Juden in Blankenese – Ein Hamburger Vorort erinnert sich

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Kinder und Jugendliche vor der Warburg Villa in Blankenese, Repro: nurinst-archiv (Sammlung Shlomo Arad)

Die einstmals autonome Gemeinde Blankenese wurde 1938 der Hansestadt Hamburg zugeschlagen. Schon im 19. Jahrhundert lebten Juden in dem idyllischen Ort am Ufer der Elbe. Zu den bekanntesten Bürgern des eher ländlich geprägten Blankenese gehörte sicher die Familie des Bankiers Moritz M. Warburg. Sie bewohnte seit 1896 mehrere Villen am Kösterberg. Das parkähnliche Gelände ging nach dem Tod von Moritz Warburg im Jahr 1910 in den Besitz der Söhne Max und Fritz sowie des Enkels Erich über. Da Blankenese schon vor der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten eine Hochburg des NSDAP war, gab es nach 1933 keine Zukunft mehr für die jüdische Bevölkerung.

„Die Juden haben unsere Aufforderung, Blankenese zu verlassen, immer noch nicht verstanden“, war auf einem Plakat zu lesen „Verschwindet! Werft sie raus! Wer immer Juden beherbergt oder bewirtet, ist ein Judenknecht.“ In Trainings-Kibbuzim bereiten sich daher schon frühzeitig junge Juden auf ihre Auswanderung nach Erez Israel vor. Diese „Hachscharot“ genannten Ausbildungsstätten boten Lehrgänge in verschiedenen Handwerksberufen, der Landwirtschaft sowie hebräische Sprachkurse an, sie vermittelten somit das praktische, aber auch geistige Rüstzeug für die zionistisch gesinnten Jugendlichen. Im Laufe des Jahres 1941 wurde die letzte „Hachschara“ zwangsaufgelöst. Nicht allen Jungen und Mädchen gelang die Auswanderung ins damals noch britisch besetzte Palästina. Wer sich nicht in die Emigration retten konnte, fiel dem Rassenwahn zum Opfer. Im Herbst 1941 begannen die Deportationen. Allein 36 Stolpersteine erinnern heute an die Ermordeten aus Blankenese.

Die Warburgs konnten Deutschland noch rechtzeitig verlassen und in die USA flüchten – ihr Eigentum wurde „arisiert“. Im Krieg dienten die Häuser der Familie auf dem Kösterberg als Kriegslazarett, nach der Niederschlagung des NS-Regimes wurden die Gebäude zum Schauplatz einer jüdischen Wiedergeburt – bis zu 300 jüdische Kinder und Jugendliche fanden dort ein vorübergehendes und sicheres Zuhause, bis sie endlich 1948 in den neu gegründeten Staat Israel übersiedeln konnten.

Ein weiterer jüdischer Neuanfang ereignete sich im ehemaligen Elbkurhaus; hier entstand im Frühjahr 1946 ein Fischerei-Kibbuz. Rund 80 Überlebende der Shoa lernten in dieser Ausbildungsstätte verschiedene Techniken des Fischfangs und der seemännischen Navigation. Ein Großteil des Fangs wurde an jüdische Einrichtungen in Hamburg, darunter auch an das Kinderheim, verteilt. Einige Mitglieder des Fischerei-Kibbuz schlossen sich, nachdem sie endlich in Israel angekommen waren, der Kollektivsiedlung En Gev am See Genezareth an und konnten dort ihre an der Elbe erlernten Kenntnisse im Fischfang sinnvoll einsetzen.

Der reichbebilderte Band „Menschen, die plötzlich nicht mehr da waren“ schlägt einen Bogen von der ersten jüdischen Besiedlung in Blankenese bis in die Gegenwart. Die Gesamtdarstellung beschreibt faktenreich, wie sich der Alltag ab 1933 für die jüdische Bevölkerung veränderte, wie sie bedroht und ausgeschlossen wurde, aber auch wie sie versuchte, sich selbst zu behaupten. Das Buch thematisiert des Weiteren die verschiedenen Formen der Erinnerungskultur in Blankenese und lässt auch die heute im Stadtteil lebenden jüdischen Bürger über ihre Erfahrungen mit dem aktuellen Antisemitismus zu Wort kommen. Der Band beleuchtet zudem die von der Zivilgesellschaft initiierte Erinnerungskultur im Stadtteil: mit Biografien, Namenslisten und einer Chronologie. Wegbereiter dabei war der „Verein zur Erforschung der Geschichte der Juden in Blankenese“, der sich mit Ausstellungen und Publikationen um dieses Kapitel der Ortsgeschichte verdient gemacht hat. Viele Autoren des Sammelbands sind Mitglieder dieses Vereins.

Das rund 800 Seiten umfassende lesenswerte Nachschlagewerk, das wissenschaftlichen Standard erfüllt, ist auch für historisch interessierte Laien zu empfehlen. Abgerundet wird der Band mit einem Glossar, einem umfangreichen Register sowie einem Verzeichnis der benutzten Quellen und Literatur. – (jgt)

Friedemann Hellwig/Frauke Steinhäuser/Alan Kramer/Petra Bopp (Hg.) „Menschen, die plötzlich nicht mehr da waren“. Jüdisches Leben in Hamburg-Blankenese. 782 Seiten, Hamburg 2024, 38,00 €, Bestellen?

Weitere Informationen über das jüdische Hamburg nach 1945 finde Sie bei „After the Shoa“:

Hamburg – Fischerei-Kibbuz Serubavel (Hachschara)
Hamburg-Blankenese – Jüdisches Kinderheim