Erlösung durch Erinnerung?

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Daniel Marwecki „Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson“ – ein nüchterner Blick auf Deutschlands ‚moralische‘ Außenpolitik

Von Karl-Josef Müller

Wann genau wäre sie zu datieren, die Stunde Null am 8. Mai 1945? Es gab sie nicht, es konnte sie nicht geben, war es doch unmöglich, die deutsche Bevölkerung von einem Moment auf den anderen auszutauschen. Genauer den Teil der Bevölkerung, der für die Menschheitsverbrechen verantwortlich war, die in deutschem Namen in den zwölf Jahre von 1933 bis 1945 begangen worden waren.

Über Hans Globke heißt es lapidar bei Wikipedia: „Er ist das prominenteste Beispiel für die Kontinuität der Verwaltungseliten zwischen dem ‚Dritten Reich‘ und der frühen ‚Bundesrepublik Deutschland‘.“ Die erste Große Koalition wurde geführt von Kurt Georg Kiesinger, einem Juristen, der 1933 der NSDAP beitrat, und Willy Brandt, der 1933 als Führungsfigur der SAPD zunächst in den Untergrund ging und anschließend nach Oslo emigrierte. Man mag die „Kontinuität der Verwaltungseliten“, die auch eine der intellektuellen wie der deutschen Eliten überhaupt war, aus moralischen Gründen bedauern; eine andere Frage ist, wie man es hätte bewerkstelligen können, die ehemaligen Sympathisanten des NS-Reigimes und damit einen Großteil der deutschen Bevölkerung dauerhaft von der politischen Teilhabe auszuschließen.

Im Zentrum von Daniel Marweckis Untersuchung stehen die deutsch-israelischen Beziehungen, beginnend mit der Staatsgründung Israels 1948 und der BRD 1949, über die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 bis in die aktuelle Gegenwart. Die englische Originalausgabe erschien bereits im Jahr 2020 unter dem Titel „Germany and Israel: Whitewashing and Statebuilding“. Der Autor möchte „Israel von dem anrüchigen Verdacht“ entlasten, „dem Nachfolgestaat des nationalsozialistischen Gewaltregimes die vergebende Hand gereicht zu haben. Es gab für Israel nur einen Grund, sich einem Staat und einer Gesellschaft hinzuwenden, die aufgrund der massenhaften Beteiligung an den Verbrechen nichts anderes sein konnte als zutiefst schuldig. Dieser Grund war nicht ideologischer, sondern materieller Natur.“

Sein Fazit: „Ohne die deutsche Hilfe wäre die noch kurze Geschichte des modernen Israels womöglich eine andere geworden.“ Gemeint ist damit nichts anderes, als dass die deutsche Hilfe, zunächst in Form des Luxemburger Abkommens vom 10. März 1952, entscheidend war für das Überleben Israels, eines Staates, der bei seiner Gründung in der Gefahr stand, „schon morgen wieder von der Landkarte“ zu verschwinden, „verschluckt von den zahlenmäßig weit überlegenen arabischen Nachbarn.“

Auf beiden Seiten, der deutschen wie der israelischen, waren die jeweiligen nationalen Interessen wichtiger als moralische Überlegungen; die deutsche Rede vom „Wunder der Versöhnung“ verdeckt nach Ansicht von Marwecki, worum es eigentlich ging, nämlich um ein do ut des: Deutschland liefert Israel Waffen und hilft Israel beim Aufbau eines modernen Industriestaates, der wiederum die Basis bildet für Israels militärische Verteidigungsfähigkeit gegenüber seinen übermächtig erscheinenden Nachbarn; im Gegenzug hilft Israel Deutschland dabei, sein Ansehen in der Weltgemeinschaft wiederherzustellen.

Wir können nicht beurteilen, wie neu diese Erkenntnis ist; lesenswert ist das Buch von Marwecki auf jeden Fall, weil es dem Autor in einer unaufgeregten, manchmal ans Ironische grenzenden Sprache gelingt, seinen Lesern eine so kurze wie prägnante Geschichte Israels und des Nahostkonflikts zu präsentieren. Untrennbar verbunden mit dem Überlebenskampf Israels ist dessen Unterstützung durch Deutschland, eine Unterstützung, die maßgeblich dazu beigetragen hat, dass der israelische Staat überhaupt noch existiert.

Nach Ansicht Marweckis werden diese Zusammenhänge verdeckt durch „die Israel-Rituale der deutschen Politik“. Im April 2018 galt es, den 70. Jahrestag der Gründung Israels auch im Deutschen Bundestag zu feiern. „‚Indem wir Israel schützen, schützen wir uns selbst vor den Dämonen der Vergangenheit unseres eigenen Volkes‘, sagte damals Martin Schulz für die SPD.“ Dem kann Marwecki sich nicht zweifelsfrei anschließen: „Sind die ‚Dämonen der Vergangenheit‘ aber wirklich gebannt?“ Diese Dämonen seien „längst in den Körper der Republik zurückgefahren (…), fleischgeworden zum Beispiel in der Gestalt Alexander Gaulands, der den Israelkonsens aber keineswegs aufzuheben gedachte.“ Es gehe Gauland und seinen politischen Mitstreitern darum, „die Nazijahre als Betriebsunfall deutscher Geschichte umzudeuten. Es blieb auch in Israel nicht unbemerkt, dass Gauland zwei Wochen nach seiner Rede den Nationalsozialismus als ‚Vogelschiss‘ im Gesamtverlauf der deutschen Geschichte bezeichnete.“

Es gelte zu unterscheiden zwischen denen, „für die die prinzipielle Unterstützung des jüdischen Staates eine moralische Aufgabe war. (…) Und dann gab es die anderen, für die proisraelische Lippenbekenntnisse und Waffenlieferungen vor allem eine kostengünstiges Mittel waren, um Aufarbeitung und Entnazifizierung zu entgehen – billige Persilscheinpolitik.“

Gaulands Vorgänger, so lässt sich die Argumentation Marweckis auf den Punkt bringen, waren der erste Botschafter Deutschlands in Israel Rolf Pauls sowie sein Stellvertreter Alexander Török. „Am 12. Mai 1965 nehmen die Bundesrepublik Deutschland und Israel offiziell diplomatische Beziehungen auf. Als erster Botschafter der Bundesrepublik Deutschland überreicht Dr. Rolf Pauls (l.) am 19. August 1965 dem israelischen Staatspräsidenten Salman Schasar sein Beglaubigungsschreiben.“ So zu lesen unter dem Foto der Übergabe auf den Seiten der Konrad-Adenauer-Stiftung zur Geschichte der CDU, Titel „Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Israel“. Kein Wort verliert Kai Wambach, Autor des hier zitierten Beitrages, zur Vergangenheit des Herrn Dr. Pauls, den Namen Alexander Török sucht man vergebens.

Daniel Marwecki hingegen lässt seine Leser nicht im Unklaren über die Vergangenheit der beiden Diplomaten: „Pauls war im Zweiten Weltkrieg Offizier der Wehrmacht gewesen. Er hatte an der Ostfront eine Arm verloren und sich das Eiserne Kreuz verdient. Sein Stellvertreter in der Tel Aviver Botschaft war Alexander Török. Der gebürtige Ungar hatte ursprünglich bei der ungarischen Botschaft in Berlin gearbeitet, und zwar, als Ungarn von der faschistischen, mit den Nazis alliierten Diktatur von Ferenc Szálasi regiert wurde. Zeit seines Lebens konnte Török den Verdacht nicht ausräumen, ein früher Anhänger der faschistischen ungarischen Pfeilkreuzler-Bewegung gewesen zu sein, der daran mitgewirkt haben soll, seine Universität ‚judenrein‘ gemacht zu haben (Conze et al. 2010: 936f).“ In Israel wurde die Entsendung gerade dieses Diplomaten in der Zeitung Ha’aretz entprechend kommentiert, wie Marwecki ausführt: „Der Journalist Shlomo Ahronson schrieb damals, dass die Ernennung von Männern wie Pauls und Török ein Symtom für eine Malaise des Auswärtigen Amtes sei, wo die Vergangenheit keine Rolle zu spielen schien. Solange jemand kein verurteilter Massenmörder oder SS-Mitglied gewesen war, so Ahronson, galt er für die deutsche Diplomatie als sauber. Dass man sich als Soldat oder als Diplomat in den Dienst antisemitischer, faschistischer Regime gestellt hatte, hinderte einen nicht an einer Nachkriegskarriere, sogar dann nicht, wenn diese nach Israel führte.“

Allerdings ist Marwecki weit davon entfernt, mit dem moralischen Zeigefinger auf die politischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland zu zeigen. Der Tenor seiner Darstellung erinnert eher an die bekannten Zeilen aus Bertolt Brechts Dreigroschenoper: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“

Ein Widerspruch durchzieht die Ausführungen Marweckis, ein Widerspruch allerdings, der sich nicht auflösen lässt, blickt man möglichst kühl auf das deutsch-israelische Verhältnis. Beispielhaft hierfür sind Marweckis Ausführungen zum Diktum, „dass die Sicherheit Israels für Deutschland nicht verhandelbar und Teil der Staatsräson ist“. Diese These stammt ursprünglich vom kürzlich verstorbenen SPD-Politiker Rudolf Dreßler. Dreßler war fünf Jahre lang, vom 1. September 2000 bis 31. August 2005, Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Israel. Marwecki zitiert einen Essay Dreßlers vom 4. April 2005 mit dem Titel „Gesicherte Existenz Israels – Teil der deutschen Staatsräson„: „Ich habe mir in meinem Leben nie Gedanken machen müssen über die Existenzberechtigung meines Landes, obwohl Deutschland im vorigen Jahrhundert die Welt zweimal an den Abgrund brachte. Meine Sozialisation unterscheidet sich grundlegend von derjenigen eines Israelis. Keine tägliche Bedrohung! Keine Aberkennung der Existenzberechtigung! Kein Kampf um den eigenen Staat! Deshalb gebrauche ich das Wort ‚Sicherheit‘ als Schlüsselbegriff für einen Wiedereinstieg in einen konstruktiven Nahostprozess. Die Staatengemeinschaft muss für Israel Sicherheit erarbeiten. (…) Deutsche Regierungen haben nie Zweifel daran gelassen, dass sie Israel dabei helfen wollen. Unsere Hilfe steht unter der Maxime, die deutsche Regierungsvertreter, die alle Fraktionen des Bundestages immer wieder deutlich gemacht haben: Die gesicherte Existenz Israels liegt im nationalen Interesse Deutschlands, ist somit Teil unserer Staatsräson.“

Der Respekt, den Marwecki der Haltung Dreßlers entgegenbringt, ist eher dezent, aber unübersehbar: „Danach kommt Dreßler auf den Nationalsozialismus zu sprechen und erklärt, dass er wegen des Holocausts in die Politik gegangen sei. Sein Plädoyer für eine fortwährende kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit stellt er in den Kontext der deutsch-israelischen Beziehungen, die ’nie besser‘ gewesen seien.“ Unmittelbar nach diesem Zitat verbindet Marwecki den Konflikt „zwischen den zwei nationalen Kollektiven, Israel und Palästina“, der „moralisch ambivalent und historisch mehrdeutig“ sei, mit dem Verhältnis zwischen Israel und Deutschland. Das folgende längere Zitat unterstreicht Marweckis abwägende und doch auch bestimmte Haltung zum Verhältnis zwischen Israel und Deutschland. Dieses sei weder ambivalent noch historisch mehrdeutig, wie der Palästina-Konflikt: „Der Konflikt zwischen den zwei nationalenKollektiven, Israel und Palästina, ist moralisch ambivalent und historisch mehrdeutig. Für den Holocaust gilt das nicht: die deutsche Vernichtungspolitik war das Böse, und dieses Böse war absolut. Staaträson bedeutet nicht zuletzt, den israelisch-palästinensischen Konflikt durch die Brille des Holocaust zu betrachten. Das erleichtert für Deutschland zwar die Solidarisierung mit Israel, kann aber auch dazu verleiten, die politischen Gründe für palästinensischen Widerstand – ob in terroristischer, aufständischer oder gewaltfreier Form – nicht nur nicht beurteilen, sondern sie, vor jeglicher Beurteilung, überhaupt erst einmal nachvollziehen zu können.“

Diese Sätze wurden vor dem 7. Oktober 2023 geschrieben, vom Autor selbst übersetzt aus dem englischen Originaltext von 2020. „Für die deutsche Neufassung wurde der Text gekürzt und mit einem neuen Schlusskapitel versehen.“ So zu lesen auf Seite vier der deutschsprachigen Ausgabe.

Wenn Marwecki von politischen Gründen für palästinensischen Widerstand spricht und die terroristische Form dieses Widerstandes neben den aufständischen und gewaltfreien stellt, könnte dies den Eindruck erwecken, er legitimiere damit den palästinensischen Terrorismus. In seinem Nachwort allerdings lässt er keinen Zweifel daran, dass der Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 sich durch nichts rechtfertigen lässt: „Was jedoch überraschte – Israelis und auswärtige Beobachter -, war die Barbarei der Attacke. Das Foltern und Abschlachten wehrloser Zivilisten, vom Kleinkind bis zur Großmutter, all das noch zelebrierend gefilmt. Mit dieser Tat hat die Hamas sich von jedem zivilisatorischen Maßstab entfernt und einen neuen Abgrund im Konflikt geöffnet.“

Wie jeder Autor, ist auch Marwecki nicht verantwortlich zu machen für die Deutung seines Textes. So auch nicht für die Rezension mit dem Titel Deal mit dem Teufel. Der Historiker Daniel Marwecki stellt in seinem Buch ‚Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson‘ eben jene vom Kopf auf die Füße, verfasst von Konrad Kunze und Martin Höfig. Ein Zitat macht deutlich, worauf die Rezensenten meinen hinweisen zu müssen: „Deutschland in Gestalt der bis an die Oder expandierten Bundesrepublik habe im Jahr 2023, wie Marwecki schreibt, ‚im Nahen Osten zu sich selbst gefunden.'“ Was die Rezensenten meinen, sind die Reden deutscher Politiker anlässlich des 75. Jahrestages der Gründung des Staates Israel, insbesondere die Ausführungen von Friedrich Merz. Worüber sie in ihrer Besprechung kein einziges Wort verlieren, sind die Ereignisse vom 7. Oktober 2023.

Daniel Marwecki: Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson. Wallstein Verlag, Göttingen 2024, 212 Seiten, 22 €, Bestellen?

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