Benny Gantz hat Israels Kriegskabinett den Rücken zugekehrt. Seine Forderung an Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, einen Plan für eine Nachkriegsordnung im Gazastreifen vorzulegen, war nicht erfüllt worden. Doch was bedeutet dieser Schritt für aktuelle Regierung und seine eigene politische Karriere?
Von Ralf Balke
Der Ausstieg erfolgte mit Ansage. Am 18. Mai hatte Benny Gantz, Minister in der Notstandsregierung verkündet, dass er das Kriegskabinett verlassen werde, wenn Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nicht bis zum 8. Juni einen überzeugenden Plan präsentieren kann, wie es mit dem Gazastreifen in der Zeit nach dem Krieg weitergehen soll. Dann aber geschah am 8. Juni die spektakuläre Befreiungsaktion von vier israelischen Geiseln aus der Gewalt der Hamas, weshalb die für Samstag angekündigte Pressekonferenz um einen Tag verschoben wurde. Am Sonntagabend schließlich war es so weit. In einer Pressekonferenz erklärte der Vorsitzende der Partei Nationalen Einheit wie erwartet seinen Ausstieg aus der Notstandsregierung. Dem Ministerpräsidenten warf er zugleich vor, Israels Weg hin zu einem „echten Sieg“ über die Terrororganisation Hamas zu blockieren. „Ebenso wie viele andere Hunderttausende patriotischer Israelis haben sich meine Mitstreiter und ich nach dem 7. Oktober zusammengeschlossen“, sagte der 65-Jährige. Wenige Tage später sei man der Koalition beigetreten, „obwohl wir wussten, dass es sich um eine schlechte Regierung handelte.“ Dann fügte Benny Gantz hinzu: „Wir haben uns dazu bereit erklärt, weil wir wussten, dass es eine schlechte Regierung war. Das israelische Volk, die Soldaten sowie ihre Kommandeure, die Familien der Ermordeten, der Verletzten und der Geiseln, sie alle brauchten Einigkeit und Unterstützung wie die Luft zum Atmen.“ Damit rechtfertigte er noch einmal seinen Einstieg in die Notstandsregierung wenige Tage nach dem verheerenden Überfall der Hamas.
Darüber hinaus forderte Benny Gantz Neuwahlen. „Ich rufe Netanyahu dazu auf: Nennen Sie endlich ein Datum.“ Auch entschuldigte er sich bei den Angehörigen der immer noch im Gazastreifen festgehaltenen Geiseln. „Wir haben eine Menge getan, aber versagt, wenn es um Ergebnisse geht“, betonte der ehemalige Generalstabschef. „Wir haben es nicht geschafft, so viele wie möglich nach Hause zu bringen. Die Verantwortung liegt auch bei mir.“ Gantz erklärte ferner, den vom Kriegskabinett gebilligten Vorschlag von US-Präsident Joe Biden, der darauf abzielt, auch die übrigen Geiseln freizubekommen, weiterhin zu unterstützen, auch wenn er und seine Partei wieder in den Reihen der Opposition Platz genommen haben.
„Israel befindet sich an mehreren Fronten in einem Existenzkampf“, lautete Benjamin Netanyahus Reaktion auf den Rücktritt auf der Plattform X. „Benny, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, die Offensive aufzugeben – das ist der Zeitpunkt, die Kräfte zu bündeln.“ Der Ministerpräsident versprach, bis zum endgültigen Sieg und der Verwirklichung aller Kriegsziele, „weiterhin in erster Linie die Freilassung der Geiseln zu erwirken und die Eliminierung der Hamas voranzutreiben“. Zugleich bliebe „seine Tür für jede zionistische Partei offen, die bereit ist, diese Aufgabe zu bewältigen und dabei zu helfen, den Sieg über unsere Feinde zu erringen und die Sicherheit unserer Bürger zu gewährleisten.“ Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass Benny Gantz sowie seine Ministerkollegen Gadi Eisenkot und Chili Tropper von der Partei Nationalen Einheit ihr Rücktrittsschreiben eingereicht hatten.
Ebenso wenig ändert der Ausstieg von Benny Gantz & Co. die Machtverhältnisse. Das Bündnis aus Benjamin Netanyahus Likud, den beiden Parteien der Ultraorthodoxen sowie der Rechtsextremisten hat weiterhin eine Mehrheit in der Knesset, und zwar 64 von 120 Sitzen. Auch wenn es in der Koalition derzeit ordentlich knirscht, weil der Streit um die Ausnahmeregelungen für junge Charedim von der Wehrpflicht noch lange nicht beigelegt ist und im Fall einer Reform der Gesetzgebung, die den Ultraorthodoxen nicht passt, diese aus der Regierung aussteigen könnten, heißt das keinesfalls, dass Netanyahus Tage bereits gezählt sind. Vielmehr verschieben sich innerhalb der Koalition die Machtverhältnisse zugunsten von Radikalen wie Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir, die nur darauf gewartet haben, das Vakuum, das durch den Rücktritt von Benny Gantz entstanden ist, zu füllen. Und so sollte es auch keine paar Stunden dauern, bis diese sich zu Wort melden sollten, um mehr Mitsprache bei wichtigen Entscheidungen zu fordern.
Noch am selben Abend artikulierte Itamar Ben Gvir erneut seinen Anspruch auf einen Platz im Kriegskabinett. Und Bezalel Smotrich beschuldigte Gantz nachträglich, „einen palästinensischen Staat im Herzen des Landes errichten zu wollen, der eine existenzielle Gefahr für den Staat Israel darstellen würde“. Zudem behauptete er, dass es seiner Partei in der Regierung erfolgreich gelungen sei, „die Forderungen von Gantz, einen palästinensischen Staat zu errichten“, zu vereiteln. Gantz hätte ein „Terrormonster“ schaffen wollen. Beweise für solche Anschuldigungen lieferte Smotrich wenig überraschend keine.
Auch wenn sich der Ministerpräsident mit Händen und Füßen gegen dessen Ambitionen zur Wehr setzen dürfte, so ist er jetzt noch abhängiger von den Rechtsextremen als zuvor. Das betrifft vor allem den von den Vereinigten Staaten mit ausgehandelten Deal mit der Hamas, der im Raum schwebt, um die Geiseln endlich aus der Gewalt freizubekommen. Sowohl Bezalel Smotrich als auch Itamar Ben Gvir sind gegen jede Form einer Feuerpause, auch wenn dies die Freilassung all der Israelis unmöglich macht, die noch im Gazastreifen festgehalten werden. Agiert der Ministerpräsidenten gegen ihren Willen, würden sie die Koalition dann zu Fall bringen, so ihre Drohung, die nun mehr Gewicht hat als vor dem Sonntagabend.
Genau das hinterlässt einen bitteren Beigeschmack. So gut die Argumente von Benny Gantz waren, sich im Oktober in der aktuellen Notsituation der Regierung anzuschließen, um Schlimmeres zu verhindern, so schlecht sind sie nun, wenn es um seinen Rücktritt geht, der dem Land deshalb womöglich eher geschadet hat. Denn vor allem in Washington stand Benny Gantz im Ruf, die Stimme der Vernunft zu sein. Er und sein Parteikollege Gadi Eisenkot sorgten dafür, dass manche Entscheidungen anders ausgefallen sind, beispielsweise den kurz zur Debatte stehenden Präventivschlag gegen die schiitische Terrororganisation Hisbollah im Libanon. Mit ihm hielt das Weiße Haus die Kommunikation zu jedem Zeitpunkt aufrecht, während zwischen US-Präsident Joe Biden und Benjamin Netanyahu zunehmend Eiszeit herrschen sollte. Und mit Ministern vom Schlage eines Bezalel Smotrich oder Itamar Ben Gvir wollte in den Vereinigten Staaten ohnehin niemand ein Wort wechseln, beide gelten dort als persona non grata.
In den Meinungsumfragen spiegelt sich ebenfalls ein Grummeln über den Rücktritt von Benny Gantz wider. Monatelang rangierte seine Partei nach dem 7. Oktober an der Spitze, während der Likud deutlich Federn lassen musste. Das hatte sich in den vergangenen Wochen wieder relativiert, der Abstand zwischen der Nationalen Einheit und der Partei von Ministerpräsident Benjamin Netanyahu schmolz wieder dahin. Und nach der Pressekonferenz am Sonntagabend sackte die Zustimmung für Benny Gantz noch einmal deutlich ab.
Vielleicht hat sich Benny Gantz auch einfach nur verkalkuliert. In seiner Hoffnung, durch seinen Schritt den Zusammenbruch der Regierung zu beschleunigen, hat er ebenfalls auf Verteidigungsminister Yoav Gallant gesetzt, der in vielen Punkten mit ihm einer Meinung ist, beispielsweise in der Frage der Reform der Ausnahmeregelung für Ultraorthodoxe vom Militär und der größeren Aufgeschlossenheit gegenüber den Vorschlägen aus Washington, wenn es um eine Nachkriegsordnung geht. „Yoav, du bist ein entschlossener und mutiger Patriot“, mit diesen Worten hatte Benny Gantz an seinen früheren Kollegen im Kriegskabinett appelliert. „Ich habe dich in den vergangenen Monaten noch mehr zu schätzen gelernt. Mach das Richtige.“ Doch Gallant hielt die Füße still, schmiss keinesfalls das Handtuch, sondern blieb in der Regierung – nicht zuletzt deshalb, weil ihm eigene Ambitionen nachgesagt werden. Schließlich gilt er als der Anführer all derer im Likud, die nicht mit Benjamin Netanyahu untergehen wollen, falls die Koalition zerbricht. Aber als derjenige, der den amtierenden Ministerpräsidenten zu Fall bringt, will Yoav Gallant auch nicht in Erscheinung treten – sehr zum Verdruss von Benny Gantz. Und so stellt sich die Frage, ob sein Entschluss, aus der Notstandsregierung den Rücken zuzukehren, womöglich der richtige war, der Zeitpunkt aber ein falscher und er dem Land und sich selbst politisch geschadet haben könnte.