„Social Media als der Ort von morgen“

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Matthias Jakob Becker, Foto: Kay Herschelmann

Matthias Jakob Becker über Ergebnisse des Forschungsprojektes „Decoding Antisemitism“

Matthias, in den vergangenen drei Jahren haben Sie das von der Alfred Landecker Foundation geförderte Forschungsprojekt „Decoding Antisemitism“ geleitet. Ihr internationales Team wollte ein hochkomplexes, durch Künstliche Intelligenz gestütztes Programm zur Erkennung von Online-Antisemitismus in politisch eher moderaten Milieus in Deutschland, Frankreich und Großbritannien entwickeln. Wie ist die Bilanz?

In unseren Analysen von Online-Diskursen, bei denen wir eine Reihe qualitativer und quantitativer Methoden angewendet haben, konnten wir erkennen, wie vielgestaltig, komplex und codiert Judenfeindschaft in den drei untersuchten Ländern auftritt. Markante Ereignisse, die antisemitische Haltungen von Nutzer*innen ausgelöst haben, wirkten in den drei Ländern ziemlich unterschiedlich. So führte beispielsweise die Anfangsphase des Ukraine-Kriegs in Deutschland zu wenig Judenhass in den Kommentarbereichen des Mainstreams, während die Stereotype und Verschwörungsmythen auf britischer Seite deutlich zunahmen. Anders verhielt es sich, wenn in deutschen Kommentarbereichen über Antisemitismus im eigenen Land gesprochen wird, etwa bei der Documenta 15. Jedes Land hat in Bezug auf seine eigene Geschichte und Sagbarkeitsfelder eigene Bedingungen und Ausprägungsvarianten von Antisemitismus. Ungebrochen hoch und sprachlich aggressiv war die internationale Zustimmung zum 7. Oktober.

Wir gestaltete sich die Arbeit im interdisziplinären Team, und welche Berufssparten sind vertreten?

Wir haben Expertinnen und Experten aus den Bereichen Linguistik, Bild- und Diskursforschung, Geschichte, Antisemitismusforschung, Politikwissenschaft und Data Science an Bord – also ein wirklich interdisziplinäres Projekt. Die qualitativen Analysen, bei denen eine Äußerung auch in ihrer Kommunikationsform untersucht wird – zum Beispiel, welche Stereotype in einer Äußerung vorkommen und mittels welcher Muster – wie Wortspiel, Metapher, Ironie, rhetorische Frage – sie kommuniziert werden, stehen im Mittelpunkt der Arbeit. Diese Analysen werden durch quantitative Erhebungen und Experimente mit Klassifikationsmodellen ergänzt.

Es geht nicht nur um latenten oder impliziten Antisemitismus, sondern um Antisemitismus insgesamt. Ein Stereotyp kann, selbst wenn es offen ausgesprochen wird, sehr unterschiedlich kommuniziert werden. Wichtige Aspekte sind die Generalisierung und Essenzialisierung der behaupteten Eigenschaften von Juden. In diesem Zusammenhang haben wir ein knapp 600 Seiten umfassendes, frei zugängliches Lexikon erstellt. (–> Im Internet frei abrufbar.)

Auf welche speziellen Online-Medien bzw. auch sozialen Netzwerke hat sich Ihr Team im Besonderen konzentriert?

Wir haben die sogenannten Mainstreammedien der drei Länder berücksichtigt, also Medien, die sich im Spektrum von konservativ bis linksliberal bewegen. Das waren etwa 12 bis 15 Medien, deren Social-Media-Kanäle – auf Facebook, Instagram, YouTube, Twitter/X, teilweise auch TikTok – wir genauer betrachtet haben, und zwar im Hinblick auf Medienereignisse wie den Ukraine-Konflikt, Eskalationsphasen im Nahostkonflikt, Covid-19, aber auch national relevante Ereignisse. Das waren sehr große Datensätze, die wir dann in den drei Länderteams analysiert haben.

Latenter Antisemitismus vermeidet offene Antisemitismen, arbeitet eher mit Analogien und Anspielungen. Wie schaffen Sie es, derartige Sprachgebrauchsmuster und Codes als gesichert antisemitisch zu klassifizieren?

Die Pragmatik als Unterdisziplin der Linguistik beschäftigt sich u. a. mit Bedeutung von Sprache in unterschiedlichen Kontexten. Historisches Wissen wie das zu den Gaskammern in nationalsozialistischen Vernichtungslagern wie Auschwitz kann Äußerungen wie „Soros sollte eine ‚Dusche‘ bekommen“ schnell als impliziten Todeswunsch entlarven.
Die Herausforderung ist, Anspielungen zu erkennen, in denen Begriffe wie Juden, Holocaust, Gier, Macht usw. überhaupt nicht vorkommen, aber durch die Kombination der an sich nicht brisanten Wörter im Kontext der genannten Debatte die Vorstellung einer jüdischen Lobby aktiviert wird, die im Rahmen der Erinnerungskultur den deutschen Staat schröpft. Wir werden mit Sätzen konfrontiert wie: „Wer hält schon wieder die Hand auf?“ Diese impliziten Muster sind keine Seltenheit.

Ab wann kann damit gerechnet werden, dass KI-Software latenten Antisemitismus im Cyberspace nicht nur verlässlich erkennt, sondern auch effizient bekämpft?

Davon sind wir noch weit entfernt. Die Modelle werden zwar immer besser, aber solange wir ihnen kein ganzheitliches, kontextsensitives Verständnis über einen längeren Zeitraum hinweg beibringen, werden sie immer nur die aggressivsten Fälle erfassen und damit bleibt der größte Teil von Hassrede online unberücksichtigt.

Hat sich “Decoding Antisemitism“ auch mit den antisemitischen Trends und Inhalten auf Tiktok beschäftigt? Und gibt es dort ein besonderes Antisemitismus-Problem?

TikTok spielte bei uns eine sekundäre Rolle, da dieser Trend nach unserem Projektbeginn anlief und wir in unseren Daten Vergleichbarkeit haben wollten, beispielsweise, wie sich die Formen von Antisemitismus mit Blick auf Israel wandelten von 2020 bis 2024. Das erschien uns sehr wichtig für die Beschreibung der aktuellen Trends.

Aus unseren TikTok-Fallstudien konnten wir aber eine deutlich direktere Form sprachlicher Gewalt, auch in Form von Slogans und aggressiven Sprechakten, erkennen. Weltbilder werden simplifiziert und in einfache Formeln gegossen. Das ist umso erschreckender, je mehr man erkennt, wie zentral diese Plattform für die Meinungsbildung junger Menschen ist.

Rund zwei Drittel der Projektlaufzeit waren vorüber, da ereignete sich das Hamas-Massaker in israelischen Grenzstädten und -dörfern nahe Gaza am 7. Oktober 2023. Wie hat sich das auf das „Decoding Antisemitism“-Projekt ausgewirkt?

Der 7. Oktober markierte einen Wendepunkt, nicht nur für unser Projekt. Während meiner inzwischen 12 Jahre andauernden Studien zu Online-Antisemitismus habe ich beobachtet, dass Eskalationsphasen im Nahen Osten immer auch mit einem Anstieg von Stereotypen, NS-Vergleichen und Verschwörungsmythen einhergingen. Dieser Trend verschärfte sich im letzten Oktober, als antisemitische Gewalt in Form von Stereotypen und anderen Formen von Projektion daherkam, nun aber sogar die Verbrechen der Hamas gerechtfertigt, begrüßt und glorifiziert wurden. An diesem Tag erlebten wir eine Rückkehr zu offenem Judenhass, wo keine Bilder über Juden als Rechtfertigung für den eigenen Hass oder die Angst herangezogen werden mussten. Nutzer*innen sahen sich veranlasst, die zur Schau gestellte Gewalt mit offenen Selbstpositionierungen zu loben. Die Leugnung der Geschehnisse am 7. Oktober und Verschwörungsmythen traten später hinzu, und im Laufe der Zeit kehrte auch das gesamte Repertoire des Antisemitismus zurück. Aggressive Sprechakte – wie Todeswünsche, Gewaltverherrlichungen, auch in Verbindung mit sexualisierter Gewalt gegenüber weiblichen Opfern – blieben jedoch Teil des Online-Diskurses.

Wir haben diese Beobachtungen in unseren Berichten “Celebrating Terror” und “Discourse Report 6” zusammengetragen und die Ergebnisse in einer vergleichenden 9-Länder-Studie abgebildet. Auf der Decoding Antisemitism-Webseite gibt es zudem ein Visualisierungstool, mit dem die Unterschiede in den Mustern verglichen werden können.

Wie geht es weiter mit der begonnenen Forschung, wo und wann wird „Decoding Antisemitism“ fortgesetzt werden?

Momentan führen wir zahlreiche Gespräche darüber, wie wir das Projekt auf EU-Ebene in Zusammenarbeit mit der EU-Kommission und auch in den USA fortsetzen können. Bei einem Projekt dieser Größenordnung ist das nicht immer leicht, aber die Notwendigkeit verlässlicher Langzeitstudien mit Detailanalysen und KI-gestützten Methoden zur Untersuchung von Online-Radikalisierung wird von immer mehr Trägern erkannt und verstanden.

Haben Gesellschaft und Politik in Deutschland ausreichend erkannt, was an Online-Antisemitismus noch auf uns zukommen könnte?

Das bezweifle ich. Obwohl man auf globaler Ebene durchaus sagen kann, dass Deutschland viel unternimmt, sind die Rahmenbedingungen für großangelegte Forschungsprojekte denkbar schlecht. Sei es auf kommunaler, regionaler, Bundes- oder sogar EU-Ebene – die Fördermöglichkeiten erwecken den Eindruck, dass wir es hier mit einem kleinen Randproblem zu tun haben, ähnlich wie man vor 10 Jahren auf Hass im Netz geschaut hat. Der aktuelle Anstieg von Antisemitismus, der seit 1945 nun einen Höhepunkt erreicht hat, ist jedoch ohne die sozialen Medien nicht zu erklären. Wir müssen das interaktive Web als den Ort verstehen, an dem die Gesellschaft von morgen entsteht. Die kommunikativen Routinen, die sich dort etablieren, werden unser Miteinander prägen. Wer Demokratie und Menschenrechte schätzt, muss diese Entwicklungen ernst nehmen.

Das Gespräch mit Matthias Jakob Becker führte Olaf Glöckner.

Im Oktober 2024 erschien in Herausgeberschaft von Matthias J. Becker, Hagen Troschke, Matthew Bolton und Alexis Chapelan bei Palgave Macmillan das Standardwerk „Decoding . Antisemitism. A Guide to Identifying Antisemitism Online“. Online zugänglich unter: https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-031-49238-9

Zur Website von Decoding Antisemitism: https://decoding-antisemitism.eu/