Zum Tod von Ruth Klüger (1931 bis 2020)

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Ruth Klüger, (c) Das blaue Sofa / Club Bertelsmann.

Nach langer Krankheit ist die Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Ruth Klüger in der Nacht vom 5. auf den 6. Oktober im Kreise ihrer Familie in Kalifornien verstorben. Die 1931 in Wien Geborene überlebte Theresienstadt und Auschwitz. Ihre Zeitzeugenschaft verarbeitete sie seit dem Erscheinen ihrer Erinnerungen „weiter leben. Eine Jugend“ literarisch…

Von Roland Kaufhold

Wie vermag man zu erklären, dass einige Menschen an allergrausamsten, das menschliche Vorstellungsvermögen übersteigenden Erfahrungen – wie es die von Deutschen organisierte Shoah war – zerbrechen, während andere scheinbar ungebrochen daraus hervor gehen? Warum vermochten einige Überlebende, meist in zeitlichem Abstand, dennoch über die an ihnen und an ihrem Volk begangenen Verbrechen zu schreiben während die Mehrzahl die Flucht in das Schweigen „wählte“? In der Psychiatrie und Psychoanalyse wurde in den 1980er Jahren der Begriff der Resilienz bzw. der Salutogenese entwickelt, um auch auf einer theoretischen Ebene die frühen Lebenserfahrungen zu verstehen, die eine „Bewältigung“ auch sehr furchtbarer Erfahrungen erleichtern. Dass dies eine lebenslange, niemals aufhörende Aufgabe ist, ist offenkundig. Eines ist unstrittig: Je jünger Menschen sind, die schweren Traumatisierungen ausgesetzt sind, desto größer ist die lebenslange Herausforderung.

Die österreichisch-amerikanische Literaturwissenschaftlerin und Autorin Ruth Klüger mag als eine Persönlichkeit erscheinen, die dies alles „bewältigt“ hat. Mit ihren Schriften und öffentlichen Auftritten – etwa 2016 in ihre Gedenkrede vor dem Deutschen Bundestag für Zwangsarbeiterinnen, in welcher sie sich insbesondere für Angela Merkels Willkommenskultur bedankte – hat sie internationales Ansehen errungen. Dass sie als Kind eine Überlebende der Shoah war hat sie in ihrer 1992 erschienen Autobiografie „weiter leben. Eine Jugend“, aber auch in ihren Gedichtbänden eindrücklich beschrieben.

Die österreichische Germanistin Monika Jesenitschnig hat mit Holocaust, Trauma und Resilienz eine umfangreiche entwicklungspsychologische Studie über Ruth Klügers bewegende Biografie vorgelegt. Das Buch war für mich, trotz des wissenschaftlichen Anspruchs und der Schwere des Themas, ein – wenn auch schwerer – Genuss. Es gelingt der Autorin, ausgehend von Ruth Klügers literarischem Gesamtwerk, theoretisch orientiert an Hans Keilsons Studien zur Sequentiellen Traumatisierung, Klügers durch vielfältige Abbrüche und Enttäuschungen geprägte Vita, die sie von Österreich über Theresienstadt und Auschwitz in die USA und von dort als Literaturwissenschaftlerin wieder zurück nach Deutschland und Österreich brachte, feinfühlig zu beschreiben. Das vielfältige partielle „Scheitern“, Ruth Klügers, ihre sie sehr schmerzenden Beziehungsabbrüche, ihre abgrundtiefen Enttäuschungen, werden feinfühlig als Bestandteil des unbändigen Überlebenswillens der 1931 in Wien geborenen Literaturwissenschaftlerin und Feministin beschrieben.

Verfolgung, Theresienstadt, Überleben und Vulnerabilität

„Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie gilt – abseits klinischer Fragestellungen – den Bewältigungsversuchen und der Überlebenskunst von Shoah-Überlebenden“ (S. 17) betont die Verfasserin.

Klüger überlebt als Jugendliche gemeinsam mit ihrer jüdischen Mutter mehrere Vernichtungslager. Hiervon hat sie nach der Shoah, trotz aller schmerzhaften Erfahrungen, Kränkungen und Schuldgefühle, in ihren Schriften gleichermaßen schonungslos wie selbstkritisch Zeugnis abgelegt.

Im theoretischen Teil der Studie finden sich umfassende Darstellungen über die seelische Fähigkeit, am Leid zu wachsen. Beschrieben wird etwa die Monografie des 1937 in Bordeaux geborenen NS-Überlebenden Boris Cyrulnik. Dieser hatte als kleines Kind in Verstecken in Frankreich die NS-Verfolgung überlebt. Er wurde ein Psychiater und machte sein eigenes Überleben zum Forschungsprojekt. Für das „zu früh gealterte Kind“ (Cyrulnik) waren tröstende eigene Filmerzählungen, das Leben auf der Straße und die „Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die ihm Sicherheit, Identität und Gemeinschaftsgefühl gab“ (S. 112), wesentliche Resilienzfaktoren. Und das Schreiben über seine Familie, die nicht überlebt hatte und über die er kaum etwas wusste.

Vulnerabilität als lebenslange Herausforderung, Resilienzprozesse, dies wird von Seite 125 bis S. 250 anhand der Biografie und der Werke Ruth Klügers im Detail und in berührender Weise beschrieben.

Ruth Klügers Bücher, in lakonischer, unpathetischer Weise geschrieben und von einer „radikalen Aufrichtigkeit“ (S. 129) gekennzeichnet, sind eindrücklich. Ihr Vater, ein Frauen- und Kinderarzt, wurde auf der Flucht in Frankreich ermordet. Nach ihrer Einschulung 1937 muss Ruth in vier Jahren acht jüdische Schulen besuchen, aus denen immer mehr Kinder und Lehrer „verschwinden“. Das letzte Jahr in Wien empfindet sie als Gefängnis; das Auswendiglernen und innere Rezitieren von deutschen Klassikern wird für sie zur inneren Zuflucht.

In den Jahren der Verfolgung in Wien fühlt sie sich eingesperrt. Ihre Beziehung zu ihrer Mutter ist ambivalent. Diese schlägt ihr einmal vor, alleine ins Kino zu gehen. Sie wird von einem Nachbarmädchen als Jüdin verspottet. Ruth empfindet es so, dass „von meiner Mutter hauptsächlich schlechte Ratschläge zu erwarten sind“ (S. 141).

1942 wird sie mit ihrer Mutter nach Theresienstadt deportiert, im Mai 1944 verschleppt man sie nach Auschwitz. Als Form ihrer Selbstbehauptung legt sie ihren Rufnamen Susi ab und beharrt auf ihren jüdischen Namen Ruth. Sie entgeht in Auschwitz der Selektion, indem sie sich als 15-jährig und arbeitsfähig ausgibt, kommt mit ihrer Mutter in ein Arbeitslager von Groß-Rosen. Auf den Todesmärschen gelingt ihr zusammen mit ihrer Mutter und einem weiteren Mädchen die Flucht.

Schon kurz danach, in Freiheit, schreibt die 16-Jährige Gedichte über den Schrecken, einige lokale Zeitungen bringen diese. Ruth Klüger studiert in Regensburg, lernt Martin Walser kennen. Hieraus sollte ein halbes Jahrhundert später – der Rachewunsch der unschuldigen linken deutschen Arier benötigte Zeit bis er den Zenit ihres Vernichtungswunsches erreichte – eine ihrer größten Enttäuschungen erwachsen.

Gerne wäre sie mit einem Kindertransport alleine nach Palästina gegangen. Ihre Mutter beharrt darauf, dass man ein Kind nicht von seiner Mutter trennen darf. So emigrieren sie 1947 gemeinsam in die USA statt in das israelische Paradies. Es folgt ein Studium der Anglistik. Sie bekommt zwei Söhne. Ihr später schwieriges Verhältnis zu diesen wie auch zu ihrem Ehemann, von dem sie sich nach neun Jahren scheiden lässt, ist auch durch ihre Traumatisierungen bedingt, was sie selbst so zu sehen vermag.

Ambivalenzen, Birkenau, Gedichte und Walser

Immer wieder Ambivalenzen: Ihr Abschied von ihrem Vater, der ihr Schachspielen beigebracht hatte, nach dessen Verhaftung durch die SS: Bei ihrem letzten Besuch im Gefängnis verprügelt er sie in seiner Not, dann das Wissen als Erwachsene von seinem Tod in Auschwitz: „Mein Vater ist zum Gespenst geworden. Unerlöst geistert er“ (S. 140), notiert sie in ihrer Autobiografie. Ihr Gefühl der eigenen Verlassenheit vermochte sie ihm nie mitzuteilen.

In Theresienstadt wird sie von ihrer Mutter zeitweise getrennt, lebt als Jüngste mit 30 Mädchen in einem Kinderheim. Im Lager fühlt sie sich nun als Jüdin, erfährt „was dieses Volk sein konnte, zu dem ich mich zählen durfte, mußte, wollte.“ (S. 149) Ihre Jüdischsein ist ihre seelische Identität. Walsers späteren antisemitischen literarischen Ausfälle empfand sie als besonders verstörend. Diese literarische Primitivität vermochte sie ihm als Jüdin nicht zu verzeihen.

In Theresienstadt macht sie in 20 Monaten die Erfahrung von kultureller Gemeinsamkeit, von Solidarität. Sie fühlt sich nicht mehr so „versponnen, abgeschottet, verklemmt“ (S. 151) wie in Wien. Jahrzehnte später, in Wien und Deutschland, wollte man Solches von ihr gar nicht hören. Theresienstadt und Auschwitz sollen für ihre Umwelt der Schreckensort bleiben, nicht das antisemitische Wien.

Der Schrecken von Auschwitz bleibt in ihrer Erinnerung „ein Fremdkörper in der Seele“, Auschwitz war ein „grässlicher Zufall“ (S. 152). Sie erinnert sich nicht vorrangig an Spiele: „In Birkenau bin ich Appell gestanden und hab Durst und Todesangst gehabt. Das war alles, das war es schon“ (S. 152). Der Schrecken bleibt präsent, er ist profan, lakonisch, erschütternd, sprachlos.

Inmitten des alltäglichen Terrors, der allgegenwärtigen Bedrohung, in der Ruth Klüger und ihre Mutter leben, Zeichen von Nähe, von Verständnis: Beim Transport nach Auschwitz verliert eine alte Frau den Verstand, uriniert auf dem Schoß von Ruths Mutter. Diese zeigt eine tröstende Geste. Die Szene hat sich Ruth Klüger eingebrannt, sie vermag ihre Ambivalenz zu überwinden: „Ich fand, meine Mutter hätte sich gründlich entrüsten müssen, während für meine Mutter die Situation jenseits von Zorn und Empörung lag.“ (S. 152)

Als sie gemeinsam im Sommer 1944 nach Birkenau verbracht werden macht ihr ihre Mutter den Vorschlag, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden. Die 12-jährige Ruth ist empört. Heute ist sie sich unsicher, ob sie ihrer Mutter diesen Vorschlag je hat verzeihen können: „Wir haben nie wieder darüber gesprochen.“ (S. 152) Als sie selbst viele Jahre später Kinder hat vermag sie ihre Mutter zu verstehen und hätte den Gedanken „möglicherweise mit größerer Konsequenz durchgeführt als sie.“ (S. 153)

In bemerkenswerter Dichte zeichnet Jesenitschnig die literarischen Spuren Klügers nach und verbindet dies mit vorsichtigen lebensgeschichtlichen Interpretationen. Das innerliche Wiederholen und Verfassen von Gedichten im Lager war eine mehr als imposante Überlebens- und Widerstandsleistung. Als Ruths Mutter später in einer Munitionsfabrik Zwangsarbeit leisten muss bittet diese einen älteren, freundlichen Vorarbeiter um ein Buch für ihre Tochter. Dieser gibt ihr ein halb zerrissenes Schullesebuch. „Ich war selig“, erinnert sich Ruth Klüger (S. 162). Ihr Überlebenswunsch bleibt stark.

Die knapp drei Jahre in Bayern, das Studium, erscheint ihr im Rückblick als eine verschwendete Zeit. Martin Walser, mit dem sie literarische Gespräche führt, imponiert ihr anfangs wegen seiner festen Identität. Eine solche hat sie nicht.

New York: Depressionen, Kinder, Erfolge

1948 geht sie nach New York, lebt immer noch mit ihrer Mutter zusammen. Die Traumatisierungen nach dem Abschied vom Lager und von Deutschland brechen auf, sie wird von der Todessehnsucht der Depression überrollt, entwickelt Versagensängste vor Prüfungen. Lernen, Lesen erfährt sie als Rettung vor der Empörung über das gesellschaftliche Schweigen über die Nazizeit.

Erneute Zurückweisungen: Ihre KZ-Gedichte – von denen eine Auswahl in ihrem BandZerreißproben publiziert worden sind – sind „nicht salonfähig“ (S. 176), davon möchte man auch in den optimistischen USA nichts wissen. Stattdessen erzählt sie von etwas anderem. Sie möchte sich nicht noch weiter an den äußersten Rand drängen lassen.

Auch ihre KZ-Nummer stört den gesellschaftlichen Verdrängungsprozess in den USA. Ihre Erinnerungen sind unerwünscht, sie muss sie unterdrücken, diese dürfen nicht öffentlich werden. Mit 21 heiratet sie, sie bekommt zwei Kinder, die Geburt erlebt sie als Trauma, als unentrinnbare Einsamkeit. Nach neun Jahren die Scheidung, sie fühlt sich eingeengt, ist überall nur ein Anhängsel; nun empfindet sie sich als Feministin. 1964 folgt eine erste Stelle an der Universität. Sie erlebt als Frau nur Geringschätzung. Dann geht sie nach Ohio, fühlt anfangs Euphorie. Und doch schreibt sie nun Albtraumgedichte, ihre Lagererfahrungen brechen wieder durch. Des Erfolges vermag sie sich nicht lange zu erfreuen.

Göttingen: weiter leben und der Schock

Ihre Beziehungen zu ihren erwachsenen Kindern bleiben schwierig, Sie vermutet selbst, dass die durchlebte Verfolgung und Entwertung als Jugendliche hierbei maßgeblich mitwirke. 1985, da ist sie 54, dann eine ganz überraschende Wendung in ihrem Leben: Sie erhält eine Einladung aus Göttingen. Sie ist „wie gebannt von diesem Ort“, erkennt die Chance, „meine deutsche Vergangenheit, so gut es ging“ zu entwirren.“ (S. 208)

Sieben Jahre später erscheint ihre Autobiografie. Der Titel weiter leben ist präzise. Via Reich-Ranickis Literarischem Quartett wird ihr Lebenswerk, welches Verlage anfangs ablehnten, bereits nach einem Jahr ein Bestseller. Später wurde ihre Autobiografie, in der ihre tiefe Liebe zu Israel eindrücklich zur Sprache kommt, auch verfilmt (Renata Schmidtkunz (2011): Das Weiterleben der Ruth Klüger, 87 Min).

Viele Leser verstehen ihr Buch im wohlverstandenen Eigeninteresse so, dass sie, die jüdische Rückkehrerin, hiermit eine „Versöhnung“ herbeirede, diese dem deutschen Leser angeboten habe. Dies weist sie in entschiedener Weise zurück: „Das war falsch. Ich bin nicht befugt, den Mord an anderen Menschen zu verzeihen.“ (S. 211) Umso mehr empört sie Walsers 2002 bei Suhrkamp erschienenes antisemitisches Buch „Tod eines Kritikers“. Bereits vier Jahre zuvor hatte der politisch „linke“ ehemalige DKP-Verehrer Walser in seiner Frankfurter „Friedenspreisrede“ seinem antisemitischen Furor freien Lauf gelassen und von der „Moralkeule Auschwitz“ und der „Monumentalisierung der Schande“ schwadroniert. Er nahm den Juden das von ihnen offenkundig inszenierte Auschwitz schon sehr übel; je älter er wurde desto mehr. Jan Philipp Reemtsma sollte die Schrift ob ihrer vulgären antisemitischen Ressentiments eine „literarische Barbarei“ nennen.

In einer Rezension in Form eines Briefes in der Frankfurter Rundschau spricht sie vom „Gift, das Dir aus der Feder floß.“ (S. 212) Als Jüdin, die beruflich über deutsche Literatur schreibe, sei sie von seiner Darstellung eines Kritikers „als jüdisches Scheusal betroffen, gekränkt, beleidigt.“ (S. 212) Ruth Krüger bricht jeden Kontakt zu ihrem ehemaligen deutschen Studienfreund ab. Als ihre Gastprofessur in Göttingen ausläuft beantragt sie keine Verlängerung. Es war gut. Und es ist gut dass es vorbei ist.

Feindesland und die Wiener Neurose

Sie hat die erstaunliche seelische Fähigkeit entwickelt, sich Deutschland und Österreich doch noch einmal anzunähern. Dabei möchte sie es aber belassen. Das Brüchige, Verletzte, Gekränkte bricht wieder durch. Das alte Feindesland ist wieder da. Immer wieder zeigt man ihr unmissverständlich, „daß wir nicht dazugehörten“ (S. 216). Wien, Österreich bleibt die Wunde, die nicht heilen kann und doch zu ihr gehört. Eines Kurt Waldheim hätte es da gar nicht mehr bedurft. In ihrem Gedicht „Wiener Neurose“ schreibt sie: „Ich bin im Hause des Henkers geboren. Naturgemäß kehr ich wieder.“ (S. 221) Und immer wieder verwendet sie im Gespräch mit einer Wiener Freundin die Sentenz „Es ist uns schon schlechter gegangen.“ (ebd.)

Es gelingt Monika Jesenitschnig vorzüglich, Ruth Klügers Lebensthemen und ihr Werk als Lebensäußerungen einer Überlebenden zu beschreiben.

Monika Jesenitschnig: Holocaust, Trauma und Resilienz. Eine entwicklungspsychologische Studie am Beispiel von Ruth Klügers Autobiografie, Gießen: Psychosozial Verlag, 264 S., 32,90 Euro, Bestellen?

Deutlich kürzere, überarbeitete Versionen dieser Besprechung erschienen in der Jüdischen Allgemeinen https://www.juedische-allgemeine.de/ sowie in der Zeitschrift „Einsicht“ https://www.fritz-bauer-institut.de/publikationen/einsicht (Oktober 2019) des Fritz Bauer Instituts

Bild oben: Ruth Klüger, 2008, (c): Das blaue Sofa / Club Bertelsmann

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