„Ich stehe hier frei, aber mein Herz ist nicht ganz“

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Foto: Lior Rotstein

Wieder ein Samstag, wieder versammelten sich Tausende am Platz der Entführten in Tel Aviv für die wöchentliche Kundgebung. Bald sind es 600 Tage, die die verbliebenen Geiseln in Gaza ausharren. Ein Ende ist weiter nicht in Sicht, in der vergangenen Woche zog Premier Netanyahu die israelische Delegation von den Verhandlungsgesprächen in Doha zurück.

„Es ist schwer zu beschreiben, wie es sich anfühlt – jeden Tag aufzuwachen und zu wissen, dass die Lieben noch da sind, noch leiden, noch auf Rettung warten. Wir wissen, dass sie leben, und wir wissen, dass die Zeit knapp wird. Deshalb war die Entscheidung, das Verhandlungsteam zurückzurufen, so niederschmetternd. Jeder Tag ohne Gespräche ist ein Tag, an dem wir riskieren, sie zu verlieren“, sagte Liran Berman, Bruder der Zwillinge Gali und Ziv Berman, die übrigens auch die deutsche Staatsangehörigkeit haben.

Liran Berman, Foto: Paulina Patimer

Einav Zangauker sprach auf der Kundgebung über den Zustand von ihrem Sohn Matan, über den sie letzte Woche über Edan Alexander hörte: „Fast 600 Tage, dass mein Sohn, den ich geboren und großgezogen habe, mein eigenes Fleisch, in der Hamas Gefangenschaft leidet. Mein Matan sitzt in einer kleinen Ecke im Tunnel und kann nicht essen. Matan weigert sich zu essen. Matan weigert sich zu essen, weil er unter schrecklichen Bauchkrämpfen leidet. Matan spricht auch nicht. Der Grund – die Depression. Meinem Matan fällt es schwer, ein Glas Wasser  zuhalten, wegen seiner Muskeldystrophie. Nachts schließe ich die Augen und stelle mir vor, wie er Dutzende Meter unter der Erde allein in der Ecke sitzt. Tag für Tag hört er die Bombenangriffe, der Tunnel bebt, stürzt vielleicht ein, und er sitzt allein da und fühlt sich vergessen. Zurückgelassen. Sagen Sie mir, Herr Premierminister: Wie schlafen Sie abends ein und wachen morgens auf – wie schauen Sie in den Spiegel, wenn Sie wissen, dass Sie 58 Geiseln im Stich lassen?“

Ilana Gritzewsky und Einav Zangauker, Foto: Paulina Patimer

Naama Levy, eine der fünf Späherinnen, die nach 477 Tagen freigelassen wurde, sprach erstmals am Platz der Entführten: „In den ersten Wochen der Gefangenschaft war ich allein – nur ich und meine Wächter. Ständig auf der Flucht, in Todesangst. Manchmal ganze Tage ohne Essen, mit wenig Wasser. An einem Tag hatte ich nichts mehr. Nicht einmal Wasser.

Was mir am meisten Angst machte, waren die Bombenangriffe. Zuerst hörte man das Pfeifen und betete, dass es nicht auf uns fällt. Dann die Explosionen – Geräusche so intensiv, dass sie einen lähmen, und die Erde bebte. Jedes Mal war ich mir sicher, es ist mein Ende. Bei einem Bombenangriff stürzte ein Teil des Hauses ein, in dem ich mich befand. Zum Glück blieb die Wand, an die ich mich lehnte, erhalten, und das rettete mir das Leben.

Auch jetzt, in diesem Moment, hören Geiseln dieselben Pfeifen und Explosionen. Sie sind da und zittern vor Angst. Sie können nirgendwohin fliehen, nur beten und sich mit einem schrecklichen Gefühl der Hilflosigkeit an die Wände klammern.

Ich stehe hier frei, aber mein Herz ist nicht ganz. Denn bis die letzte Geisel zurückkehrt, kann ich – wie alle meine Mitheimkehrer – nicht wirklich spüren, dass wir zurück sind, können wir uns nicht wirklich erholen.“

Naama Levy, Foto: Alon Gilboa