„…daß jeder Jude nur zugleich mit der Menschheit erlöst werden kann“ – Gustav Landauer und die jüdische Geistes- und Kulturgeschichte
Von Siegbert Wolf
Die hier anzuzeigende Veröffentlichung über den libertären Kulturphilosophen, Schriftsteller, Theatermacher, Übersetzer, Antimilitarist und Initiator zahlreicher anarchistischer Projekte Gustav Landauer (1870-1919) ist auf die Frage fokussiert, „inwieweit Landauers jüdisches Erbe, also sowohl sein familiärer Hintergrund als auch all das, was Landauer als Erbe annahm, tatsächlich Einfluss auf sein Werk und sein Denken hatte.“ (S. 2) Der Verfasser versteht seine Studie als intellektuelle Biografie, die Leben und Werk Landauers „im Hinblick auf dessen Verwobenheit in den Entstehungsprozess einer modernen säkularen jüdischen Kultur“ (S. 12) nachzeichnet.
Gustav Landauer wuchs in einer jüdisch-akkulturierten bürgerlichen Familie auf, in der Bildung einen hohen Stellenwert einnahm. Die Kaufmannsfamilie Landauer pflegte die jüdische Tradition vorwiegend in der Erinnerung; im Alltagsleben spielte sie nur eine marginale Rolle. Indes eröffneten die engen Verbindungen zur ländlichen jüdischen Verwandtschaft Gustav Landauer den unmittelbaren und anhaltenden Kontakt zu den vielfältigen, religiösen und traditionellen jüdischen Lebensformen. Bereits seine ersten Schreibversuche als Jugendlicher enthalten deutliche Hinweise auf sein Judentum.
Stets bekannte sich Landauer offen zu seiner jüdischen Herkunft. In seinen frühen Briefe finden sich wiederholt Andeutungen auf jüdische Feiertage, Bräuche und Schriften. Liest man seinen Briefwechsel mit zumeist jüdischen JugendfreundInnen, dann wird deutlich, wie hoch der Assimilationsdruck seitens der christlichen Mehrheitsbevölkerung auf den jüdischen Deutschen lastete und wie ihnen dennoch die vollständige gesellschaftliche Gleichberechtigung verwehrt blieb. Gleichwohl lag eine Konversion für Landauer ebenso außerhalb seines Vorstellungsvermögens wie Akkulturation und Zionismus. Nach seinem Austritt aus der jüdischen Gemeinschaft (1892) blieb er konfessionslos und bewahrte sich eine kritisch-distanzierte Haltung zu institutionalisierten Religionen. Betrachtungen seines Herkunftsmilieus und seiner jüdischen Lebensrealität nahmen einen bedeutenden Teil seines Denkens als Intellektueller ein. Intensiv spürte er den messianischen und mystischen, gemeinschaftlichen und nichthierarchischen Werten von Religion(en) nach.
Landauers Wiederentdeckung der jüdischen Tradition, der mystischen und häretischen Quellen des Judentums (Messianismus, Kabbala, Chassidismus) – bei gleichzeitiger Distanz zur rabbinischen Religion, aber auch zum liberal-assimilatorischen Judentum – ergab sich weniger als eine Reaktion auf den grassierenden Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg. Sein Judentum entsprang vielmehr, wie bei Martin Buber, primär kulturellen Impulsen im Hinblick auf einen engen Zusammenhang zwischen ‚geworden-werdendem’ Judentum und Menschheitsidee. Landauers Utopie einer restrukturierten kommunitären Gesellschaft meint vor allem die Rückbesinnung auf die revolutionären Inhalte der eigenen jüdischen Tradition.
So integrierte er bewusst den jüdischen Messianismus in seine libertäre Geschichtsphilosophie, worunter er gemeinschaftliche Erlösung im Diesseits, im Hier und Jetzt, verstand; aus „Gewordenem“ soll „Werdendes“ erwachsen. Gustav Landauer widersprach der zionistischen Bewegung, wonach das Judentum aufgrund der gescheiterten Assimilation und des zunehmenden Antisemitismus nicht gemeinsam mit anderen Nationen leben könne. Nur im ‚Bund‘ mit der gesamten Menschheit sei das Judentum überhaupt zukunftsfähig. Landauers Idee einer Regeneration der Menschheit, zu der er alle Jüdinnen und Juden inmitten der Diaspora aufrief, beruhte auf der Hoffnung vom Ende dieser Minderheitenposition und jeglicher Judenfeindschaft. Hierfür müsse das Judentum als handelnde Gemeinschaft auftreten. Zugleich musste er sich eingestehen, dass die nichtjüdische Bevölkerung mehrheitlich nicht bereit war, die weitreichenden Akkulturationsbemühungen der jüdischen Gemeinden zu honorieren und den Antisemitismus nachdrücklich zu bekämpfen.
In den 1890er Jahren fand Landauer den Weg in die sozialistisch-anarchistische Bewegung, die mit ihren universalistischen Gleichheits-, Freiheits- und Gerechtigkeitsversprechen viele Juden und Jüdinnen anzog. Anarchie definierte er als eine Grundstimmung, „die in jedem über Welt und Seele nachdenkenden Menschen zu finden ist.“ (S. 75). Allerdings widerfuhr Landauer als Jude auch in der politischen Linken gesellschaftlicher Antisemitismus, gegen den er anzukämpfen hatte. Anlässlich des antisemitischen Dreyfus-Skandals der 1890er Jahre in Frankreich trat er an die Seite des zu Unrecht der Spionage beschuldigten und verurteilten französischen Hauptmanns Alfred Dreyfus (1859-1935). Ebenso solidarisierte er sich öffentlich für den 1913 vorsätzlich des ‚Ritualmordes’ angeklagten jüdischen Ziegelei-Angestellten Menahem Mendel Beilis (1874-1934).
Besonders zwei Menschen übten einen nachhaltigen Einfluss auf Landauers anhaltende Auseinandersetzung mit dem Judentum aus: seine zweite Ehefrau, die angesehene Lyrikerin und Übersetzerin Hedwig Lachmann (1865-1918) und der eng befreundete libertäre Kulturphilosoph Martin Buber (1878-1965). Mit der religiös erzogenen Kantorentochter verband Landauer eine langjährige innige Lebens- und Arbeitsgemeinschaft. Beiden ist Landauers intellektuelle Rückbesinnung auf sein Judentum zu verdanken. Vor allem Bubers chassidische Nacherzählungen „Die Geschichten des Rabbi Nachman“ (1906) und „Die Legende des Baal-Schem“ (1908) übten auf Landauer einen nachhaltigen Eindruck aus: „Judentum“, so Sebastian Venske, „wie Landauer es bei Buber fand, ist ihm keine Religion, die er wie das institutionalisierte Christentum ablehnte, sondern – ähnlich wie der Sozialismus – ein Gefäß für neues Volk und damit für neue Gemeinschaft und die Überwindung des Kapitalismus.“ (S. 123) Mit Hilfe der Entdeckung und Neuinterpretation jüdischer Spiritualität durch Martin Buber erschlossen sich ihm jüdische Geschichte und Philosophie. Bubers eingehende Rezeption der jüdischen Mystik lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Chassidismus. Im Chassidismus erkannte Landauer eine Erneuerungsbewegung, die eine kollektiv mystisch inspirierte Hoffnung auf Erlösung bereits im Irdischen mit einem befreienden und einenden Gott beinhaltete. Daraus entwickelte er eine Synthese aus föderativ-kommunitärem Anarchismus und der Erfüllung einer besonderen menschheitlichen Mission des Judentums. Das Judentum könne sich nur dann aus seiner gesellschaftlichen Isolation lösen, wenn es sich, jenseits von jüdischer Orthodoxie und liberalem Assimilationsjudentum, mit den Ambitionen des freiheitlichen Sozialismus nach einer Emanzipation aller Menschen verbindet. Finden wir noch in seiner geschichtsphilosophischen Monographie „Die Revolution“ (1907) eine vorrangige Bezugnahme auf christliche Quellen des Mittelalters und eine nur geringe konzeptionelle Rezeption der jüdischen Tradition, bezog Landauer nach 1907 ganz bewusst auch das Judentum im Rahmen seiner Wiederbelebung verschütteter Freiheits- und Widerstandstraditionen mit ein.
In den folgenden Jahren artikulierte er öffentlich und selbstbewusst sein Judentum. So entstanden bedeutende Essays über die jüdische Tradition und die Verbindung von Judentum und Sozialismus („Judentum und Sozialismus“, „Sind das Ketzergedanken?“, „Kiew“, „Zur Poesie der Juden“, „Ostjuden und Deutsches Reich“). Als ein Kenner innerjüdischer Debatten der damaligen Zeit sympathisierte Landauer mit der vor allem von Martin Buber getragenen Renaissance des Judentums, mit dem osteuropäischen Judentum und mit der Kibbuzbewegung in Palästina, nicht jedoch mit einem nationalstaatlich ausgerichteten Zionismus. Zugleich sparte er nicht mit Kritik an den Assimilationsbemühungen der westeuropäischen Diasporagemeinden und beklagte deren Abgrenzung von den östlichen Schwestern und Brüdern. Landauer schwebte ein lebendiges Judentum in der Diaspora vor. Inmitten der Menschheit sollte die jüdische Nation ihren Platz einnehmen, womit, so die Hoffnung Landauers, der Antisemitismus sowie sämtliche nationalen und konfessionellen Schranken endgültig beseitigt würden. Vor allem in seinen beiden Hauptschriften, „Die Revolution“ (1907) und „Aufruf zum Sozialismus“ (1911) entwickelte Landauer, so Sebastian Venske, eine „politische Theorie, die es ihm ermöglichte an Martin Bubers Idee einer jüdischen Erneuerung anzuknüpfen und Jüdinnen: Juden in seine Konzeption eines neuen Volkes einzubeziehen, sodass für ihn Zionist:innen und die kulturzionistische Bewegung als Publikum seiner Agitation interessant wurden.“ (S. 89) Das neue Volk entsteht als Bund, seine Organisation zur Schaffung von Volk und Anarchismus nennt Landauer „Sozialistischer Bund“ und bezieht sich hierbei auf den „Bund“ in der Hebräischen Bibel. Der Bundesgedanke, der auf dem Sinaibund und der biblischen Exoduserzählung gründet, zählt zugleich zum Kern von Landauers kommunitären Anarchismus. Gemeint ist der Bund unter den Menschen, ein föderativer, auf Freiwilligkeit gegründeter Bund von Bünden. Kernbegriffe sind hierbei Umkehr, Neubeginn, Gegenseitigkeit, Wiedererfüllung mit Geist, Einheit in Vielfalt und Wiederanschluss an die Natur, also die Schaffung völlig neuer sozialer Arrangements der Menschen untereinander und im Verhältnis zur Natur: „Landauer sieht das Jüdische nicht abgeschottet oder abgeschlossen, sondern in einer Interaktion mit anderen Identitätsmerkmalen. Ein Teil dieser Merkmale ist für Landauer auch das Streben zum Sozialismus.“ (S. 139)
Darüber hinaus betrachtete Landauer das Exil, die Diaspora „als Ort seines Handelns und den Ort der Mission des Judentums in der Menschheit.“ (S. 142) Aufgrund seiner „vielfältigen Zugehörigkeitsgefühle und Identitätsfacetten“ (ebd.) benötige die jüdische Community keinen Nationalstaat, um sich als Nation zu konstituieren. Überdies warnte Landauer lautstark vor einem exkludierenden Nationalismus. Die Fokussierung auf das Exil ermögliche zugleich die „Erfüllung des jüdischen Amtes, da sie in den nichtjüdischen Völkern verstreut lebten“ und daher „überall mit positivem Beispiel vorangehen“ und „mehr Menschen für das Ziel, den Sozialismus, mobilisieren“ (S. 143) könnten, um so die gesamte Menschheit zu erlösen. Im Prozess eines neuen sozialen Umgangs der Menschen untereinander maß er dem Judentum eine bedeutende Vorreiterrolle bei der Regeneration der gesamten Menschheit zu. Entwirft Landauer, etwa in seinen Essay „Sind das Ketzergedanken?“ (1913), sein wohl eindringlichstes Bekenntnis zum Judentum, das Bild der Einheit in Vielfalt, also den Zusammenhang von Menschheit und libertärer Gesellschaft, so ist seine Utopie einer humanen, freiheitlichen Gemeinschaftsordnung freiwillig vereinbarter, dezentraler, föderalistischer und genossenschaftlicher Lebenszusammenhänge nachhaltig geprägt von seinem bewussten Judentum, vor allem von dessen Nächstenliebe- und Gerechtigkeitsmotiven und den das Gemeinschaftsleben verkörpernden Traditionen. Landauer erkannte als das Besondere im Judentum das ‚Gemeinschaftliche’, das kollektive Gedächtnis seiner Geschichte sowie das Streben nach ‚Verwirklichung’.
Während des Ersten Weltkriegs gehörten Gustav Landauer und Hedwig Lachmann unter den deutschsprachigen Jüdinnen und Juden – neben Gershom Scholem, Walter Benjamin und Albert Einstein – von Beginn an zu den wenigen AntimilitaristInnen und konsequenten KriegsgegnerInnen. Deutlich grenzten sie sich von denjenigen Juden ab, die die Teilnahme am Krieg als Ausdruck einer deutsch-jüdischen Schicksalsgemeinschaft betrachteten. Auch Martin Buber ,verirrte’ sich anfänglich in diesen Krieg, wofür er von Landauer als „Kriegsbuber“ gescholten wurde: „Blickt man auf die Zeit des Ersten Weltkriegs zurück“, so Sebastian Venske, dann erweise sich, „dass Landauer in der Tat ein verstärktes Interesse an jüdischen Realitäten und Erfahrungen zeigte“, was auch seinen „Kontakt mit zionistischen Organisationen und Bewegungen“ mit einschloss und sich zusätzlich noch in den Bereichen Literaturkritik, Theater und öffentliches Engagement aufzeigen lässt (S. 202).
Seit 1916 wirkte Landauer als Autor der von Buber gegründeten und herausgegebenen Zeitschrift „Der Jude“, engagierte sich damals ebenfalls für das „Jüdische Volksheim“ im Berliner Scheunenviertel und plante seine Teilnahme als Referent an einer Konferenz sozialistischer Zionisten im April 1919 in München über Fragen der zukünftigen jüdischen Gemeinschaft in Palästina, die allerdings durch die Zeitumstände verhindert wurde. Für die genossenschaftliche Kibbuzbewegung in Palästina bewies Landauer anhaltendes Interesse, entsprachen die jüdischen Kollektivsiedlungen doch weitgehend seinen Vorstellungen eines libertären Kultursozialismus. Während der deutschen Revolution 1918/19, zugleich die letzte Lebensphase Gustav Landauers, die mit seiner brutalen Ermordung endete, engagierte er sich von München aus für eine Verwirklichung seines ausformulierten kommunitären Anarchismus: „Sein Ziel war ein Sozialismus, der ein neues Volk begründe, zusammengesetzt aus allen Willigen zum Sozialismus. In diesem Prozess einer Nation ohne Staat erkannte er das Amt und die Mission des Judentums in der Menschheit.“ (S. 216f.)
Zusammengefasst lässt sich festhalten, dass Gustav Landauer an der von Martin Buber angestrebten jüdischen Renaissance elementar beteiligt war. Sein Judentum blieb eng verbunden mit seinen libertär-gewaltfreien Überzeugungen: „Insofern“, resümiert Venske, „ließe sich Landauers Leben auch als Dissmilationsprozess beschreiben, also eine Wiederaneignung von jüdisch verstandenen Traditionen und Ideen […] Im Judentum, wie Landauer es verstand, fand er viele Anlagen, die es Jüdinnen:Juden erleichtern sollten, sich seinem Projekt des Sozialismus zu verschreiben. Diese anschlussfähigen Traditionen und Ideen bezog Landauer vor allem aus der Lektüre von Martin Bubers Texten. Er verstand die jüdische Renaissance als Möglichkeit seinen Sozialismus zu verwirklichen.“ (S. 229). Gustav Landauer gehörte zu den jüdischen Intellektuellen seiner Zeit, war er sich doch der praktischen Konsequenzen seines Denkens, Schreibens und Sprechens, die auf Verwirklichung drängten, mehr als bewusst. Mit Sebastian Venskes Studie liegt ein weiterer Baustein der Forschung über Leben und Werk Gustav Landauers vor.
Sebastian Venske, Gustav Landauer als jüdischer Intellektueller? Eine Biografie.
Berlin: De Gruyter Oldenbourg, 2025, XI, 255 Seiten, EUR 129.95, ISBN 978-3-11-157712-8. Das Buch steht auch im Open Access zum Download zur Verfügung.
Dr. Siegbert Wolf (Frankfurt/M.) ist Historiker, Publizist und Herausgeber der „Ausgewählten Schriften“ Gustav Landauers im Verlag „Edition AV“ (Lich/Hessen).