Wie ich das so genau wissen wolle, was ich hier in der Überschrift andeute, wurde ich kurz vor Toresschluss von meinem Lektor gefragt. Stolz verwies ich auf meine hier[1] eingestellte ‚Geheimrede‘ zu Putins 70. Geburtstag am 7. Oktober 2022 – „ein Geburtstag, den Sie, wenn ich mich recht erinnere, als seinen letzten bezeichnet haben“, konterte mein Lektor.
Von Christian Niemeyer
Verdammt – er hatte Recht, Putin lebte ja noch immer. Und hatte die Frechheit gehabt, mich am 31.10. 2023 unter Beihilfe seiner Tochter Katerina Tichonova nach Moskau entführen zu lassen, um mir am Beispiel der Vorführung der „Ehrlich Brothers Moscow“ die Vorteile einer von russischen Wissenschaftlern erfundenen Zeitmaschine vor Augen zu führen, wie ich im Februar 2024 in der Zeitschrift für Sozialpädagogik (22 [(2024)], H. 1, S. 1-4) behauptet hatte. Basierend auf der hagalil-Geschichte Putin: No.2 kommt aus Tiefkühltruhe.
Angesichts dieser Vorgeschichte war es nicht sehr klug, einzuwerfen, ich hätte am 9. März 2022 unter der Überschrift Ukraine 2029 – eine Vision ebenfalls hier[2] von einem Internationalen Kongress in Kiew berichtet und damit bezeugt, dass es die Ukraine auch 2029 noch geben und sie mindestens bis 2060 noch Bestand haben wird.
„Wieder nur eine Vision – kein Tatsachenbericht!“, maulte mein Lektor erwartungsgemäß.
Was mich, des Streitens müde, auf die Idee brachte mich resignierend in die Arme meines Lektors fallen zu lassen. „Habe ich das alles verfasst?“, fragt ich ihn betroffen. „Und jetzt haben Sie Sorge, niemand würde mir mehr irgendetwas abkaufen oder mich als seriösen Zukunftsforscher anerkennen, nicht wahr?“
Langes, beidseitiges Schweigen. Dann war er, mein Lektor, zu einer Art Konzession bereit: „Okay, lieber Herr Niemeyer, eine allerletzte Geschichte noch – und dann schweigen Sie für immer! Einverstanden!“
Ich schlug ein – was mir umso leichter fiel, weil am Ende dieser Geschichte ohnehin alle schweigen würden, und zwar für immer.
*
Mein Einstieg war überaus harmlos. Mich hätte des Nachts wieder einmal die Muse geküsst und mir die Ergebnisse aller EM-Spiele ins Ohr geflüstert.
Mein Lektor, ein arger Sport-Wetter, setzte sich aufrecht hin, griff zum Bleistift, wollte offenbar die Ergebnisse mitschreiben – als ich mit vollendeter Unschuldsmiene nichts weiter von mir gab als: Österreich – seit der Lektüre von Franz Werfel hatte ich es mir zu Gewohnheit gemacht, Deutschland und Österreich immer als Double zu betrachten im Rückblick auf die Zuspitzung des toxischen Rassenantisemitimus unmittelbar nach den Olympischen Spielen 1936 –, Österreich werde zwar gegen Spanien das Achtelfinale erreichen; aber am 30. Juni gegen 23 Uhr werde es heißen: „Koffer packen, Heim ins Reich!“ Nervös blickte ich auf meinen Lektor, aber er fand das offenbar witzig.
Also kam ich unverzagt zur ihn als Sportwetter interessierenden Hauptsache: Die Nagelsmänner würden Gruppe A locker packen und danach im Achtelfinale gegen Serbien, im Viertelfinale gegen Spanien, im Halbfinale gegen die Türkei obsiegen und am 14.7. im Berliner Olympiastadion von 1936 gegen die Ukraine Europameister.
Mein Lektor schaute mich enttäuscht an: „Das war’s? Keine Ergebnisse? Im Übrigen: Ihr für mich etwas ungewohnter Patriotismus in allen Ehren – aber vom Fußball haben Sie null Ahnung, stimmt’s?“
Ich blieb tapfer:
„Nein, das war’s nicht. Es beginnt nun erst!“
**
Mein Lektor lehnte sich entspannt zurück, während ich mich nach vorne beugte, als wollte ich ihn küssen. Dazu, mit metallischer Härte:
„Ohrenbetäubender Lärm brach aus, als der serbische Schiedsrichter in der 90. Minute bei einer Schwalbe von Füllkrug ungerührt auf den Elfmeterpunkt zeigte und Florian Wirtz wie ein eiskalter Engel verwandelte – allen Absprachen, anzustreben sei ein torloses Unentschieden, zum Trotz, einfach aus Freude am Schießen.“
Mein Lektor hörte nun interessiert zu.
„Schlimmer: Der Schiri, auf den Namen Dienstbier getauft und wie ein Schweizer aussehend, pfiff gar nicht erst wieder an, so dass auch der VAR keine Handhabe mehr hatte – und der mächtige AfD-Flügel gleich neben der Südkurve machtvoll skandierte: ‚Das Spiel ist aus! Deutschland ist Europameister! Deutschland zuerst!‘“
Mein Lektor starrte mich unsicher an, als wolle er à la Ulrich Herrmann sagen: „So what?“
Da gab ich’s auf; ab jetzt wende ich mich an alle – ein fiktives „Alle“, wie ich einräumen muss, angesichts dessen, was nun geschah: Aus dem Pressebereich, gekennzeichnet mit „Anti-Scholz-Liga“ und beschickt von der gesamten Hauptstadtpresse inklusive Der Spiegel, Focus, Cicero, NZZ, dem Morgenmagazin von ARD und ZDF, Phoenix-TV, Welt-TV, einer Phalanx von Bild– und BamS-Redakteuren sowie garniert von Lanz, Maischberger, Miosga & Co., erhoben sich Melanie Amann & Paul Ronzheimer und stimmten das Deutschlandlied an.
Im Rausch desselben standen jetzt fast alle auf und wandelte sich in eine Menschenmauer, durchbrochen hier und da von sprachlos ausharrenden Ukrainern, mitten unter ihnen Selensky, der symbolisch flankiert wurde vom einzig redlichen Menschen der FDP, Alexander Graf Lambsdorff, dem aus Moskau abgezogene deutsche Botschafter.
Ab und an warf dieser ein von mir als Stinkefinger gedeutetes Zeichen in Richtung seines Chefs und deren Kindfrau; die sich zwischen ihres Gatten aktuellen und dem von ihm offenbar ersehnten zukünftigen Kanzler herumdrückte, als habe ihr überblasser und -blasierter Christian – was für ein schöner Namen, an und für sich – Zahnschmerzen und erwarte via Merz einen zeitnahen Termin.
Noch schlimmer: Aus dem Off trat plötzlich huldvoll Thilo Sarrazin hervor und grüßte das Berliner Volk.
Parallel dazu erhob sich im Politikerblock Marie-Agnes Strack-Zimmermann, bewaffnet mit dem Mikrofon des Hertha-Sprechers und skandierte, immer wieder:
„Auf dem Schlachtfeld unbesiegt – aber im Olympiastadion Hitlers von einem Serben in der 90. Minute hingerichtet: die Ukraine!“
Postwendend erklang es aus dem AfD-Block:
„Deutschland zuerst – lang lebe Putin! Tod der Ukraine!“
Nun gab es kein Halten mehr: „Tod der Ukraine!“ klang es nun auch aus dem BSW-Block,
„Tötet Putin!“ schrie sich ein Bayer namens Aiwanger im Politkerblock heiser.
Wohingegen die AfD-Chefin Weidel im Chor mit ihrem Wasserträger „Pinsel“ ein deftiges „Galgen für Habeck!“ hören ließ.
Auf dieses Zeichen hin durchbrachen auf einmal mächtige Mähdrescher die Eingangstore und hielten auf Strack-Zimmermann zu.
Die wiederum mit einigen Handwerkern auf den Rasen gestürzt war, um den Pokal säuberlich in zwei Hälften zu teilen – eine für den Europameister Ukraine, die andere für den Europameister Deutschland.
Als Kommentar zu diesem Bild erklärte Christian Lindner, bedrängt von dem neben ihm sitzenden Kanzler, aus der VIP-Lounge heraus, die Schuldenbremse zur Staatsräson, so dass in Zukunft ein Pokal für alle und alles reichen müsste.
Olaf wollte etwas sagen, schwieg aber dann doch, wie Gerd-Joachim von Fallois von Phoenix-TV mit seiner sonoren Stimme voll feister Geringschätzung via Sprecher-Mikro kommentierte.
***
Auf einmal fielen wie auf ein geheimes Zeichen hin alle möglichen Vögel tot vom Himmel.
Unten auf dem Rasen reckten die Mähdrescherfahrer bei inzwischen abgestellten Motoren ihre Hälse gen Himmel; ihnen und gleich danach auch allen anderen begann der immer lauter werdende Lärm anfliegender Drohnen Sorgen zu machen.
Andere, besonders die ganz Jungen von der Letzten Generation, die sich auf der Tartanbahn festgeklebt hatten, schwadronierten aufgeregt von Tesla-Raketen.
Dritten aus dem Pistorius-Block der Bundeswehr-Garde schien es zunächst so, als handele es sich um eine geheime Drohnenflotte ihres begeistert nach oben blickenden Chefs.
Freilich: Das offenbar zur Siegerehrung abgeworfene Lametta formte sich allmählich zu einem schrecklich anzusehenden Putin-Porträt.
Zeitgleich waren die ersten Explosionen zu hören, ehe die gesamte Drohnenflotte urplötzlich abstürzte und in einem Höllenlärm dicht an dicht im Olympiastadion zerbast, als Auftakt zu einem Finale, das spätere Historiographen einer nicht mehr rein menschlichen Spezies mit Hiroshima verglichen.
Mein Lektor, offenbar ein Netflix-Kunde, war begeistert, lobte dieses Finale seiner Anschaulichkeit halber.
Ich hingegen zog es vor, schweißgebadet aufzuwachen, bedeckt von allen unmöglichen Spiegel-Heften aus der Melanie-Amann-Werkreihe.
****
Mit Verlaub: Die Hoffnung stirbt zuletzt, etwa jene, diese Pointe – ein Alptraum, der hier endet – sei ihnen, lieber Leserin, lieber Leser, allemal lieber als der wirkliche Tod oder auch nur der „Hirntod“ des Boris Pistorius und jener, die dieses Stück Graubrot kanzlerfähig schreiben.
Was wir brauchen, mein lieber Boris, ist keine Wehrpflicht, sondern ein Pflichtfach zur Beförderung von Mündigkeit medial Verblödeter.
Und ein Ende des halt- und stillosen Scholz-Bashing.
Mir jedenfalls ist dessen wohlfundierte Besonnenheit tausendmal lieber als das hysterische Geschrei vom Typ „Taurus!“
Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer (Berlin/TU Dresden)
[1] www.hagalil.com/2022/10/geheimrede-zu-putin/
[2] www.hagalil.com/2022/03/ukraine-2029/