlten sich dort am stärksten willkommen. Es gab auch Einladungen nach Israel und in die Türkei. Hierdurch wurden sie zu Botschaftern der Selbstpsychologie – vermochten also ihre professionelle Identität weiter zu entwickeln und zu festigen.

Ihr Überleben extremster Erfahrungen habe es ihr vermutlich erleichtert, mit Patienten seelisch mitzuschwingen, die „unaussprechliche Quälende emotionale Zustände durchmachen.“ (Ornstein 2007, S. 99) Mit diesen Worten endet ihr autobiografischer Rückblick des Jahres 2007.

Paul Ornstein: Hingezogen zur inneren Welt

In dem gleichen Band erschienen auch Paul Ornstein 60-seitigen Erinnerungen Hingezogen zur inneren Welt der Phantasie. Meine psychoanalytische Autobiographie (Ornstein, P. H. 2007). Diesen möchte ich hier vorstellen.

Paul H. Ornstein wurde am 4.4.1924 „am Abend des Pessachfestes“ (Ornstein, P. H. 2007, S. 102) im ost-ungarischen Hajdunanas geboren. Die Erinnerungen an seine ersten 15 Jahre in dieser stark jüdisch geprägten Kleinstadt mit ihren beiden Parks sei „immer unverändert und unverblichen; jeder Zentimeter ist mir vertraut (S. 102) geblieben. Seine Familie sowie die jüdische Gemeinschaft war in seiner frühen Jugend noch intakt. Dies verlieh Paul Ornstein und seinem jüdischen Umfeld die Illusion, „vor der rasch wachsenden Feindseligkeit um uns herum geschützt zu sein.“ (ebd.) An den gewöhnlichen ungarischen Antisemitismus hatten sie sich gewöhnt – bis dieser durch den deutschen Antisemitismus in einen „nie dagewesenen, mörderischen Antisemitismus verwandelte“ wurde. (Ornstein, P. H. 2007 S. 105)

Die Erinnerungen sind in Paul Ornstein aufgespalten in verschiedene Bereiche: Die glückliche Jugend, den 19.3.1944, dann den jüdischen Überlebenskampf in einem Arbeitslager. Weiterhin existiert in ihm eine zweite Gruppe von Erinnerungen, beginnend mit dem Februar 1945 mit seiner Flucht und der Ankunft in Budapest, wo er nach Überlebenden seiner jüdischen Familie suchte – und niemanden fand. Die meisten jüdischen Geschäfte „waren verbarrikadiert, die Juden verschwunden, auch meine ganze Familie war verschwunden“, erinnert sich Paul Ornstein (S. 105). Von den 250 jüdischen Familien war nur weniger als zwei Dutzend nach Budapest zurück gekehrt, selbst der Friedhof war teilweise zerstört: „Wie benommen durchstreifte ich drei Tage lang dien tote Stadt und suchte vergeblich nach Informationen über meine Familie und meine geplünderte Bibliothek (…) Hier und da brach ich auf dieser Suche in stilles Weinen aus, als ich versuchte, mir ein Bild davon zusammen zu setzen, was meiner Familie und unserer Gemeinde vor dem Abtransport nach Auschwitz im Getto passiert sein musste.“ (S. 106)

Eine kleine biografische Chronologie: Im Juni 1939 hatte Paul sein Gymnasium nach der 5. Klasse abgeschlossen. Es folgte das „Glück“ (S. 113) des dreiwöchigen Besuches eines zionistischen Sommerlagers in Nordungarn und dann im September 1939 der Umzug nach Budapest – die existentielle Gefahr war ihm als 15-Jährigem nur dunkel erahnbar. Dessen Ausmaß schien schier unvorstellbar.

Paul Ornstein besuchte ein Rabbinerseminar, welches er als beschützend erlebte. Ein drei Jahre älterer Freund, Zvi Giora (1921 – 2012) – der später in Israel ein bekannter Psychoanalytiker werden sollte – brachte den 15-Jährigen in sein privates Freud-Seminar. Sie lasen Freuds Traumdeutung, aber auch Schriften der Psychoanalytiker Theodor Reik und den ungarischen Psychoanalytiker Sandor Ferenczi – „und ich war sofort gefangengenommen. Ich wusste gleich, dass ich Psychoanalytiker werden wollte“ (Ornstein, P. H. 2007, S. 114) erinnerte er sich 68 Jahre später an diese frühe Prägung.

Diese Freud-Studien vermochte die kleine Gruppe von Juden in Budapest mehrere Jahre lang fortzusetzen, inmitten des zunehmenden Infernos für Juden, welches mit dem Einmarsch der Deutschen in Budapest am 19.3.1944 und der sofortigen Vernichtung zahlloser ungarischer Juden seinen Höhepunkt erreichte. Im Mai 1944 vermochte die fünfte Klasse des Rabbinerseminars noch ihr Abitur abzulegen; gleich danach wurden sie in NS-Arbeitslager eingezogen.

Seinen Überlebenskampf und seine Flucht nach Budapest in den Jahren 1944 bis 1945 beschreibt Paul eindrücklich (S. 117-127): „Unser emotionaler Zustand war schmerzlich paradox: Wir wünschten uns einen russischen Angriff, obwohl wir uns direkt in der Schusslinie befanden und leicht die ersten Opfer hätten werden können. Mit unseren Kidnappern hatten wir kein Mitgefühl – und sie verdienten auch keines.“ (S. 118).

Mit „So habe ich überlebt“ endet dieses dichte Kapitel, in welchem Paul Ornstein seinen Überlebenskampf im Arbeitslager erinnert.

„Endlich befreit: Die Vereinigten Staaten und die Psychoanalyse“ ist der zweite Teil seiner Erinnerungen überschrieben (S. 135-154). In lebendiger Weise beschreibt er seine psychoanalytische Ausbildung und Tätigkeit in den USA im Umfeld insbesondere von Heinz Kohut, die bis zu Kohuts Tod im Jahr 1971 reichten.  Den Einfluss seiner Frau Anna für seine psychoanalytische Bildung beschreibt er gleichfalls (S. 154). Die Fortführung von Kohuts Lebenswerk, dessen Theorie der Selbstobjektübertragungen, empfand er als innere Verpflichtung und als bereichernde Herausforderung. Die „nie endende Reflexion“ seiner Tätigkeit als Therapeut beschreibt er als „die unvergleichbare Belohnung für unser Leben in der Psychoanalyse“ (Ornstein, P. H. 2007, S. 158) Mit diesen Worten enden die Erinnerungen dieses 83-jährigen  Shoahüberlebenden. Zehn Jahre später, am 19.1.2017, verstarb Paul Ornstein 92-jährig in Brookline.

Nachtrag: Ornsteins theoretischen Studien

In den USA hat Anna Ornstein ab dem Jahr 1974 eine Reihe von psychoanalytischen Studien vorgelegt; einige von ihnen handeln auch von der Shoah, aus psychoanalytischer Perspektive reflektiert. Im Jahr 2019 wurde in den USA ein Interview mit ihr über ihre Weise ausgestrahlt, über die Shoah zu unterrichten.

2001 erschien die deutsche Version des von Anna und Paul H. Ornstein verfassten Werkes „Empathie und therapeutischer Dialog. Beiträge zur klinischen Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie“. Damit war erstmals eine große Anzahl von psychoanalytischen Studien der beiden gesammelt auf deutsch rezipierbar. Theoretischer Orientierungspunkt bildete hierbei insbesondere das Werk von Anna Ornsteins psychoanalytischem Lehrer Heinz Kohut (1913 – 1981). Dem in einer bürgerliche-jüdischen Wiener Familie aufgewachsene Kohut gelang 1938 als bedrohter Jude gerade noch der Abschluss seines Medizinstudiums. Seine Lehranalyse bei August Aichhorn, dem Pionier einer psychoanalytisch-milieutherapeutischen Arbeit mit „delinquenten“ Jugendlichen, musste er abbrechen. Heinz Kohut gelang noch die Flucht über England in die USA, wo er 1940 eintraf. So gelang es Anna Ornstein, das wenige aus Europa Gerettete in Chicago gemeinsam doch noch fortzusetzen.

Von Anna Ornsteins deutschsprachigen Publikationen sei, in exemplarischer Hinsicht, ihr 2014 gemeinsam mit Eva Rass verfasstes Buch „Kindzentrierte psychodynamische Familientherapie“ erwähnt. Es entstand auf der Grundlage ihrer kindertherapeutischen Publikationen aus den Jahren von 1996 bis 2012. Auf psychoanalytischer Basis beschreiben die beiden Psychotherapeutinnen die psychoanalytische Technik der Kinderbehandlung hin zum „therapeutischen Milieu“.

Sie erinnern an Anna Freuds frühen Beiträge zur Kindertherapie, so an deren 1927 erschienenen Klassiker „Einführung in die Technik der Kinderanalyse“. Anna Freud folgte hierin den Spuren ihres Vaters Sigmund Freud und wurde zu einer Wegbereiterin der Kinderanalyse. Sie nahm zu ihren Lebzeiten erheblichen Einfluss auf die Theorie und Praxis der Psychoanalyse. Anna Freuds therapeutischen und theoretischen Erfolge werden im Buch ausführlich herausgearbeitet. Sie habe generell einen „ungewöhnlichen Mut zum eigenen Denken“ gehabt (S. 10).

In Kapitel 10 wird an das Schicksal der „Theresienstadtkinder, die zunächst ohne Bindung an Erwachsene durch existenziellen Zugang zueinander traumatische Lebensbedingungen überlebten“, erinnert. Nach ihrer Rettung wurden diese Überlebenden nach England ausgeflogen und in einem Kinderheim untergebracht. Anna Freud supervidierte diese Arbeit. Das von Verantwortung geprägte Leben der späteren Erwachsenen wirft ein neues Licht auf Bindungserfahrungen von Kindern untereinander. »Love Despite Hate« war dann auch der Titel des Buches, in dem diese Lebensschicksale beschrieben wurden (S. 10) (vgl. vertiefend Christiane Ludwig-Körner: „Und sie fanden eine Heimat. Leben und Wirken der Mitarbeiterinnen von Anna Freud in den Kriegskinderheimen“.)

Literatur

Anna Ornstein (2004): Das Apfelgehäuse. Erinnerungen – Als junges Mädchen im Holocaust. Gießen: Haland & Wirth im Psychosozial – Verlag https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/3000/934-detail

Anna Ornstein (2007): Den Traum meiner Eltern leben. In: Hermanns, L. M. (Hrsg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen. Bd. VI: Frankfurt: Brandes & Apsel, S. 79-100.

P.H. Ornstein (2007): Hingezogen zur inneren Welt der Phantasie. Meine psychoanalytische Autobiographie. In: Hermanns, L. M. (Hrsg.): Psychoanalyse in Selbstdarstellungen. Bd. VI: Frankfurt: Brandes & Apsel, S. 101-160.

Federn, E. (2014): Versuche zur Psychologie des nationalsozialistischen Terrors. Herausgeber: Roland Kaufhold. Psychosozial-Verlag, Gießen.

Kaufhold, R. (2001): Bettelheim, Ekstein, Federn: Impulse für die psychoanalytisch-pädagogische Bewegung. Psychosozial-Verlag, Gießen.

Kaufhold, R. (Hg. 2014): Das Apfelgehäuse — ein Mädchen erinnert sich an die Shoah. Anna Ornstein: haGalil, 21.10.2009: https://buecher.hagalil.com/2009/10/ornstein/

2 Kommentare

  1. Herzlichen Dank für diesen wunderschönen, ausgiebigen Bericht über eine offensichtlich wunderbare ärztliche Kollegin. Einem anderen Hinweis auf ihre Aktivität bin ich übrigens zuvor bei Dori Laub + Andreas Hamburger im Einführungs-Kapitel ihres Buches Psychoanalysis and Holocaust Testimony. Unwanted Memories of Social Trauma von 2017 begegnet.

Kommentarfunktion ist geschlossen.