In Israel eskalieren Konflikte zwischen Regierung, oberster Staatsanwältin und Inlandsgeheimdienst. Sogar Warnungen vor einem drohenden Bürgerkrieg werden laut.
Von Oliver Vrankovic
Zuerst erschienen bei: Jungle Blog – Von Tunis nach Teheran, 24.03.2025
Spätestens als der ehemalige Vorsitzende des Obersten Gerichts, Ahron Barak letzte Woche warnte, dass die israelische Gesellschaft am Rande eines Bürgerkriegs stehe, wurde klar, dass Israel den Schritt zurück zum 6.10. vollzogen hatte.
Während ein Teil der israelischen Gesellschaft überzeugt ist, dass der Deep State ständig Volkes Wille annulliert, ist ein anderer Teil der Gesellschaft überzeugt, dass ein kriminelles Syndikat um den Premier Demokratie und Rechtsstaat beseitigen wollen.
Die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern der Regierung begannen mit Bekanntwerden der Pläne von Justizminister Yariv Levin für eine Justizreform im Januar 2023. Die stetig zunehmende Eskalation dieser Auseinandersetzungen rief schließlich Vergleiche zum jüdischen Bruderkrieg unter römischer Besatzung und der Zerstörung des Tempels hervor und führte tatsächlich auch zum 7.10.
Wachsende Proteste
Trotzdem flammten die Auseinandersetzungen in den letzten Wochen wieder auf und eskalieren dieser Tage erneut. Bei stetig größer werdenden Protesten wird der Regierung vorgeworfen, die Geiselfreilassung zu torpedieren, die Aufarbeitung des 7.10. abzulehnen, die Justizreform wieder aufzunehmen und mit einem korrupten Haushalt und der Wehrdienstbefreiung von Ultraorthodoxe die Lastenverteilung noch ungleicher zu machen. Umfragen zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Israelis für weitreichende Konzessionen für die Geiselbefreiung, gegen die Wehrdienstbefreiung von Orthodoxen, gegen die Wiederaufnahme der Justizreform, für einen staatlichen Untersuchungsausschuss zum Versagen am 7.10. und gegen die mafiös anmutende Verwendung von Steuergeld für bestimmte Sektoren ist.
Am Samstag gingen erstmals seit dem 7.10. wieder mehr als 100.000 Regierungsgegner auf die Straße und der Auslöser waren die Entlassung des Chefs des Innlandgeheimdienst Ronen Bar und die Einleitung der Amtserhebung der Oberstaatsanwältin und Rechtsberaterin der Regierung Gali Baharav-Miara.
Katalysator der Proteste war ein Bericht von Ofer Hadad für Kanal 12, der Zahlungen aus Katar an vier Mitarbeiter des Büros des Premiers enthüllte, darunter an Eli Feldstein. Dieser war der Öffentlichkeit bereits aus der Affäre um geklaute und geleakte Geheimdokumente bekannt und der Durchsetzung eines Narratives, nachdem ein Abkommen zur Geiselfreilassung am Protest der Angehörigen der Geiseln scheiterte.
Katargate
Der Premier reagierte wenig überraschend mit der Zurückweisung der Enthüllungen als Fake News. Die Opposition verlangte derweil Aufklärung über die Zahlungen aus Katar während des Kriegs, und der Geheimdienst leitete Untersuchungen ein. Am 27.2. wies die Oberstaatsanwältin Baharav-Miara Polizei und Geheimdienst an, Ermittlungsverfahren einzuleiten. Über den Stand der Ermittlungen wurde die höchste Zensur Stufe verhängt.
Als der Geschäftsmann Gil Birger erklärte, Mittelsmann bei den Zahlungen von Katar an Feldstein gewesen zu sein, wurde klar, dass es sich nicht Fake News im Sinne einer von vorn bis hinten fabrizierten Geschichte handelt.
Die Zahlungen werfen viele Fragen auf, zuvorderst ob der Premier davon wusste oder nicht. Als es nach der Erklärung von Gil Birger zu weiteren Festnahmen und Verhören kam, verlautbarte Netanyahu auf dem offiziellen englischen Twitter-Account des Premierministers:

Den Vorwurf des Deep State erläuterte er später in einem TikTok Filmchen mit „der ständigen Verwaltung, die sich kaum ändert”. Er lies dabei aus, dass er selbst weit länger im Amt ist als die von ihm dem Deep State zugeschriebenen Akteure und er diese wegen ihm zu ihren Ämtern kamen. Roni Alsheikh aus der extremistischen Siedlung Kiriat Arba wurde unter Netanyahu Polizeichef und der Avichai Mandelblit, ebenfalls aus dem Lager der Nationalreligiösen zum Oberstaatsanwalt. Teil der von Netanyahu behaupteten linken Verschwörung wurde Alsheikh als er gegen Netanyahu ermittelte und Mandelblit als er gegen Netanyahu Anklage erhob. Gali Baharav-Miara, die Schlüsselfigur des vermeintlichen Deep State, wurde unter Netanyahu zur Nachfolgerin von Mandelblit ernannt.
Shin Bet Chef einstimmig gefeuert
Am Donnerstag beschloss das Kabinett einstimmig die Entlassung von Ronen Bar. Gegner von Netanyahu sagen, dass Bar entlassen wird, weil der Geheimdienst ermittelt, Unterstützer von Netanyahu sagen, dass der Geheimdienst ermittelt, um einen Interessenkonflikt zu fabrizieren, der die Entlassung Bars verhindert.
Das Amt des Chefs des Inlandsgeheimdienstes wird durch die gleichen Leute erfolgen, denen ein Ende der Ermittlungen zu den Katar Verbindungen im Büro des Premiers gerade das größte Anliegen ist.
Am 4.3. reichte der Geheimdienst seinen Bericht zum Versagen am 7.10. mit einem Nebenbrief ein, in dem der von Netanyahu gebilligte Geldfluss aus Katar an die Hamas als ein Grund für den 7.10. bezeichnet wurde. Am 16.3. teilte Netanyahu bar mit, das er ihn entlassen würde. Es wurde ein bunter Strauß von Gründen präsentiert, warum Bar ungeeignet sei, von Vertrauensverlust (seit dem 7.10., als Bar Netanyahu angeblich nicht informiert hat!) über fehlendes Dienst- Verständnis bis zu schlechter Führung der Verhandlungen über die Geiselfreilassung.
Dies wirft die Frage auf, warum Bar nicht schon längst entlassen wurde. Warum hat Netanyahu mit jemandem, den für nicht vertrauenswürdig und unfähig hielt, noch die komplexesten Operationen des Gaza Kriegs geplant?
Kurz vor Verfassungskrise
Parallel zu den Massenprotesten gestern, zwei Tage nach der Entlassung von Bar, hat Netanyahu vermeintliche Beweise für eine Absprache zwischen Baharav-Miara und Bar als „dramatische Enthüllung“ präsentiert. Laut Netanyahu hat die Staatsanwältin die Ermittlungsverfahren zu den Katar Verbindungen seines Büros deshalb eingeleitet, weil sie wussten, dass Bar nach Veröffentlichung des Einreichung des Berichts über das Versagen des Geheimdienst (für das er am 27.2. die letzte Fristverlängerung erhielt) entlassen würde. Nicht erwähnt wurde, das der Geheimdienst zu dem Zeitpunkt schon Untersuchungen durchführte.
Der Fall ist inzwischen beim Obersten Gericht, das über die Entlassung des Chefs des Inlandsgeheimdienst entscheiden wird und hat die Entlassung bis dahin auf Eis gelegt. Der Premier hat erklärt, dass die Entlassung von Ronen Bar, ungeachtet des Gerichtsurteils, gilt. Damit steht Israel kurz vor einer Verfassungskrise. Die Auseinandersetzung ist weiter, als sie vor dem 7.10. war, als der Premier noch nicht dazu bereit war, alle Brücken abzubrennen. Der Einfluss von Trump auf Netanyahu ist unverkennbar.
Im Zusammenhang mit den polizeilichen Ermittlungen zu den Katar Verbindungen ist auch die Haltung des altneuen Ministers für Innere Sicherheit bedenklich. Der Minister, der letztlich über Beförderungen von Ermittlern im Polizeidienst entscheidet, hält die Geschichte für vollumfänglich fabriziert und nur der Verhinderung der Entlassung von Bar geschuldet.
Amtsenthebung oberster Staatsanwältin eingeleitet
Gestern wurde die Amtsenthebung von Baharav-Miara eingeleitet. Zuvor hatte sich Netanyahu mit der Ernennung von Ben Gvir zum Minister für Innere Sicherheit über einen Einwand von Baharav-Miara, der die Politisierung der Polizei betraf, hinweggesetzt. Ben Gvir und seine Partei werden von Netanyahu in der Regierung gebraucht, um eine Mehrheit für die Verabschiedung des Haushalts Ende des Monats sicherzustellen. Wird der Haushalt nicht verabschiedet, muss es nach dem israelischen Gesetz Neuwahlen geben. Diese würden für Netanyahu zum Fiasko. Seine Partei würde gerade auf nur ‚1/6 der Mandate kommen und seine Regierung ist weit von einer Mehrheit entfernt.
Angst um Schicksal der verbliebenen Geiseln
Die Massenproteste kamen durch eine Verbindung der Proteste der Demokratiebewegung und der Proteste der Angehörigen der Geiseln zustande. Die Anliegen werden aufeinander bezogen, weil die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen, die von den Angehörigen der Geiseln abgelehnt wird, auf die Rückholung von Ben Gvir in die Regierung bezogen werden. Der von den Protesten ausgehenden Behauptung für Ben Gvir würden die Geiseln geopfert, steht die Behauptung gegenüber, die Proteste seien Schützenhilfe für die Hamas. Entsprechend nachvollziehbar sind die Sorgen von Ahron Barak vor einem Bürgerkrieg.
Es ist an dieser Stelle für die deutschen Leser wichtig zu wissen, dass sich die Proteste gegen die Wiederaufnahme der Kampfhandlungen grundsätzlich von den Antikriegsdemos in Deutschland unterscheiden. Bei 70% Zustimmung für die Pläne der Umsiedlung der Palästinenser aus Gaza ist diese Position auch der im Lager Regierungsgegner stark vertreten.
Wird es tatsächlich dazu kommen, dass die Regierung sich über den Obersten Gerichtshof hinwegsetzen wird? Justizminister Levin hat den Vorsitzenden des Obersten Gerichts, Isaac Amit, ohnehin nicht offiziell anerkannt. Netanyahu und der Parlamentssprecher Amir Ohana sind seiner Ernennung ferngeblieben. Seiner Ernennung ging eine groß angelegte Kampagne voraus, sie zu verhindern. Dazu gehörte die (erfolglose) Einmischung in die Wahl des Vorsitzenden der Anwaltskammer, der zum Gremium für die Ernennung von Richtern gehört. Am Ende sicherte sich Amit die Mehrheit. Da er als Vorsitzender des Obersten Gerichts auch den Vorsitz in einem staatlichen Untersuchungsausschuss hätte, macht die Auseinandersetzung noch brisanter.