
Nach monatelangen Verhandlungen verständigen sich Israel und die Terrororganisation Hamas plötzlich auf eine Feuerpause im Gazastreifen sowie die Freilassung israelischer Geiseln. Zuvor hatte der kommende US-Präsident einige sehr deutliche Drohungen ausgesprochen.
Von Ralf Balke
Morgen um 7.30 Mitteleuropäischer Zeit ist Schluss. Sollte bis dahin nichts Außergewöhnliches geschehen, werden im Gazastreifen dann wohl die Waffen schweigen und eine Feuerpause einsetzen. 42 Tage soll sie gelten. Und in dieser Zeitspanne werden – vorausgesetzt alle Beteiligten halten sich an die Abmachungen – erst einmal 33 der insgesamt noch 98 Geiseln, die sich seit dem 7. Oktober in der Gewalt der Hamas und des Islamischen Jihads befinden, freikommen. Im Gegenzug werden mehrere Hundert Palästinenser, die in israelischen Gefängnissen einsitzen, überstellt, darunter auch Dutzende Personen, an deren Händen sehr viel israelisches Blut klebt. In dieser ersten Phase sollen vor allem Frauen und ältere Personen, deren Gesundheit besonders gefährdet ist, freigelassen werden. Zudem sollen das Volumen der humanitären Hilfsleistungen gesteigert sowie Verhandlungen über ein dauerhaftes Ende der Kämpfe eingeleitet werden. In einer zweiten, ebenfalls 42 Tage andauernden Phase geht es um die Übergabe der restlichen noch lebenden Geiseln, sowie eine Stabilisierung der Waffenruhe. In Phase drei sollen die sterblichen Überreste ermordeter oder in der Geiselhaft verstorbener Israelis übergeben werden und der Wiederaufbau des Gazastreifens beginnen.
All das wurde in Katar von den Vertretern Israels, der Hamas sowie den Vermittlern nach zähem Ringen nun endlich unter Dach und Fach gebracht. Und wenn man sich das Ergebnis anschaut, dann kommt das alles einem recht bekannt vor. Denn bis auf wenige Details entspricht diese Einigung ziemlich genau dem, was bereits im Mai 2024 auf dem Tisch lag, und zwar dem von US-Präsident Joe Biden eingebrachten Drei-Phasen-Plan, weshalb die Frage im Raum steht, warum das, was vor Monaten abgelehnt wurde, heute plötzlich als Lösungsansatz akzeptiert wird? Die Antwort findet sich in Washington, wo dieser Tage ein alt-neuer Präsident ins Amt eingeführt wird, und zwar Donald Trump. Mit wenigen Worten hatte er erreicht, woran sich die Biden-Administration mit ihren Initiativen seit rund einem Dreivierteljahr abmühte. Sowohl Israel als auch die Terrororganisation Hamas verständigten sich auf einen Deal, der sehr wahrscheinlich nur deshalb zustande kam, weil der designierte Präsident ganz offen Drohungen aussprach. Oder anders formuliert: Ohne brutalen Druck wäre ein Abkommen zur Freilassung der Geiseln und über eine Waffenruhe im Gazastreifen wohl auch jetzt nicht vereinbart worden.
So hatte Donald Trump im Januar erklärt, dass er die laufenden Verhandlungen nicht „behindern“ wolle, wiederholte aber eine Drohung, ohne jedoch auf Einzelheiten einzugehen. „Wenn das Abkommen nicht vor meinem Amtsantritt abgeschlossen ist, was in zwei Wochen der Fall sein wird, wird im Nahen Osten die Hölle ausbrechen. Und das wird nicht gut für die Hamas sein, und es wird – offen gesagt – für niemanden gut sein.“ Genau das brachte plötzlich Bewegung in die Sache. „Die von Trump benutzte Formulierung >die Hölle ausbrechen< – ohne zu sagen, welche Hölle das sein könnte und wer durch ihre Tore gehen wird – ist der magische Schlüssel, der nötig war, um Netanyahu zu zwingen, einem Abkommen zuzustimmen, das Biden ihm bereits vor vielen Monaten auf den Schreibtisch gelegt hatte“, lautet dazu die Einschätzung von Zvi Bar’el. „Hätte Biden die Pforten der Hölle selbst zu einem früheren Zeitpunkt öffnen können?“, fragt der Dozent für die Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens an der Ben Gurion Universität in Beer Sheva, sowie „Haaretz-Kolumnist“. „In den Vereinigten Staaten wird es keinen Untersuchungsausschuss geben, der die Versäumnisse der Regierung im Umgang mit dem Gaza-Krieg unter die Lupe nehmen wird. Aber es scheint, dass die Administration von Biden als auch die von Trump jetzt etwas sehr Essenzielles begriffen haben: Israel macht nur unter äußersten Druck Zugeständnisse.“
Unabhängig davon, wie es im Gazastreifen nach einer Waffenruhe weitergehen soll, versuchen Joe Biden als auch Donald Trump die Einigung in Doha als Erfolg ihrer Politik dazustellen. Dabei sieht die Realität etwas anders aus. Mitarbeiter der noch amtierenden Administration sagen, dass bereits der Waffenstillstand zwischen Israel und der Hisbollah den Verhandlungen eine gewisse Dynamik gegeben habe, die zuvor nicht existiert hatte. Zugleich geben sie zu, dass die Drohungen von Donald Trump letztendlich den Ausschlag gegeben hätten, damit beide Seiten ihre alte Blockadehaltung über Bord warfen und alles plötzlich ganz schnell ging. Selbst der noch amtierende Präsident räumte ein, dass der Wahlsieg von Donald Trump das Ganze nach monatelangen, zähen Gesprächen beschleunigt habe. Auf die Frage von Journalisten, wem nun der Verdienst für das Zustandekommen des Abkommens zwischen Israel und der Hamas zukomme, reagierte Joe Biden aber sehr verschnupft. „Soll das ein Witz sein?“, fragte er zurück und verließ die Pressekonferenz. Der neue Mann im Weißen Haus jedenfalls zeigte sich weniger zurückhaltend und erklärte in den sozialen Medien, dass allein sein Wahlsieg die Einigung möglich gemacht hätte.
In den letzten Monaten des amerikanischen Präsidentschaftswahlkampfes hatte in der amerikanischen Administration kaum noch jemand an einen Verhandlungserfolg geglaubt. Trotz stundenlanger intensiver Telefongespräche zwischen dem Weißen Haus und Netanyahus Büro gab es nur wenig Bewegung in der Sache. Selbst der Tod von Hamas-Boss Yahya Sinwar führte nicht zu einer Einigung. Erst der Sieg von Donald Trump, der vielen in Netanyahus Kabinett als Wunschkandidat galt, motivierte einige in Bidens Team, es noch einmal zu versuchen, weshalb bei einem Treffen nach der Präsidentschaftswahl im Oval Office Joe Biden seinem designierten Nachfolger den Vorschlag unterbreitet hatte, dass beide zusammenarbeiten sollten, um eine Feuerpause und die Freilassung der Geiseln zu erreichen. Es wäre eine Win-Win-Situation: Aus der Perspektive von Donald Trump brachte diese kurzfristige Kooperation den Vorteil, direkt zum Amtsantritt mit einem Erfolg aufwarten zu können. Und der Noch-Präsidenten Joe Biden mag nun von sich behaupten, quasi im Endspurt das Ganze zustande gebracht zu haben.
Für Benjamin Netanyahu jedenfalls bringt die eigene Zustimmung zu einer Feuerpause erst einmal reichlich Ungemach. Seine Koalitionspartner drohen mit einem Ausstieg aus dem Bündnis, weil sie gegen die Freilassung von Palästinensern im Austausch für israelische Geiseln sind. Auch sehen sie das Kriegsziel, und zwar den „vollständigen Sieg“ über die Hamas noch lange nicht erreicht. Der Rechtsaußenpolitiker Itamar Ben Gvir hat bereits erklärt, dass seine Partei die Regierung verlassen werde, Finanzminister Bezalel Smotrich wird zwar gegen das Abkommen stimmen, aber in der Koalition bleiben – vorläufig jedenfalls. Und die vom Premier so gefürchtete wie bekämpfte Untersuchungskommission zur Frage, wer für die Versäumnisse rund um den 7. Oktober verantwortlich war, rückt damit ebenfalls in für ihn bedrohliche Nähe. Trotzdem gab Benjamin Netanyahu jetzt ebenso sein „Okay“ für das Abkommen wie die Hamas, die zuvor allen früheren Versionen des Abkommens nie zustimmen wollte und im letzten Moment immer wieder neue Forderungen stellte.
„Der jetzt vorliegende Deal ist trotz aller Behauptungen von Joe Biden nicht wirklich derselbe, der im Mai angeboten wurde“, erklärt Haviv Rettig Gur in der „Times of Israel“, den plötzlichen Sinneswandel in Jerusalem. „Die wichtigsten israelischen Forderungen, die die Hamas im Frühjahr noch abgelehnt hatte, wurden nun erfüllt, darunter die Zahl der freizulassenden Geiseln sowie die israelische Präsenz am Philadelphi-Korridor in der ersten Phase.“ Zudem waren es wohl auch die zahlreichen Gespräche mit dem designierten US-Präsidenten als auch mit Vertretern aus dessen Team, allen voran Donald Trumps neuen Nahost-Beauftragten Steve Witkoff, die dazu beitrugen. Und da ist noch die Äußerung des zukünftigen US-Verteidigungsministers Pete Hegseth, der bei seiner Anhörung im Senat erklärte: „Ich unterstütze Israel dabei, jedes einzelne Mitglied der Hamas zu vernichten und zu töten.“ Solche Töne hätte der Ministerpräsident aus der Biden-Administration eher nicht zu hören bekommen.
Das alles weiß natürlich auch die militärisch massiv geschwächte Hamas, die zudem die Hisbollah ebenso wie den Iran als Unterstützer verlieren musste. Und die Houthis als die letzten noch übrig gebliebenen Alliierten können schwerlich eine Wende in der Auseinandersetzung mit Israel bringen, weshalb man sich nun auf einen Deal einlässt, der aus Sicht der Terrororganisation schlechter ist als der aus dem Mai. Auch hier gilt der Trump-Effekt: Die Reste der Hamas-Führung befürchten, dass der neue US-Präsident Israel militärisch absolut freie Hand geben könnte. Das wäre dann ihr Untergang. Schon im April 2024 hatte Donald Trump Israel aufgefordert, den Konflikt möglichst schnell und effektiv zu Ende zu bringen. „Und so ist eine völlig neue Dynamik im Spiel“, schreibt Haviv Rettig Gur. „Israel kann alles unternehmen, was nötig ist, um zu gewinnen. Aber offenbar will Trump, dass Israel öffentlich und deutlich zeigt, dass man bereit ist, es mit einem Waffenstillstand zu versuchen. Sollte die Hamas versuchen, sich wiederzubewaffnen oder womöglich eine Rakete abfeuern, wird Israel ein gutes Argument haben, um erneut zu kämpfen. Dann dürfte man auch besser vorbereitet sein und die Hamas besser infiltriert haben als noch am 8. Oktober 2023.“
Donald Trump jedenfalls kann mit der Feuerpause und der Geiselfreilassung einen außenpolitischen Sieg feiern, und das, bevor er überhaupt seine zweite Amtszeit angetreten hat – das Einlenken von Benjamin Netanyahus unter Druck machte es möglich. Das Umschwenken des Ministerpräsidenten hat seinen Preis, und zwar das Risiko, dass seine Koalition nun zerbricht. Langfristig aber könnte es sich politisch für ihn auszahlen, wenn Washington ihm hilft, die Türen in Saudi-Arabien zu öffnen und das Milliarden-schwere US-Militärhilfeabkommen, das US-Präsident Barack Obama einst abgeschlossen hatte, verlängert wird.