Von der Kritik an RIAS oder dem Kampf gegen den Kampf gegen jeden Antisemitismus

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In einem gerade von der „Diaspora Alliance“ veröffentlichten „Bericht über die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)“ wird deren angebliche „Überbetonung des ‚israelbezogenen Antisemitismus‘“ kritisiert und damit eine der heutzutage dominierenden Antisemitismuserscheinungsformen verharmlost.

Von Thomas Tews

Der israelische Journalist und Datenanalytiker Itay Mashiach verfasste unter dem Titel „Antisemitismus-Monitoring in Deutschland auf dem Prüfstand“ einen 60 Seiten umfassenden kritischen „Bericht über die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS)“[1], der eigentlich im Mai 2024 hätte erscheinen sollen, aber „angesichts der verheerenden Entwicklungen“ in Israel und dem Gazastreifen seit dem 7. Oktober 2023 zunächst zurückgehalten[2] und erst vor Kurzem auf der Webseite der „Diaspora Alliance“ – laut Eigenbeschreibung „eine internationale Organisation, die sich dem Kampf gegen Antisemitismus und seine Instrumentalisierung widmet“,[3] – veröffentlicht wurde. Seit seinem Erscheinen hat er die in Deutschland anhaltende Antisemitismusdebatte von Neuem befeuert.[4]

In dem Bericht wird kritisiert, dass der von RIAS geführte „Kampf ‚gegen jeden Antisemitismus‘ […] vor allem den ‚israelbezogenen‘“ meine[5], dieser „überbetont“[6] und als politisches Instrument eingesetzt werde:

„In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben die israelische Regierung und ihr nahestehende Organisationen das Label ‚israelbezogener Antisemitismus‘ verstärkt als politisches Instrument eingesetzt, um Kritik an ihrer Politik zu delegitimieren – mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Redefreiheit und der politischen Meinungsäußerung.“[7]

So würden „mit Hilfe der Arbeit von RIAS legitime politische Sprechakte zum Schweigen gebracht und Grundrechte bedroht“. Daher bedürfe „es dringend der öffentlichen, evidenzbasierten und wissenschaftlichen Kritik an den Arbeitsprinzipien und Methoden von RIAS und der Darstellung ihrer Statistiken, Fallstudien und Einschätzungen“.[8]

An dieser Stelle lohnt sich die Lektüre des gerade erschienenen Buches „Die Liebe zum Hass“ des liberalen Islamwissenschaftlers Abdel-Hakim Ourghi, in dem dieser darlegt, wie sich hinter „Israelkritik“ Antisemitismus verbergen kann:

„Israelkritik ist eine Projektionsfläche für Judenfeindschaft. Viele Antisemiten, auch muslimische, glauben, dass ihnen die Verlagerung des Judenhasses auf Israel als Staat erlaube, sich dem Vorwurf des Antisemitismus zu entziehen. Diese Ausweichbewegung ist tatsächlich meist erfolgreich, selbst wenn die ‚Israelkritik‘ in der Regel wenig mit sachlicher oder differenzierter Kritik zu tun hat. Selbstverständlich darf man die Politik einer israelischen Regierung infrage stellen, ja auch scharf kritisieren. Kritik sollte aber informiert und faktenbasiert sein. Kritik muss in der Lage sein, die eigene Position zu revidieren und darf nicht immun sein gegen Selbstkritik. Emotionale Pauschalurteile, überzogene oder falsche Vergleiche, Täter-Opfer-Umkehrungen, mit Affekten überladene Äußerungen und die völlige Unfähigkeit zur Selbstkritik sind aber meist Indikatoren dafür, dass hier etwas anderes am Werk ist als Kritik.“[9]

In dem sich als „Israelkritik“ tarnenden Antisemitismus erblickt Ourghi ein gesellschaftliches Querschnittsphänomen:

„Es ist auffällig, dass es ‚israelkritischen‘ Antisemitismus in allen politischen Lagern und gesellschaftlichen Milieus gibt. Es gibt ihn in rechtsextremer, rassistischer Gestalt und in linksextremer, antiimperialistischer oder antikapitalistischer Ausprägung; es gibt ihn unter Christen jeglicher Couleur und in der gesellschaftlichen Mitte. Und es gibt ihn in religiös-islamischen Milieus.“[10]

Von den verschiedenen Formen der Dämonisierung Israels kritisiert Ourghi insbesondere jene, die auf eine Holocaustrelativierung hinausläuft:

Besonders perfide ist der Vorwurf, die Nachfahren der Schoa seien die Nazis von heute. Der von israelbezogenen Antisemiten gern benutzte Slogan ‚One genocide doesn’t justify another‘ (ein Völkermord rechtfertigt keinen weiteren) relativiert den Holocaust zugunsten der eigenen Agenda: Selbst nicht besser als die Nationalsozialisten strebten ‚die Juden‘ nun ihrerseits die Massenvernichtung der Palästinenser an.“[11]

Die Berliner Linguistikprofessorin Monika Schwarz-Friesel, die sich der Erforschung der Sprache des Antisemitismus widmet, kritisiert in ihrem 2015 erschienenen Aufsatz „Aktueller Antisemitismus. Konzeptuelle und verbale Charakteristika“ „die Tendenz, aktuellen Antisemitismus in seiner besonders frequenten Manifestationsvariante des Anti-Israelismus zu leugnen, zu bagatellisieren oder semantisch als ‚legitime Kritik‘ umzudeuten“, denn

„Als geistiges Phänomen ist Antisemitismus eine feindselige, ressentimentgeleitete Einstellung gegenüber Juden und Judentum, sowie gegenüber Israel, das als jüdischer Staat im besonderen Fokus aller antisemitischen Aktivitäten steht, da es das wichtigste Symbol für genuin jüdische Lebensweise nach dem Holocaust ist. […]

Israel wird metaphorisch als ‚der Schurke unter den Staaten‘, dehumanisierend als ‚nahöstliches Krebsgeschwür‘ und mittels Hyperbeln als ‚das größte Übel in der Welt‘ charakterisiert. So werden die klassischen judenfeindlichen Ressentiments auf den jüdischen Staat projiziert: ‚Israel stört den Weltfrieden‘ basiert auf dem uralten Denkmuster ‚Juden sind die Störenfriede in der Welt‘. […]

Gebildete Schreiber präsentieren sich dabei besonders häufig als nicht-rassistische, den Juden moralisch überlegene Personen, denen sie menschliches Versagen und – in der Traditionslinie der antisemitischen Dehumanisierungssemantik – Inhumanität vorwerfen: So fragte ein Akademiker den Zentralrat der Juden anlässlich der Gaza-Krise 2009: ‚Habt ihr überhaupt menschliche Gefühle?‘“[12]

In ihrer Untersuchung konstatiert Schwarz-Friesel eine „Israelisierung der antisemitischen Semantik“:

„Israel zieht als jüdischer Staat den Hass von Antisemiten jedweder politischen Ausrichtung auf sich und ist in den letzten Jahrzehnten die primäre Projektionsfläche judenfeindlicher und verschwörungsbasierter Fantasien geworden. In antisemitischen Texten wird Israel unikal fokussiert und als ‚Frevel in der Völkergemeinschaft‘ konzeptualisiert sowie in seiner Existenz delegitimiert. Dies führt zu Argumentationsmustern, die rhetorisch und syntaktisch identisch sind: ‚Juden sind das größte Übel der Menschheit und bedrohen den Weltfrieden.‘ ‚Israel ist der schlimmste Verbrecherstaat und bedroht den Weltfrieden!‘ Der einzige Unterschied liegt in der Lexik: Rechte und rechtsradikale Verfasser referieren explizit auf Juden, linke und in der Mitte anzusiedelnde Schreiber benutzen die Wörter Zionisten, Israel und Israelis.“[13]

Julia Bernstein, die als Professorin an der Frankfurt University of Applied Science zu Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft forscht und lehrt, arbeitet in ihrem 2021 erschienenen Buch „Israelbezogener Antisemitismus. Erkennen – Handeln – Vorbeugen“ heraus, „dass die ‚Israelkritik‘ der Rationalisierung des antisemitischen Ressentiments dient und damit einen Anlass schafft, die Abneigung und Wut gegenüber Juden abzureagieren“. Der israelbezogene Antisemitismus sei „die heutzutage dominierende Erscheinungsform des Antisemitismus“.[14]

In einem fünf Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 in der Frankfurter Rundschau erschienenen Interview wies der Soziologe und Antisemitismusforscher Klaus Holz darauf hin, dass sich linker und islamistischer „Antisemitismus (zumindest vordergründig) hauptsächlich als Antisemitismus gegen Israel“ äußere:

„Israel erscheint links wie islamistisch dann als Inbegriff des Westens, des Kolonialismus und Imperialismus. Deshalb müsse man sich mit dem ‚palästinensischen Kampf‘ solidarisieren, sei es im Namen internationaler oder islamischer Solidarität. Linke, im Kunstbetrieb oder wo auch immer, denen die Solidarität mit Palästina wichtig ist, müssen sich dringend mit der Komplexität des Nahostkonfliktes auseinandersetzen und sich in aller Klarheit vom israelbezogenen Antisemitismus abgrenzen. Die einseitige Verteufelung Israels mündet in eine Solidarität mit Gruppen wie der Hamas. Das ist völlig inakzeptabel und gibt alle linken Werte zugunsten des Antisemitismus auf.“[15]

Was heutzutage unter „israelkritisch“ – ein seit 2017 sogar im Duden zu findendes Adjektiv[16] – firmiert, beschreibt Ourghi in seinem oben bereits zitierten Buch wie folgt:

„An den Staat Israel werden bei dieser Kritik Maßstäbe angelegt, wie sie für keinen anderen Staat gelten. Wenn Israel sich gegen seine Existenz bedrohende Angriffe wehrt, werden dem Land gern ‚ethnische Säuberungen‘, ‚Kolonialismus‘, ‚Islamophobie‘, ‚Genozid‘ oder ‚Kindermord‘ vorgeworfen. Gerade bei Letzterem ist die Verbindung zu alten europäischen Motiven des Judenhasses nicht zu übersehen. […]

Was bedeutet es, dass ‚Israelkritik‘ für unsere Ohren normal klingt, ‚Türkeikritik‘ oder ‚Syrienkritik‘ dagegen absurd? Und dies trotz teils massiver Menschenrechtsverletzungen in den nicht auf vergleichbare Weise bedachten Staaten? Offensichtlich gibt es ein geradezu obsessives Kritikbedürfnis, wenn es um Israel geht. […]

Der Völkermord im Sudan, ermordete Frauen und queere Personen in der Islamischen Republik Iran, die Entführung und Hinrichtungen von Dissidenten oder Kritikern des saudischen Königreichs, die Lagerhaltung und die Verfolgung der Uiguren in China lösen keine vergleichbaren Leidenschaften aus.“[17]

Auch der britische Journalist und Herausgeber des Jewish Chronicle Jake Wallis Simons weist in seinem 2023 in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung“ auf die bei „Israelkritik“ oft zutage tretenden doppelten Standards hin:

„Die Öffentlichkeit wird ermutigt zu glauben, der Hass auf den jüdischen Staat sei etwas völlig anderes als der Hass auf Juden. Aber es dauert nicht lange, bis die Maske fällt. Werfen wir einen Blick auf die Massendemonstrationen vom Mai 2021, als das israelische Militär auf die Raketen der Hamas reagierte. Als die Kampfhandlungen abgeklungen waren, waren 256 Palästinenser, die meisten von ihnen Terroristen, und vierzehn israelische Zivilisten tot (weitere Opfer wurden Israel durch das Raketenabwehrsystem Iron Dome erspart, das mehr als 1.200 Raketen abfing und zerstörte, bevor sie auf Häusern und Büros landen konnten).

Warum haben die Demonstranten gerade auf diesen Konflikt so vehement reagiert? In jenem Jahr konnte man den Aufzeichnungen der Vereinten Nationen (UN) entnehmen, dass es zahlreiche Kriege, Ungerechtigkeiten, Menschenrechtsverletzungen und Gräueltaten auf der ganzen Welt gab. Sogar vor der Haustür Israels. In Syrien hatte der zehnjährige Krieg mit mehr als einer halben Million Toten einen traurigen Höhepunkt erreicht. Im Jemen, der als Schauplatz der schwersten humanitären Krise der Welt bezeichnet wurde, war die akute Unterernährung so hoch wie nie zuvor seit Beginn des Konflikts. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung litt unter akutem Nahrungsmittelmangel, und zehntausende Kinder wurden seit Beginn der Kämpfe getötet oder verstümmelt.

In Tigray in Äthiopien wütete die Gewalt, und 350.000 Menschen waren von einer Hungersnot bedroht. Ein Putsch in Myanmar trieb 25 Millionen Menschen, fast die Hälfte der Bevölkerung, in die Armut. In Mali wurden UN-Friedenstruppen getötet, 400.000 Menschen flohen aufgrund der Gewalt aus ihren Häusern, und fast fünf Millionen Menschen waren auf humanitäre Hilfe angewiesen. Und doch war es der Israel-Konflikt mit seinen 270 Toten, der weltweit so große und erbitterte Demonstrationen auslöste. Warum? […]

Gemessen an Korruption, Menschenrechten, Demokratie, Freiheit usw. liegt der jüdische Staat in der Regel im Mittelfeld oder darüber. Letztendlich ist er ein Land wie jedes andere, mit seinen eigenen Qualitäten und seinen eigenen Sünden. Warum wird er nicht nach den Maßstäben beurteilt, die für alle anderen Nationen gelten? Warum wird er an den Pranger gestellt, boykottiert, angegriffen, verunglimpft und beschimpft?“[18]

Auf diese berechtigten Fragen gibt die Studie „Antisemitismus-Monitoring in Deutschland auf dem Prüfstand“ in ihrer Kritik an RIAS’ vermeintlicher „Überbetonung des ‚israelbezogenen Antisemitismus‘“[19] leider keine Antwort. Ein reales Problem wie der israelbezogene Antisemitismus verschwindet nicht durch Verharmlosung, der die Studie Vorschub leistet, vielmehr lässt es sich nur mittels beharrlicher Aufklärungs- und Bildungsarbeit, wie sie von RIAS und anderen Organisationen geleistet wird, bekämpfen. Letzteren gebührt hierfür Dank und Anerkennung anstelle von Kritik, die erkennbar nur dem Zwecke der Immunisierung des eigenen, eine antiisraelische Agenda verfolgenden Aktivismus gegen Antisemitismusvorwürfe dient.

–> Zur Website des Bundesverbands der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus – report-antisemitism.de

Literatur

Bernstein 2021: Julia Bernstein, Israelbezogener Antisemitismus. Erkennen – Handeln – Vorbeugen. Unter Mitarbeit von Florian Diddens. Beltz Juventa, Weinheim 2021.

Holz 2023: Klaus Holz, Über Antisemitismus: „Wir produzieren riesige blinde Flecken“. Ein Interview von Harry Nutt. Frankfurter Rundschau, 12.10.2023, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/klaus-holz-ueber-antisemitismus-wir-produzieren-riesige-blinde-flecken-92574077.html (letzter Zugriff am 31.05.2025).

Mashiach 2025: Itay Mashiach, Antisemitismus-Monitoring in Deutschland auf dem Prüfstand. Ein Bericht über die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS). Diaspora Alliance, 23.05.2025, https://diasporaalliance.co/wp-content/uploads/2025/05/RIAS_German-final.pdf (letzter Zugriff am 31.05.2025).

Ourghi 2025: Abdel-Hakim Ourghi, Die Liebe zum Hass. Israel, 7. Oktober 2023. Claudius, München 2025.

Reinecke 2025: Stefan Reinecke: Streit um Antisemitismus-Definition: Scharfe Kritik an den Rechercheuren. taz, 25.5.2025, https://taz.de/Streit-um-Antisemitismus-Definition/!6086987/ (letzter Zugriff am 31.05.2025).

Schwarz-Friesel 2015: Monika Schwarz-Friesel, Aktueller Antisemitismus. Konzeptuelle und verbale Charakteristika. Bundeszentrale für politische Bildung, 07.09.2015, https://www.bpb.de/themen/antisemitismus/dossier-antisemitismus/211516/aktueller-antisemitismus/ (letzter Zugriff am 31.05.2025).

Simons 2023: Jake Wallis Simons, Israelphobie. Die unendliche Geschichte von Hass und Dämonisierung. Aus dem Englischen von Klaus Bittermann, Mark Feldon, Christoph Hesse. Edition Tiamat, Berlin 2023.

Anmerkungen

  1. Mashiach 2025.
  2. Mashiach 2025, S. 5.
  3. Mashiach 2025, S. 2.
  4. Reinecke 2025.
  5. Mashiach 2025, S. 57.
  6. Mashiach 2025, S. 13; 30.
  7. Mashiach 2025, S. 11.
  8. Mashiach 2025, S. 57.
  9. Ourghi 2025, S. 121 f.
  10. Ourghi 2025, S. 120.
  11. Ourghi 2025, S. 120 f.
  12. Schwarz-Friesel 2015.
  13. Ebenda.
  14. Bernstein 2021, S. 10.
  15. Holz 2023.
  16. https://www.duden.de/rechtschreibung/israelkritisch (letzter Zugriff am 31.05.2025).
  17. Ourghi 2025, S. 119–120.
  18. Simons 2023, S. 16–18.
  19. Mashiach 2025, S. 8.