Israels Bodenoffensive im Südlibanon geht nun in den zweiten Monat. Trotz der Tatsache, dass die Führung der Hisbollah weitestgehend ausgeschaltet ist, sind die Kämpfe eine Herausforderung. Zudem bleibt die Frage, wie ein Ende des Schlagabtauschs aussehen könnte.
Von Ralf Balke
Er ist rund 40 Meter tief, an vielen Stellen zwei Meter hoch und etwa zwei Kilometer lang und einer der vielen guten Gründe für das militärische Vorgehen Israels im Libanon: der riesige Tunnel, den die israelische Armee dieser Tage dort entdeckte. Seine Zugänge sind unter ganz normalen Wohnhäusern versteckt, die allein einem Zweck dienten, und zwar der Tarnung dieser unterirdischen Anlagen. Rund 15 Jahre hat die Hisbollah wohl daran gearbeitet, so die Schätzungen. „Dies ist kein >Tunnel<, sondern eine unterirdische Kampfzone von großer Bedeutung, die der Feind über Jahre hinweg angelegt hat, um eine Invasion Israels vorzubereiten – sehr wahrscheinlich auf die nördlichen Städte ausgerichtet“, so Brigadegeneral Guy Levy, Kommandeur der 98. Division, die das Ganze entdeckt hatte. Dieses System an unterirdischen Gängen und Hallen, benutzt von den berüchtigten Radwan-Einheiten, diente nicht nur der Lagerung von Tonnen von Waffen und Munition oder als Kommandozentrale und Versteck der Kämpfer der Schiitenmiliz. Von dort aus hätten sie zu Hunderten in das israelische Staatsgebiets eindringen können, um ähnlich wie die Hamas am 7. Oktober 2023 ein Massaker zu verursachen. Und es war nur eine von mehreren Tunnelanlagen, die errichtet wurden, um ihren „Galiläa-Eroberungsplan“ durchzuführen, so die Bezeichnung dieses sehr konkreten Vorhabens, dessen Pläne in den vergangenen Wochen in die Hände der israelischen Armee fielen.
Doch die Verhinderung eines solchen Angriffs ist nur eines der Ziele der begrenzten israelischen Bodenoffensive, die wenige Tage nach spektakulären Ausschaltung mehrerer Tausend Hisbollah-Kämpfer durch explodierende Pager und Walkie-Talkies der Schiitenmiliz sowie der erfolgreichen Tötung von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und fast der gesamten Führungsriege der Terrororganisation ihren Anfang nahm. Seit Ende September steht nunmehr auch die israelische Armee mit Truppen im Südlibanon. Ihr Auftrag: Die weitere Schwächung der Hisbollah und ihre Zurückdrängung von der israelischen Nordgrenze, wo sie einen Tag nach dem 7. Oktober 2023 angefangen hatte, Israel unter Beschuss zu nehmen. Auf diese Weise wollte Hassan Nasrallah Partei für die Hamas ergreifen, wobei man es über Monate hinweg bei einer Art Nadelstichpolitik beließ. Fast ein Jahr lang blieb die große Konfrontation aus, und das, obwohl Teherans Marionetten in über elf Monaten rund 9.000 Raketen, Panzerabwehrgeschosse und Drohnen abgefeuert hatten. Mehrere Dutzend israelische Zivilisten oder Soldaten kamen dabei zu Tode. Ebenso hatten rund 70.000 Israelis ihre Häuser im Norden verlassen müssen, Orte wie Kiryat Shmona oder Metulla gleichen seither Geisterstädten – ihre Rückkehr soll durch das Vorrücken der israelischen Armee möglich gemacht werden.
Lange hatte Israel es vermieden, in genau diese Art von Zwei-Fronten-Krieg einzutreten, Vorrang sollte die Ausschaltung der Hamas im Gazastreifen haben. Zugleich setzte man über all die Monate auf Diplomatie. Jerusalem forderte die Umsetzung der UN-Resolution 1701, die bereits am 11. August 2006 vom UN-Sicherheitsrat verabschiedet wurde, also noch während des Zweiten Libanonkriegs. Diese besagt, dass die Hisbollah sich aus der Region südlich des Litani-Flusses zurückziehen solle und allein die libanesische Armee dort das Sagen habe. Die United Nations Interim Force in Lebanon, kurz UNIFIL, seit 1978 im Rahmen einer Beobachtermission der Vereinten Nationen vor Ort präsent, sollte zudem von 2.000 auf 15.000 Mann – am Ende wurden es rund 10.000 Mann – vergrößert werden und die Umsetzung der UN-Resolution im Südlibanon überwachen – so jedenfalls in der Theorie. Die Praxis sah jedoch anders aus. Weder ist die Hisbollah aus dem Südllibanon verschwunden, noch konnte die Zentralregierung in Beirut ihre Truppen dort stationieren und die Kontrolle übernehmen. Daran änderten auch die vielen Reisen des US-Sondergesandten Amos Hochstein in den Libanon nichts, der – angefangen mit Vertretern der Arabischen Liga bis hin zum geschäftsführenden Ministerpräsidenten Najib Miqati – in den vergangenen Monaten mit allen möglichen Akteuren unzählige Gespräche führte.
„Für mich ist der UNFIL-Einsatz ein Versagen ersten Ranges“, brachte es daher Shimon Stein, zwischen 2001 und 2007 Israels Botschafter in Berlin, dieser Tage im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters auf den Punkt. „Irgendjemand muss Verantwortung tragen,“ so der ehemalige Diplomat, der ebenfalls zu einem Kritiker der aktuellen israelischen Regierung zählt. Er weist daraufhin, dass quasi vor den Augen der Blauhelmsoldaten die Hisbollah über viele Jahre hinweg ihre Stellungen im Südlibanon ausgebaut hatte und nicht nur das. Man hat diese sogar in unmittelbarer Nähe zu den UNIFIL-Basen errichtet, wohlwissend, dass im Falle einer israelischen Reaktion auf Angriffe der Schiitenmiliz diese ebenfalls ins Visier geraten könnten. Genau das geschah dann auch am 11. Oktober. „Heute Morgen wurden zwei Friedenssoldaten verletzt, als ein Merkava-Panzer der IDF auf einen Beobachtungsturm des UNIFIL-Hauptquartiers in Naqura feuerte, ihn direkt traf und sie zu Boden stürzten“, hieß es seitens der UNIFIL. Ferner beschuldigte man die israelische Armee in den zwei Tagen zuvor die UN-Stellung 1-31 in Labbouneh beschossen zu haben. Es hieß, Israel habe am Mittwoch „absichtlich“ auf Kameras an der Absperrung geschossen und am Donnerstag „einen Bunker getroffen, in dem die Friedenstruppen Schutz suchten“. Auf einer anschließenden Sitzung des UN-Sicherheitsrats betonte der Leiter der UN-Friedenstruppe, Jean-Pierre Lacroix, die UN-Soldaten seien „ernsthaft gefährdet“. Er wies darauf hin, dass 300 Blauhelme vorübergehend in größere Stützpunkte verlegt worden seien, „wobei die Verlegung weiterer 200 geplant ist“.
Indonesien stellt vor Italien das größte Kontingent an UNIFIL-Soldaten, 38 weitere Nationen sind beteiligt. Entsprechend hagelte es nach diesen Vorfällen Kritik an Israel, auch Washington zeigte sich „stark besorgt“. Israels Außenminister Israel Katz dagegen verwies in einem Schreiben an den UN-Sicherheitsrat auf die Tatsache, dass die Hisbollah bewusst in der Nähe der UNIFIL operiere – beispielsweise sei ein Terrortunnel nur 150 Meter von einer UNIFIL-Basis gebaut worden. Ministerpräsident Benjamin Netanyahu sprach davon, dass die Hisbollah die Blauhelme als „menschliche Schutzschilde“ missbrauche und Israels UN-Botschafter Dany Danon empfahl eine Verlegung der Blauhelme Richtung Norden. Doch ungeachtet dieser Umstände – der außenpolitische Schaden war groß, dutzende Nationen verurteilten Israels Vorgehen. Selbst Papst Franziskus forderte mehr „Respekt“ für die Blauhelme. Der monatelange Dauerbeschuss Israels durch die Hisbollah hatte keine Reaktionen oder Verurteilungen in dieser Größenordnung hervorgerufen.
Und wie im Gazastreifen steht nun ebenfalls die Frage auf der Agenda, wie es im Südlibanon weitergehen kann, ob ein baldiges Ende der Bodenoffensive ansteht oder nicht. „Neben den kurzfristigen Risiken ist auch Israels langfristiger Plan für den Libanon unklar“, lautet dazu die Einschätzung von Daniel Byman. „Den Libanon zu besetzen ist keine Option, und die Hisbollah-Kämpfer könnten sich immer tiefer ins Land zurückziehen, wenn die Notwendigkeit besteht, ihre Verluste zu begrenzen“, so der Sicherheitsexperte am Center for Strategic and International Studies in Washington. „Die Hisbollah könnte sogar versuchen, den Krieg in die Länge zu ziehen, um Israel zu ermüden, das an mehreren Fronten kämpft.“ Israel könnte vielleicht eine Art Pufferzone entlang seiner Nordgrenze anstreben – aber wer diese wirklich überwachen könnte, sei unklar. „Dies war ein Ziel im Jahr 2006, und die Hisbollah konnte es umgehen. Die Schiitenmiliz ist nach wie vor die stärkste Organisation im Libanon.“ Weder die Vereinten Nationen noch die libanesische Armee konnten sie in ihre Schranken verweisen. „Die größere Zerstörungskraft der israelischen Offensive könnte die Hisbollah aber diesmal vorsichtiger werden lassen, vor allem, wenn Israel bei weiteren Verletzungen der Pufferzone seine Angriffe intensiviert. Es ist jedoch schwierig, das über einen längeren Zeitraum durchzuhalten.“
Hochrangige Vertreter der israelischen Armee sagen, dass sie sich auf nur noch wenige Wochen Bodenaktivität im Südlibanon vorbereiten, dann sei ihr Auftrag erfüllt – das weiß Amos Harel zu berichten. So habe man die militärischen Infrastrukturen der Hisbollah dort zum großen Teil zerstört, berichtet der Haaretz-Journalist. Der Oberbefehlshaber des Nordkommandos, Generalmajor Ori Gordin, hätte Anfang Oktober gesagt, dass nach den Hohen Feiertagen die evakuierten Bewohner des Nordens wieder in ihre Häuser zurückkehren könnten. Doch die Realität sieht anders aus. „Die täglichen Salven von durchschnittliche fast 200 Raketen am Tag im Norden, Raketenangriffe im Zentrum sowie die nicht unwesentliche Zahl von Drohnen sind zwar weniger als das, mit dem die Armee vor dem Krieg gerechnet hat, beeinträchtigen das Leben im Norden aber sehr und bringen auch eine Luftschutzsirenen-Routine mit sich.“ Für ihn ist es offensichtlich, dass die Hisbollah und damit auch der Iran einen Zermürbungskrieg führen wollen. „Ein militärischer Erfolg reicht nicht aus, um eine neue Realität zu erzwingen; es bedarf auch einer politischen Regelung.“
Derzeit stehen fünf Divisionen im Südlibanon, wenn auch nicht alle in voller Stärke. Zehntausende Soldaten, mehrheitlich Reservisten sind im Einsatz, wobei die Erfahrungen, die sie in den vergangenen zwölf Monaten im Gazastreifen gesammelt hatten, sehr zum Erfolg der Bodenoffensive beitragen – obwohl, wie die Gefallenenzahlen belegen, die Hisbollah weiterhin ein ernstzunehmender Gegner ist. Doch die Frage, was in der Zukunft geschehen könnte, um nicht dauerhaft im Libanon militärisch aktiv sein zu müssen, ist – ebenso wie im Gazastreifen – nach wie vor offen. „Die offizielle amerikanische Linie für eine Lösung lautet eine Neuauflage der UN-Resolution 1701, dieses Mal aber wirksamer“, so Amos Harel. „Mit einer Verspätung von 18 Jahren geben die Amerikaner zu, dass die Resolution nie wirklich durchgesetzt wurde.“ Wie das aber in der Zukunft geschehen kann, bleibt erst einmal offen.