Keinerlei Rettung aus der Gefahr?

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Einige Überlegungen zu drei Essays von Joshua Cohen über Donald Triump und Benjamin Netanjahu aus der Textsammlung Aufzeichnungen aus der Höhle

Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.
Friedrich Hölderlin: Patmos, 1803

Von Karl-Josef Müller

Attention: Dispatches from a Land of Distraction, so der Originaltitel der Essaysammlung von Joshua Cohen, die nun in erweiterter deutscher Übersetzung als Aufzeichnungen aus der Höhle vorliegt. Im Folgenden gilt unsere Aufmerksamkeit drei Texten, ihre Originaltitel lauten: Israel’s Seasons of Discontent: Seventy Years after its founding, has the Jewish State abandoned the American diaspora?, Shloshim (from the diary) sowie The Last Last Summer (on Donald Trump and the Fall of Atlantic City).

Cohen ist in Atlantic City aufgewachsen, einer Stadt, deren Glanz mehr vom Schein als von wertiger Substanz zeugt. Und so lautet der Titel seines Essays auch, in deutscher Übersetzung Der allerletzte Sommer: Über Donald Trump und den Untergang von Atlantic City. Cohens Fazit: Trump, Immobilienbesitzer in Atlantic City, ist, war immer und wird auch weiterhin ein an Megalomanie erkrankter Hochstapler bleiben.

Joshua Cohen nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn es gilt, die Charaktereigenschaften des alten und neuen Präsidenten der USA zu benennen:

„Für mich war Trump immer ein Dummschwätzer, ein Hochstapler, ein Großmaul: ein Hanswurst mit Zuckerwattefrisur, der zu spät zur AC-Party [Atlantic City] kam und sie zu früh und als ein Scherbenhaufen zurückließ.“

Liest man die Ausführungen Cohens, kommt einem aber auch der Begriff ‚Talmi‘ in den Sinn, also Falschgold, im übertragenen Sinn heute etwas Unechtes, nicht Authentisches. 

Cohens Essay stammt aus dem Jahr 2016, Trump wird gerade zum ersten Mal Präsident der Vereinigten Staaten. Wichtig noch zu erwähnen, was die deutsche Ausgabe nicht kenntlich macht: Veröffentlicht wurde The Last Last Summer (on Donald Trump and the Fall of Atlantic City) zuerst am 6. September 2016, also zu einem Zeitpunkt, als Trump noch nicht gewählt war – und somit noch nicht klar war, ob er die Wahl gewinnen würde. Das Postskriptum der deutschen Übersetzung stammt wohl aus dem Jahr 2018, dem Erscheinungsjahr der Essaysammlung.

Etwa zwei Jahre später, am  14. Mai 2018, wird die US-amerikanische Botschaft in Jerusalem eröffnet, auf Initiative von Donald Trump, soweit wir wissen. Aus diesem Anlass sprechen zwei evangelikale Prediger, Dr. Robert Jeffress und Pastor John Hagee, Gebete, die man sich auf youtube ansehen kann. Die beiden sind Anhänger des Dispensationalismus.

In dem Text Israels Zeit der Unzufriedenheit. Hat der jüdische Staat 70 Jahre nach seiner Gründung die amerikanische Diaspora aufgegeben? beleuchtet Cohen die absurden Hintergründe der Eröffnungsfeierlichkeiten. Wer so jemanden einlade, in Jerusalem zu sprechen, um nicht zu sagen: zu predigen, verrate sein eigenes Volk, so Cohen:

„Ich möchte klarstellen, dass meine Abneigung gegen diese beiden salbungsvollen Philosemiten nichts ist im Vergleich zu der Verachtung, die ich für die jüdischen Antisemiten hege, die sie eingeladen haben: Der tiefere Hass gilt immer den eigenen Leuten.“

Während in Jerusalem die Gebete gesprochen werden, kommt es im Gaza-Streifen an der Grenze zu Israel zu Protesten, bei denen Todesopfer zu beklagen sind:

„Am 14. Mai wurden 59 Menschen getötet und mindestens 2700 verwundet, etwa 60 Meilen Luftlinie von jenem Ort, an dem Jarad, Ivanka und die heiligen zwei Könige aus Texas in Jerusalem predigten.“

Wer Genaueres über Pastor Robert Jeffress erfahren möchte, sei auf einen Artikel im VICE magazine verwiesen: „Although Pastor Robert Jeffress believes that Benjamin Netanyahu is going to hell, the evangelical leader is thankful for the prime minister’s ‚courageous leadership‘ of Israel.“

In seinem Totengedenken Schloschim (aus dem Tagebuch), gegliedert in dreißig unterschiedlich lange durchnummerierte Absätze, unterzeichnet Joshua Cohen achtzehn Mal seine Weigerung, irgendeinen offenen Brief oder Ähnliches zu unterschreiben:

„1. Wir, die Unterzeichner, werden euer Schreiben nicht unterzeichnen. Wir haben genug von offenen Briefen, Petitionen und Masturbationen. Wir haben genug vom Internet, von Interpretationen und vom Tod.“

Der Begriff Schloshim wird leider nicht erläutert, es ist die Bezeichnung für die zweite Trauerperiode im Judentum, die vom Ende der Schiwa bis zum 30. Tag nach der Beerdigung dauert.

Zuerst veröffentlicht wurde der Essay in der Sammlung Shelter:

„The short story collection ‚Shelter‘ was published in December 2023, shortly after the events of October 7. Edited by Oded Wolkstein and Maayan Eitan and published by the Israeli Institute for Hebrew Literature, the anthology brings together short stories and writings by Israeli and international authors. Each story captures the writers’ initial reactions to the horrific massacre and the ensuing war, exploring language and form rather than presenting polished, finished works of fiction.“

Diese Texte sind online abrufbar, und damit auch der Text von Joshua Cohen im englischen Original.

Ein weiteres Zitat aus Cohens Essay:

  1. Was mich überrascht, ist nicht der Antisemitismus. Was mich überrascht, ist, wie viele Versuche nötig sind, um einen Menschen mit einer Schaufel zu enthaupten.

Den französischen Autor Louis-Ferdinand Céline lediglich einen durchschnittlichen Antisemiten zu nennen, wäre eine Untertreibung. Und obwohl am 7. Oktober 2023 der Versuch der Enthauptung eines Menschen mit Hilfe einer Schaufel ohne die fortwährende Geißel des Antisemitismus wohl nicht unternommen worden wäre, scheut Cohen sich in einem seiner Essays nicht, das wichtigste Werk Célines, die Reise ans Ende der Nacht, „eines jener großen Meisterwerke für die wenigen Auserwählten“ zu nennen.

Denn beides widerspricht nicht einander – weil das Widersprüchliche, und vielleicht auch Unbegreifliche, und das, vor dem wir die Augen verschließen wollen, es aber weder sollten noch können, weil dieses Widersprüchliche nicht erst seit gestern in der Welt ist.

Was allerdings die offenen Briefe betrifft, die Cohen sich weigert zu unterzeichnen: Diese offenen Briefe gieren förmlich nach eindeutigen Botschaften, ihre Unterzeichner sind süchtig nach der Unterscheidung zwischen Gut und Böse. Diese offenen Briefe erweisen sich meist als so naive wie gut gemeinte Botschaften, in denen Menschen einander doch nur zu gerne zu versichern trachten, dass ein Urteil möglich ist, dass sie, die Unterzeichner, richten können, ohne selbst gerichtet zu werden.

Und Joshua Cohen kann nicht ausschließen, dass ein Joshua Cohen einen solchen Brief unterschreiben wird:

„2. Ein interessanter Aspekt daran, Joshua Cohen zu heißen, ist, dass es immer jemand anders gibt, der Joshua Cohen heißt und offene Briefe zu Israel unterschreibt.“

Es ist kaum möglich, Worte zu finden, die den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 angemessen wären. Diesem Dilemma begegnet Joshua Cohen, indem er sich weigert, die Folgen und Reaktionen auf dieses Geschehen mit den abgenutzten Worte der Betroffenheit zu umschreiben; er lässt es sich vielmehr nicht nehmen, darauf in seiner eigensinnigen Sprache und Argumentation zu antworten.

Worum es Cohen vielleicht geht – wir können nicht beurteilen, ob dem so ist, aber Vermutungen seien erlaubt – könnte die erste Strophe eines Gedichtes von Paul Celan umschreiben:

WEGGEBEIZT vom
Strahlenwind deiner Sprache
das bunte Gerede des An-
erlebten – das hundert-
züngige Mein-
gedicht, das Genicht.

„Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen. Ihr Wahrheitsgehalt selbst wird ein Negatives.“ So Theodor W. Adorno in seiner Schrift Ästhetische Theorie. Vielleicht, und wir formulieren bewusst vorsichtig, vielleicht erklärt sich Joshua Cohens Art und Weise, über den 7. Oktober 2023 zu schreiben, aus dieser Erkenntnis: dass unsere Sprache machtlos ist angesichts des Geschehenen. Dann stellte Cohens oftmals so indirekte wie komplexe Redeweise, verzichtend auf die üblichen Formeln, in denen dem Entsetzen Ausdruck verliehen werden soll, den Versuch dar, trotz alledem die Sprachlosigkeit zu überwinden.

Im Jahr 2021, genauer gesagt am 5. Mai in Großbritannien und am 22. Juni in den USA, erscheint Joshua Cohens Roman The Netanyahus: An Account of a Minor and Ultimately Even Negligible Episode in the History of a Very Famous Family, am 26. Januar 2023 folgt die deutsche Ausgabe. Noch bevor diese erscheint, fasst Hannes Stein seine Besprechung des Originals in der Welt wie folgt zusammen: „Ihm ist mit diesem wilden, verzweifelten, hochkomischen, tieftraurigen, hervorragend durchkomponierten Roman ein Meisterwerk gelungen“.

Dieses Urteil, dem wir uns anschließen möchten, unterscheidet sich, soweit wir die entsprechenden Texte kennen, signifikant von den meisten Rezensionen nach Erscheinen der Übersetzung. Hochkomisch und wild – ja; verzweifelt und tieftraurig – eher nein.

In der New York Times vom November 2011 zeigt sich Taffy Brodesser-Akner regelrecht erschüttert nach der Lektüre von Cohens Roman. Bei manchen Passagen könnte fast meinen, ihr Text sei nicht bereits 2011, sondern nach dem 7. Oktober 2023 geschrieben. Hier einige Zitate:

„It is an infuriating, frustrating, pretentious piece of work — and also absorbing, delightful, hilarious, breathtaking and the best and most relevant novel I’ve read in what feels like forever.“

„… being Jewish meant I had to answer for Israel or its government, which I did not elect.“

„This was a good book to read as I searched in my mind for other times that we cheer on terrorism except for when it’s happening to the Jews.“

„…the horrible loneliness of being an American Jew in ways we can’t always talk about when someone else is listening.“

Wir verweisen auf unsere eigene Besprechung des Romans vom 14. Juni 2023 – etwa vier Monate vor dem Massaker vom 7. Oktober.  Unser damaliges Erstaunen über die Betroffenheit von Taffy Brodesser-Akner konnte nur bis zum 7. Oktober 2023 andauern. Und das jüngste Attentat von Washington auf zwei Mitarbeiter der israelischen Botschaft bestätigt ihre Furcht, jüdisches Leben sei auch in den USA gefährdet.

Joshua Cohen: Aufzeichnungen aus der Höhle. Herausgegeben und übersetzt von Jan Wilm, Schöffling & Co. Verlagsbuchhandlung GmbH, Frankfurt am Main 2024, 320 Seiten, 28 €, Bestellen?